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Entscheidungen

Zivilrecht

Schmerzensgeld, Straftat, Höhe, sexueller Missbrauch, OLG Hamm

Gericht / Entscheidungsdatum: OLG Hamm, Beschl. v. 27.05.2015 - 9 W 68/14

Leitsatz: 1. Zur Übernahme der tatsächlichen Feststellungen eines Strafurteils im Zivilverfahren.
2. Zur Schmerzensgeldbemessung wegen schweren sexuellen Missbrauchs.


In pp.
hat der 9. Zivilsenat des OLG Hamm am 27.05.2015 beschlossen:

Auf die sofortige Beschwerde des Beklagten wird der Beschluss des Einzelrichters der 4. Zivilkammer des Landgerichts Bochum vom 11.11.2014 unter Zurückweisung des Rechtsmittels im Übrigen teilweise abgeändert.
Dem Beklagten wird unter Beiordnung von Rechtsanwalt C ratenfreie Prozesskostenhilfe bewilligt, soweit er sich gegen eine den Betrag von 65.000,- € übersteigende Schmerzensgeldforderung nebst darauf entfallender Zinsen wendet.

Gründe:
I.
Der Beklagte ist durch rechtskräftiges Urteil des Landgerichts Bochum II – 8 KLs-36 Js 304/09-9/10 vom 20.08.2010 wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in 143 Fällen und wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in 31 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 9 Jahren verurteilt worden. Die Taten richteten sich gegen den am xx.xx.1993 geborenen Kläger und dessen am xx.xx.1991 geborenen Bruder

X, bei denen es sich um die Kinder des Beklagten aus dessen Ehe mit Frau T handelt. Nach den von der Strafkammer getroffenen Feststellungen nutzte der seit 1996 getrennt lebende und 1997 geschiedene Beklagte die Besuche des Klägers spätestens seit 1999 bis Juli 2004 in 66 Fällen dazu, an dem Glied des Klägers in der Absicht zu manipulieren, sich sexuell zu erregen. Der Kläger berichtete der Mutter hierüber nicht, weil der Beklagte ihm für diesen Fall angedroht hatte ihn „grün und blau“ zu schlagen. Im Juli 2004 zog der Kläger auf Vorschlag des Beklagten zu diesem, weil der Kläger Probleme mit der inzwischen wiederverheirateten Mutter hatte, deren neue Familie in äußerst bescheidenen finanziellen Verhältnissen lebte. Im August 2004 führte der Beklagte während eines gemeinsamen Urlaubs auf Gran Canaria gegen den Willen des Klägers nach vorheriger Gewaltanwendung den Analverkehr bis zum Samenerguss aus. Bis Oktober 2005 kam es in mindestens weiteren 30 Fällen zum Analverkehr mit Samenerguss mit dem Kläger. Der Kläger offenbarte sich seiner Mutter im Oktober 2005. Zu einer Anzeige konnte diese sich nicht durchringen. Die Vorgänge brachte schließlich eine Schwägerin der Mutter des Klägers zur Anzeige. Nachdem der Bruder des Klägers sich auf sein Zeugnisverweigerungsrecht berufen hatte, nahm der Kläger, der zuvor in einer polizeilichen Vernehmung seine Angaben wiederholt hatte, die erhobenen Vorwürfe zurück. Das Verfahren gegen den Beklagten wurde am 08.02.2006 gem. § 170 Abs. 2 StPO eingestellt. Im Zeitraum vom 06.09 bis 24.11.2006 befand sich der Kläger wegen seines auffällig aggressiven Verhaltens und wegen eines mit der Gabe von Ritalin und Flubtin therapierten Aufmerksamkeitsdefizits in der Kinder- und Jugendpsychiatrie in C. Obwohl dort der Verdacht auf sexuellen Missbrauch durch den eigenen Vater aufgrund einer Mitteilung der anzeigerstattenden Schwägerin bekannt war, wurde der Kläger insoweit nicht therapiert. Stattdessen verwies die zuständige Psychologin die Mutter des Klägers auf die Einrichtung „Neue Wege“. Zur erneuten Anzeige gegen den Beklagten kam es am 09.07.2009 durch X I, nachdem dieser sich der Zeugin S offenbart hatte und diese anschließend den Familientherapeuten X1 informierte.

Wegen der zum Nachteil des Bruders des Klägers begangenen Taten sexuellen Missbrauchs in 77 Fällen ist der Beklagte durch Urteil des Landgerichts Bochum vom 31.08.2012 neben der Feststellung eines materiellen und immateriellen Vorbehalts zu einer Schmerzensgeldzahlung von 30.000,- € verurteilt worden. Die hiergegen gerichtete Berufung hat der Senat durch Beschluss vom 22.02.2013 nach § 522 Abs. 2 ZPO zurückgewiesen. Die Entscheidung ist rechtskräftig.

Der Kläger begehrt mit seiner Klage Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes, das 100.000,- € nicht unterschreiten sollte und Feststellung, dass die Forderung aus einer vorsätzlich begangenen unerlaubten Handlung des Beklagten resultiert.

Das Landgericht hat dem Prozesskostenhilfeantrag des Klägers in vollem Umfang entsprochen. Den Prozesskostenhilfeantrag des Beklagten, der die Taten und die von dem Kläger behaupteten psychischen Folgen bestreitet, hat das Landgericht durch den angefochtenen Beschluss zurückgewiesen. Der sofortigen Beschwerde des Beklagten hat es nicht abgeholfen und die Sache zur Entscheidung dem Senat vorgelegt.

II.
Die gem. § 567 Abs. 1 Nr. 2 ZPO zulässige sofortige Beschwerde hat nur in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg.

Dem Kläger steht gegen den Beklagten ein Anspruch auf Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes gem. §§ 823 Abs. 1, 253 Abs. 2, 823 Abs. 2 i.V.m. § 176 Abs. 1, § 176 a Abs. 2 Nr. 1 StGB (jeweils in der im Zeitpunkt der Verurteilung geltenden Fassung v. 01.04.1998) zu.

Ein Zivilgericht kann sich zum Zweck seiner eigenen Überzeugungsbildung, ob sich ein bestimmtes Geschehen zugetragen hat, auf ein dazu ergangenes Strafurteil stützen. Dem steht nicht entgegen, dass die in einem strafrichterlichen Urteil enthaltenen Feststellungen von Tatsachen für die zu derselben Frage erkennenden Zivilgerichte grundsätzlich nicht bindend sind. Die tatsächlichen Feststellungen in einem Strafurteil können aber im Rahmen der eigenen freien Beweiswürdigung und der Überzeugungsbildung des Zivilrichters im Sinne von § 286 Abs. 1 ZPO Berücksichtigung finden, wobei das Urteil, wenn eine Partei sich - wie hier der Kläger - zu Beweiszwecken darauf beruft, im Wege des Urkundsbeweises gemäß §§ 415, 417 ZPO zu verwerten ist. Allerdings darf der Zivilrichter die vom Strafgericht getroffenen Feststellungen nicht ungeprüft übernehmen; er hat vielmehr die in der Beweisurkunde dargelegten Feststellungen einer eigenen kritischen Prüfung zu unterziehen (OLG Zweibrücken, NJW-RR 2011, 496; OLG München, Beschluss v. 21.09.2011 - 7 U 2719/11 - ; Senat, Beschluss v. 03.05.2012 - 9 U 182/11 -; Beschluss v. 07.09.2012 – 9 W 4/12, juris; Beschluss v. 22.02.2013 – 9 U 206/12 -).

Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze bestehen keine durchgreifenden Zweifel daran, dass der Beklagte die ihm vorgeworfenen Straftaten nach den tatsächlichen Feststellungen im Urteil der 8. großen Strafkammer des Landgerichts Bochum vom 20.08.2010 begangen hat. Die Strafkammer hat ihre Überzeugungsbildung im Wesentlichen auf die Aussagen der Zeugen G I, des Klägers, und dessen Bruders X I gestützt. Diese haben – so die Strafkammer – von Beginn ihrer ersten Vernehmungen an konstant einzelne Missbrauchstaten geschildert.

Die tatsächlichen Feststellungen des Strafurteils hat der Beklagte – wie auch schon in dem vor dem Senat geführten Parallelverfahren 9 U 206/12 – nicht hinreichend substantiiert angegriffen. Der Beklagte beschränkt seine Verteidigung im Wesentlichen auf das Bestreiten der Tatvorwürfe. Daneben verweist er auf aus seiner Sicht bestehende Ungereimtheiten in den Aussagen der Zeugen I, die Zweifel an der Glaubwürdigkeit ihrer Person und der Glaubhaftigkeit ihrer damaligen Aussagen begründeten. Das reicht angesichts der auch aus Sicht des Senats aufgrund einer überzeugenden und alle Aspekte des Falles berücksichtigenden differenzierten Beweiswürdigung getroffenen tatsächlichen Feststellungen im Strafurteil nicht aus, um Zweifel an der Richtigkeit der getroffenen Feststellungen im Strafurteil aufkommen zu lassen. Darin sieht sich der Senat durch die Verwerfung der Revision des Beklagten gegen das Urteil der Strafkammer durch Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 15.03.2011 bestätigt. Was die vom Beklagten geäußerten Zweifel in Bezug auf die Bewertung der Glaubwürdigkeit des Klägers und des weiteren Zeugen X I anbetrifft, so sind diese bereits im Strafverfahren vorgebrachten Angriffe von der Strafkammer in ihrer Gesamtheit berücksichtigt und erschöpfend abgearbeitet worden. Neue Gesichtspunkte zeigt der Beklagte im vorliegenden Verfahren mit der Klageerwiderung nicht auf.

Unter Zugrundelegung dieser Umstände ist bei der Entscheidung über die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für den Beklagten von dem dem Kläger bei Zugrundelegung der naheliegenden und im Zweifel stets anzunehmenden Folgen eines derartigen Missbrauchs mindestens zustehenden Schmerzensgeldes auszugehen (vgl. Senat, Beschluss v. 21.11.2014 - 9 W 50/14 -, juris).

Aus diesem Grund war dem Beklagten wie erfolgt teilweise Prozesskostenhilfe zu bewilligen:

Die Höhe des zuzubilligenden Schmerzensgeldes hängt nach gefestigter Rechtsprechung entscheidend von dem Maß der Lebensbeeinträchtigung ab, soweit diese bei Schluss der mündlichen Verhandlung bereits eingetreten oder als künftige Folge erkennbar und objektiv vorhersehbar ist (BGH, VersR 1995, 471 f.). Die Schwere dieser Belastungen wird vor allem durch die Stärke, Heftigkeit und Dauer der erlittenen Schmerzen und Funktionsbeeinträchtigungen bestimmt, wobei den vom Antragsteller angeführten Dauerfolgen der Verletzungen besonderes Gewicht zukommt. Bei vorsätzlich begangenen Taten zum Nachteil des Geschädigten kommt der Genugtuungsfunktion des Schmerzensgeldes, die durch eine strafrichterliche Verurteilung nicht kompensiert wird, besonderes Gewicht zu (st. Rspr des BGH, vgl. VersR 1996, 382 m.w.N.). Im Übrigen ist bei der Bezifferung des im Einzelfall jeweils angemessenen Schmerzensgeldes zur Wahrung der rechtlichen Gleichbehandlung zu beachten, dass sich der ausgeurteilte Betrag in das Gesamtsystem der von den Gerichten entwickelten Schmerzensgeldjudikatur einfügt. Dies bedeutet, dass seine Größenordnung dem Betragsrahmen entsprechen muss, der in der überwiegenden Spruchpraxis für vergleichbare Verletzungsgrade zuerkannt wird.

Von diesen Grundsätzen ausgehend hält der Senat für die 66 Fälle sexuellen Missbrauchs und die 31 Fälle schweren sexuellen Missbrauchs ein Mindestschmerzensgeld von 65.000,- € für angemessen.

Hierbei hat sich der Senat von folgenden Überlegungen leiten lassen:

Neben der Vielzahl der Fälle sexuellen Missbrauchs beginnend mit dem 5. Lebensjahr des Klägers und der durch eine besondere Erniedrigung des Klägers gekennzeichneten 31 Fälle schweren sexuellen Missbrauchs durch Ausübung des Analverkehrs mit Samenerguss findet der lange Zeitraum, über den die Taten hinweg begangen worden sind, Berücksichtigung. Das Schweigen des Klägers hat der Beklagte durch Drohungen mit Schlägen herbeigeführt, wodurch der Kläger, wie beabsichtigt, eingeschüchtert war. Der Beklagte hat den Analverkehr, wenn der Kläger dem Ansinnen des Beklagten nicht „freiwillig“ nachkam, durch Anwendung körperlicher Gewalt ermöglicht. Besonderes Gewicht kommt dem Umstand zu, dass die Taten von dem eigenen Vater begangen worden sind, was geeignet ist, das Vertrauen des missbrauchten Kindes in die unbedingte Zuverlässigkeit der eigenen Familie und für zukünftige Beziehungen zu erschüttern. Dem Kläger ist im Strafverfahren eine Aussage nicht erspart geblieben. Der Beklagte leugnet auch noch jetzt seine Täterschaft, obwohl das Gegenteil aufgrund der tatsächlichen Feststellungen des Strafurteils, denen sich der Senat anschließt, bewiesen ist.

In zulässiger Weise bestritten hat der Beklagte die Behauptung des Klägers, die begangenen Taten hätten zu den beschriebenen psychischen Auffälligkeiten, wie Aggression, soziale Inkompatibilität, Unruhezustände und unkontrolliertem Essverhalten, mit der Folge eines erheblichen Übergewichts, geführt. Dies sei der Grund für seine vorübergehende Unterbringung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie in C-M im Jahre 2006 gewesen, in deren Zuge er durch Medikamente sediert worden sei. Dass der Kläger diese Auffälligkeiten gezeigt hat und er wegen dieses Krankheitsbildes in stationärer Behandlung war, hat die Strafkammer zwar in ihrem Strafurteil mitgeteilt, allerdings sind belastbare tatsächliche Feststellungen zu einem Ursachenzusammenhang zwischen dem begangenen sexuellen Missbrauch und diesen psychischen Auffälligkeiten im Strafurteil nicht getroffen worden.

Unter welchen psychischen Folgen der Kläger aktuell infolge des sexuellen Missbrauchs leidet, geht aus der Klagebegründung nicht eindeutig hervor. Hier wird lediglich mitgeteilt, dass der Kläger sich in zurückliegender Zeit in psychologische Behandlung begeben, die Therapie aber abgebrochen habe. Ohne eine notwendige Ergänzung durch erläuternden Sachverhalt bzw. die Vorlage aussagekräftiger ärztlicher Berichte lässt sich hier ein Kausalzusammenhang zwischen Missbrauch und einer wie auch immer zu bezeichnenden psychischen Normabweichung – ggfalls mit Krankheitswert – so nicht herstellen.

Das Landgericht wird – ggfalls unter Berücksichtigung nachgeholten ergänzenden Sachvortrags – der Behauptung des Klägers zu in der Vergangenheit liegenden oder auch aktuellen psychischen von der Norm abweichenden Zuständen und deren Verursachung durch den Missbrauch durch Einholung eines medizinischen Gutachtens eines Facharztes für Psychiatrie weiter nachzugehen haben. Insoweit bedarf auch der Aufklärung, ob eine Besserung durch eine zumutbare Behandlung möglich ist, oder ob insoweit von einer Dauerfolge auszugehen ist.

Sollte die Beweisaufnahme in Anwendung des Beweismaßstabs des § 287 ZPO mit überwiegender Wahrscheinlichkeit ergeben, dass die behaupteten psychischen Auffälligkeiten in der Vergangenheit vorgelegen haben und ggfalls auch aktuell noch vorliegen, kommt eine Erhöhung des Schmerzensgeldes über den Betrag von 65.000,- € hinaus in Betracht. Die Bemessung hängt dann von dem Ausmaß der psychischen kausal verursachten Beeinträchtigungen und dem Umfang ab, in dem sich diese konkret auswirken.

Eine Kostenentscheidung ist nicht veranlasst, § 127 Abs. 4 ZPO.

Die Beschwerdegebühr ist auf die Hälfte zu reduzieren.

Einsender: entnommen NRWE

Anmerkung:


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