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aus ZAP 2024, 1087

(Ich bedanke mich bei der Schriftleitung von "ZAP" für die freundliche Genehmigung, diesen Beitrag aus "ZAP" auf meiner Homepage einstellen zu dürfen.)

Folgen des Ausbleibens des Angeklagten in der Berufungshauptverhandlung – Teil 1: Ladung, Vertretung, Berufung der Staatsanwaltschaft – ein Update

Von Rechtsanwalt Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg

2015 ist durch das „Gesetz zur Stärkung des Rechts des Angeklagten auf Vertretung in der Berufungshauptverhandlung und über die Anerkennung von Abwesenheitsentscheidungen in der Rechtshilfe“ (BT-Drucks 18/3562 = BR-Drucks 491/14) in der Fassung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses (BT-Drucks 18/5254, S. 3) das Recht der Berufungsverwerfung, wenn der Angeklagte in der Berufungshauptverhandlung nicht erschienen/ausgeblieben ist, geändert worden. Wir haben darüber in der Vergangenheit bereits berichtet. Nach fast 10 Jahren seit den Gesetzesänderungen ist es an der Zeit ein Update zum derzeitigen Stand der Rechtsprechung zu geben.

I. Allgemeines

Gegen einen ausgebliebenen oder abwesenden Angeklagten findet in den Tatsacheninstanzen des Strafverfahrens eine Hauptverhandlung grds. nicht statt (vgl. § 230 Abs. 1, § 285 Abs. 1 S. 1 StPO). Dies beruht einerseits auf dem Anspruch auf rechtliches Gehör und andererseits auf der sich aus § 244 Abs. 2 StPO ergebenden Aufklärungspflicht des Gerichts. Damit korrespondiert die Pflicht des Angeklagten zum Erscheinen und Verbleiben in der Hauptverhandlung. Ausnahmen hiervon sind in §§ 231 Abs. 2, 231b, 232, 233 StPO sowie beim Einspruch gegen einen Strafbefehl nach § 411 Abs. 2 StPO normiert (Einzelheiten Burhoff, ZAP 2024, 443; zum Bußgeldverfahren Burhoff, ZAP 2017, 437 ff.).

Diese Grundsätze gelten über § 332 StPO grds. auch für die Berufungshauptverhandlung. Gerade hier bleiben aber die Angeklagten häufiger aus. Das kann unterschiedliche Gründe haben, wie etwa die Absicht, hierdurch gezielt eine nachteilige Entscheidung zu verhindern oder das fehlende Vertrauen in die Erfolgsaussicht der eigenen Berufung sowie bei Alkohol- oder Drogenabhängigen ein Rückfall mit der Folge, dass es an der erforderlichen Sorgfalt bei der Beachtung des Termins fehlt. Für diese Verfahrenskonstellation sieht die StPO in § 329 StPO eine eigene Regelung vor. Diese ist durch das am 25.7.2015 in Kraft getretene „Gesetz zur Stärkung des Rechts des Angeklagten auf Vertretung in der Berufungshauptverhandlung und über die Anerkennung von Abwesenheitsentscheidungen in der Rechtshilfe“ (BT-Drucks 18/3562 = BR-Drucks 491/14) in der Fassung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses (BT-Drucks 18/5254, S. 3; vgl. BGBl I, S. 1332) an die Rspr. des EGMR (Urt. v. 8.11.2012 – 30804/07, NStZ 2013, 350 [Neziraj]) angepasst worden (Einzelheiten bei Burhoff, Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung, 2024, Rn 813 ff. m.w.N. zu Lit. und Rspr. [im Folgenden: Burhoff, HV]). § 329 StPO sieht danach folgendes Regelungsgefüge vor:

  • Ist bei Beginn eines Hauptverhandlungstermins weder der Angeklagte noch ein Verteidiger mit schriftlicher Vertretungsvollmacht erschienen und das Ausbleiben des Angeklagten nicht genügend entschuldigt, so hat das Gericht nach § 329 Abs. 1 S. 1 StPO eine Berufung des Angeklagten ohne Verhandlung zur Sache zu verwerfen. Die Berufungsverwerfung ist ausgeschlossen, wenn der Angeklagte genügend entschuldigt ist (dazu Teil 2, demnächst in diesem Heft). Die Verwerfung der Berufung setzt zudem eine ordnungsgemäße Ladung des Angeklagten voraus (s. II.). Weitere Verwerfungsfälle sind in § 329 Abs. 2 StPO enthalten (s. IV. 2.).
  • Soweit die Anwesenheit des Angeklagten nicht erforderlich ist, findet die Hauptverhandlung nach § 329 Abs. 5 S. 1 StPO ohne ihn statt, wenn er durch einen Verteidiger mit schriftlicher Vertretungsvollmacht vertreten wird oder seine Abwesenheit im Fall der Verhandlung auf eine Berufung der Staatsanwaltschaft nicht genügend entschuldigt ist (s. VI. und Teil 2, demnächst in diesem Heft).
  • Handelt es sich um eine Berufung der Staatsanwaltschaft, kann ohne den ausgebliebenen Angeklagten verhandelt werden (s. V.). Allerdings ist § 329 Abs. 2 StPO zu beachten.
  • Als Rechtsmittel stehen für den ausgebliebenen Angeklagten der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und die Revision zur Verfügung (dazu Teil 2, demnächst in diesem Heft).

II. Ordnungsgemäße Ladung

Voraussetzung für ein Verwerfungsurteil ist zunächst, dass der Angeklagte ordnungsgemäß in der durch die §§ 216, 323 Abs. 1 S. 1 StPO vorgeschriebenen Form geladen worden ist (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 2024, § 329 Rn 9 m.w.N.; OLG Köln, Beschl. v. 20.7.1999 – Ss 283/99 – 151, NStZ-RR 1999, 334). Die Ladung muss insb. den Hinweis auf die Folgen des Ausbleibens enthalten (vgl. dazu § 323 Abs. 1 S. 2 StPO; u.a. OLG Hamburg, Beschl. v. 6.5.2020 – 2 Rev 20/20, StV 2021, 162 [Ls.]; OLG Hamm, Beschl. v. 18.4.2023 – 3 RVs 14/23 [neuer Termin nach Aussetzung]; OLG Nürnberg, Beschl. v. 30.4.2018 – 2 OLG 2 Ss 240/17 [Fortsetzungstermin]; OLG Hamburg, Beschl. v. 25.7.2017 – 1 Rev 37/17, StV 2018, 151 [Fortsetzungstermin]; OLG Oldenburg, Beschl. v. 14.1.2009 – Ss 485/08, StraFo 2009, 114; OLG Nürnberg, Beschl. v. 30.4.2018 – 2 OLG 2 Ss 240/17, StRR 8/2018, 3 [Ls.; Fortsetzungstermin]), und zwar auch im Fall der Terminsverlegung (zu allem Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 323 StPO Rn 3 m.w.N.). Ob das auch für einen Fortsetzungstermin gilt, ist offen (bejahend OLG Oldenburg a.a.O.; offen gelassen OLG Nürnberg a.a.O.). Das gilt auch für die Ladung zu einer neuen Berufungshauptverhandlung, nachdem ein die Berufung des Angeklagten wegen Nichterscheinens verwerfendes Urteil durch das Revisionsgericht aufgehoben und die Sache zurückverwiesen worden ist (OLG Oldenburg, Beschl. v. 16.6.2009 – 1 Ss 101/09, StraFo 2009, 336; OLG Nürnberg a.a.O.). Soll ggf. später die Berufung nach § 329 Abs. 4 StPO wegen Nichterscheinens des Angeklagten trotz Anwesenheit seines Verteidigers verworfen werden, darf das nur erfolgen, wenn der Angeklagte in seiner Ladung darauf hingewiesen worden ist, dass seine Anwesenheit vom Gericht für erforderlich gehalten wird (BayObLG, Beschl. v. 29.3.2022 – 207 StRR 83/22; KG, Beschl. v. 12.12.2018 – (6) 161 Ss 161/18, StV 2020, 157; OLG Brandenburg, Beschl. v. 4.4.2019 – (1) 53 Ss 14/19 (17/19), StV 2020, 158; OLG Brandenburg, Beschl. v. 26.7.2019 – (1) 53 Ss 83/19 (50/19), StraFo 2020, 28).

Der Angeklagte kann auch durch öffentliche Zustellung (§ 40 Abs. 3 StPO) geladen werden. Ist der Angeklagte durch öffentliche Zustellung geladen worden, aber nicht erschienen, ist die Ladung unwirksam, wenn noch vor Beginn der Hauptverhandlung eine ladungsfähige Anschrift des Angeklagten bekannt wird und unter der Adresse die Ladung ordnungsgemäß zugestellt werden kann (OLG Hamburg, Beschl. v. 28.8.2019 – 5 Ws 26–27/19, StV 2019, 826 [Ls.]; OLG Hamm, Urt. v. 3.11.2004 – 4 Ss 359/04, NStZ-RR 2005, 114; OLG Oldenburg, Beschl. v. 14.5.2004 – Ss 87/04 (I 58), StraFo 2004, 274). Auch muss nach der letzten (un)wirksamen Zustellung zunächst ein weiterer Zustellungsversuch seitens des Gerichts erfolgt sein (OLG Hamm, Beschl. v. 26.1.2006 – 2 Ws 27/06, 2 Ss 31/06, StraFo 2006, 280; zur Nachforschungspflicht des Gerichts KG, Beschl. v. 30.12.2005 – 1 AR 1496/055 Ws 612/05, 5 Ws 612/05, 1 AR 1496/05, StraFo 2006, 105 [für Widerrufsverfahren]). Auch darf die Ladung des Angeklagten im Weg der öffentlichen Zustellung nicht verfrüht von der Gerichtstafel entfernt werden (OLG Bremen, Beschl. v. 28.3.2014 – 2 Ss 10/14, StV 2018, 77). Die fehlende Belehrung nach § 35a S. 1 StPO berührt die Wirksamkeit der öffentlichen Zustellung nicht, wird jedoch i.d.R. zu einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§§ 44, 45 StPO) führen (OLG Hamm, Beschl. v. 17.12.2013 – 3 RVs 91/13, NStZ 2014, 421 m. Anm. Kotz, StV 2014, 227; s. auch OLG Hamburg, Beschl. v. 8.3.2023 – 1 Rev 31/22, StV 2023, 445 [Ls.] und im Übrigen Burhoff, HV, Rn 854).

Ist die Ladungsfrist nicht eingehalten, hindert das die Verwerfung der Berufung nicht (BGH, Beschl. v. 18.5.1971 – 3 StR 10/71, BGHSt 24, 143, 154; OLG Brandenburg, Beschl. v. 26.2.2009 – 3 Ss 69/09, NStZ-RR 2009, 318). Allerdings trifft den Angeklagten i.d.R. kein Verschulden, wenn die Nichteinhaltung der Ladungsfrist ursächlich für die Versäumung der Hauptverhandlung gewesen ist (OLG Brandenburg a.a.O.). Um einen Ladungsmangel handelt es sich z.B., wenn die Terminsladung eine widersprüchliche Zeitangabe enthält (OLG Frankfurt, Beschl. v. 4.12.1995 – 3 Ws 781/95, NStZ-RR 1996, 75) oder die Sache, die verhandelt werden soll, nicht angegeben ist (OLG Hamburg, Beschl. v. 30.1.1998 – I – 2/98, NStZ-RR 1998, 183 [für Bußgeldverfahren]). Die Wirksamkeit der Ladung wird von Amts wegen geprüft und ist positiv nachzuweisen; dabei kommt der Postzustellungsurkunde (nur) ein Indizwert zu (OLG Karlsruhe, Beschl. v. 18.11.1996 – 1 Ws 291/95, NJW 1997, 3183). Die Zustellung der Ladung an den Verteidiger ist nicht wirksam, wenn er nicht ausdrücklich zur Empfangnahme von Ladungen ermächtigt ist (OLG Dresden, Beschl. v. 21.7.2005 – 2 Ss 362/05, StV 2006, 8). Das gilt auch für den Pflichtverteidiger (OLG Köln, Beschl. v. 15.9.1994 – Ss 309/94, StV 1996, 13; Burhoff, HV, Rn 3557 ff.).

Zum Teil wird in der neueren Rspr. davon ausgegangen, dass Ladungen eines ausländischen Angeklagten, denen eine Übersetzung nicht beigefügt ist, unwirksam sind (s. OLG Bremen, Beschl. v. 28.4.2005 – Ws 15/05 (BL 3/05), NStZ 2005, 527; OLG Dresden, Beschl. v. 14.11.2007 – 1 Ws 288/07, StV 2009, 348; LG Bremen, Beschl. v. 22.11.2004 – 15 Qs 453/04, StraFo 2005, 29; LG Heilbronn, Beschl. v. 10.6.2011 – 9 StVK 167/11, StV 2011, 406 [Ls.]; a.A. BayObLG, Beschl. v. 9.10.2020 – 202 StRR 94/20; OLG Hamm, Beschl. v. 25.10.2016 – 3 RVs 72/16; OLG Karlsruhe, Beschl. v. 26.12.2021 – 2 RV 35 Ss 670/21; OLG Köln, Beschl. v. 9.12.2014 – III-1 RVs 167/14, NStZ-RR 2015, 317; OLG Nürnberg, Beschl. v. 20.10.2009 – 1 St OLG Ss 160/2009, NStZ-RR 2010, 286). Nr. 181 Abs. 2 RiStBV ist allerdings nur eine Empfehlung (BVerfG, Urt. v. 17.5.1983 – 2 BvR 731/80, NJW 1983, 2762).

Hinweis:

In der Regel wird dem Beschuldigten in diesen Fällen jedenfalls aber Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§§ 44, 45 StPO) zu gewähren sein (s. OLG Frankfurt, Beschl. v. 4.12.1995 – 3 Ws 781/95, NStZ-RR 1996, 75; OLG Hamm, Beschl. v. 25.10.2016 – 3 RVs 72/16; OLG Karlsruhe, Beschl. v. 26.12.2021 – 2 RV 35 Ss 670/21, OLG Köln a.a.O.; s. auch BayObLG, Beschl. v. 13.12.1995 – 4 St RR 263/95, NJW 1996, 1836 [zum erforderlichen Vortrag der Revisionsrüge]).

III. Ausbleiben des Angeklagten

1. Aufruf der Sache

Die Berufung des Angeklagten darf/kann – unabhängig vom Vorliegen weiterer Voraussetzungen – nur verworfen werden, wenn der Angeklagte bei Beginn des Berufungshauptverhandlungstermins ausgeblieben ist (zu weiteren Voraussetzungen VI. und Teil 2, demnächst in diesem Heft). Beginn des Hauptverhandlungstermins ist nach §§ 324, 243 Abs. 1 S. 2 StPO – auch bei einem sog. Fortsetzungstermin – der Aufruf der Sache (BGH, Urt. v. 17.1.2024 – 2 StR 459/22, NJW 2024, 1523 = StRR 6/2024, 16; OLG Dresden, Beschl. v. 30.7.2021 – 3 OLG 22 Ss 246/21, NJ 2021, 416; OLG Hamburg, Beschl. v. 25.1.2018 – 2 Rev 96/17, NStZ 2018, 559; Burhoff, HV, Rn 2013 ff.; zum Sich-Entfernen des zunächst erschienenen Angeklagten s. IV.).

Hinweis:

Die Berufung kann nicht verworfen werden, wenn die Hauptverhandlung unabhängig vom Erscheinen des Angeklagten vertagt werden muss, weil also z.B. ein Fall notwendiger Verteidigung vorliegt und die Hauptverhandlung wegen krankheitsbedingter Verhinderung des Verteidigers nicht durchgeführt werden kann (OLG Köln, Beschl. v. 24.6.2016 – 1 RVs 114/16, StV 2016, 804 unter Hinw. auf den Normzweck des § 329 StPO).

Die Verwerfung der Berufung nach § 329 Abs. 1 StPO ist auch nicht zulässig, wenn der Angeklagte vom Erscheinen in der Hauptverhandlung entbunden war oder ggf. auf Antrag des Verteidigers in der Hauptverhandlung noch entbunden wird (OLG Braunschweig, Beschl. v. 18.5.2016 – 1 Ss 27/16, StV 2018, 152; s. auch Burhoff, HV, Rn 17173). Der Antrag gem. § 233 StPO, den Angeklagten vom Erscheinen in der (Berufungs-)Hauptverhandlung zu entbinden, ist auch noch am Beginn der Berufungshauptverhandlung möglich (BGH, Beschl. v. 29.1.1974 – 1 StR 198/73, BGHSt 25, 281; Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 233 StPO Rn 6 m.w.N.). Wird dem Antrag stattgegeben, braucht der Angeklagte sich auch nicht vertreten zu lassen (§ 234 StPO). Wird der Antrag abgelehnt, kann sofort nach § 329 Abs. 1 StPO verfahren werden; wird ihm stattgegeben, kann nicht nach § 329 StPO verfahren werden (OLG Braunschweig a.a.O.).

2. Verhandlungsunfähigkeit

Ausgeblieben/nicht erschienen ist der Angeklagte nicht nur, wenn er überhaupt nicht erschienen ist, sondern auch, wenn er zwar erschienen, jedoch wegen Verhandlungsunfähigkeit geistig abwesend ist, z.B. infolge Trunkenheit (BGH, Beschl. v. 6.10.1970 – 5 StR 199/70, BGHSt 23, 331; Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 329 StPO Rn 14 m.w.N.; zur Verhandlungsfähigkeit Burhoff, HV, Rn 3220; vgl. auch § 329 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 StPO und dazu unten IV. 2.). Das „Verschulden“ des Angeklagten an seiner Verhandlungsunfähigkeit muss jedoch feststehen (OLG Hamm, Beschl. v. 15.2.2007 – 3 Ss 573/06). Gegebenenfalls muss sich das Gericht also mit einer bekannten Alkoholabhängigkeit des Angeklagten auseinandersetzen (OLG Hamm a.a.O.).

3. „Bei Beginn eines Hauptverhandlungstermins“

In § 329 Abs. 1 S. 1 StPO heißt es „bei Beginn eines Hauptverhandlungstermins“. Das bedeutet, dass es sich anders als nach früherem Recht nicht um den ersten Berufungshauptverhandlungstermin in der anhängigen Sache handeln muss und somit z.B. auch das Nichterscheinen in einem Fortsetzungstermin erfasst wird (OLG Dresden, Beschl. v. 30.7.2021 – 3 OLG 22 Ss 246/21, NJ 2021, 416; grds. auch OLG Hamburg, Beschl. v. 25.1.2018 – 2 Rev 96717, NStZ 2018, 559; OLG Hamm, Beschl. v. 3.5.2022 – 5 RVs 38/22; OLG Nürnberg, Beschl. v. 30.4.2018 - 2 OLG 2 Ss 240/17, StRR 8/2018, 3 [Ls.]; BT-Drucks 18/3562, S. 68; Spitzer, StV 2016, 48, 49; zum Ausbleiben des Angeklagten, wenn der Angeklagte erschienen ist, während einer Pandemie aber „nur“ keine FFP2-Maske trägt, LG Leipzig, Urt. v. 27.9.2022 – 9 Ns 703 Js 14010/22). Die insoweit vorliegende Rspr. zu § 329 Abs. 1 StPO a.F. ist nicht mehr anwendbar. Denn sie beruhte auf der alten Fassung des § 329 Abs. 1 StPO, in der es hieß „bei Beginn der Hauptverhandlung“.

IV. Sich-Entfernen aus der Hauptverhandlung

1. Allgemeines

§ 329 Abs. 1 S. 2 Nr. 1–3 StPO regelt ausdrücklich die Fälle, in denen der Angeklagte zwar zu Beginn des Berufungshauptverhandlungstermins (vgl. III. 3.) erschienen ist, danach aber ggf. die Voraussetzungen des „Ausbleibens“ angenommen werden könnten, z.B., weil sich der Angeklagte aus der Hauptverhandlung entfernt (hat). Nach der Rspr. zu § 329 Abs. 1 StPO a.F. durfte in diesen Fällen die Berufung (noch) nicht verworfen werden. Diese Fälle sind durch § 329 Abs. 1 S. 2 Nr. 1–3 StPO jetzt ergänzend zur Neufassung des § 329 Abs. 1 S. 1 StPO ausdrücklich durch zwingende Verwerfungstatbestände geregelt. Ihnen ist gemeinsam, dass es nach Beginn des Hauptverhandlungstermins zu einer Verhinderung der Fortführung des Termins kommt. Dieser Katalog von Verwerfungstatbeständen ist, was nicht ganz von der Hand zu weisen ist, in der Literatur als „überkompliziert“ bezeichnet worden (so Frisch, NStZ 2015, 69, 71, 72; krit. auch Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 329 StPO Rn 16 ff.). Im Grunde handelt es sich aber um eine im Kern folgerichtige Übertragung des in § 329 Abs. 1 S. 1 StPO normierten Prinzips auf Sachverhalte, die nach Beginn des Berufungshauptverhandlungstermins in gleicher Weise deren Durchführung hindern (s. auch Deutscher, StRR 2015, 284; abl. hingegen Frisch, NStZ 2015, 69, 71, 74). Sie erfassen nämlich entweder ein Desinteresse des Angeklagten am Abschluss des Verfahrens (s. nachstehend § 329 Abs. 1 S. 2 Nr. 2–3 sowie Nr. 1 bei Widerruf der Vollmacht seines Verteidigers) oder ein Verhalten des Verteidigers, das sich der Angeklagte aufgrund der erteilten Vertretungsmacht grds. zurechnen lassen muss (krit. insoweit Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 329 StPO Rn 16).

2. Verwerfungsfälle

Nach § 329 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 StPO ist die Berufung zu verwerfen, wenn sich bei unentschuldigt abwesendem Angeklagten (dazu Teil 2, demnächst in diesem Heft) der Verteidiger unentschuldigt entfernt hat oder den Angeklagten nicht (weiter) vertritt. Letzteres betrifft zum einen den auch formlos möglichen Widerruf der Vollmacht durch den Angeklagten, zum anderen die Niederlegung des Mandats durch den Verteidiger oder seine Erklärung, den Angeklagten nicht weiter vertreten zu können oder zu wollen (Deutscher, StRR 2015, 284; Spitzer, StV 2016, 48, 51; zur Vertretung des Angeklagten durch den Verteidiger s. V.).

Nach § 329 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 StPO ist die Berufung zu verwerfen, wenn sich der Angeklagte unentschuldigt entfernt hat und kein vertretungsbevollmächtigter Verteidiger (vgl. V.) anwesend ist. Statt wie früher eine Weiterverhandlung in Abwesenheit zu führen (§ 231 Abs. 1 StPO), hat nunmehr die Verwerfung der Berufung zu erfolgen. Entsprechendes gilt, wenn der Angeklagte nach einer Unterbrechung der Hauptverhandlung zu einem „Fortsetzungstermin“ nicht wieder erscheint (Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 328 StPO Rn 17; auch Ullenboom, StV 2019, 634, 646; a.A. wohl aber offen OLG Nürnberg, Beschl. v. 30.4.2018 – 2 OLG 2 Ss 240/17, StRR 6/2023, 3 [Ls.]; zum verspäteten Erscheinen OLG Bamberg, Beschl. v. 30.3.2012 – 3 Ss OWi 360/12, VRR 2012, 276 für das Bußgeldverfahren) und kein Verteidiger mit schriftlicher Vertretungsvollmacht anwesend ist (Spitzer, StV 2016, 48, 52). Die Berufung des zum Fortsetzungstermin (zunächst) erschienenen Angeklagten kann, wenn ein vertretungsberechtigter Verteidiger anwesend ist, dann aber nicht nach § 329 Abs. 4 S. 2 StPO verworfen werden, wenn sich der Angeklagte im Laufe des Fortsetzungstermins ohne genügende Entschuldigung entfernt (OLG Hamburg, Beschl. v. 25.1.2018 – 2 Rev 96/17, NStZ 2018, 559).

Nach § 329 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 StPO ist die Berufung schließlich zu verwerfen, wenn sich der Angeklagte vorsätzlich und schuldhaft in einen die Verhandlungsfähigkeit ausschließenden Zustand versetzt hat, und kein vertretungsbevollmächtigter Verteidiger (vgl. unten V.) anwesend ist. Auch hier hat statt einer Abwesenheitsverhandlung (§ 231a Abs. 1 StPO) die Verwerfung zu erfolgen. Der Zustand der Verhandlungsunfähigkeit kann auch erst während der Verhandlung eintreten oder sich herausstellen (Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 329 StPO Rn 18; Spitzer, StV 2016, 48, 52). Erfasst werden hier insb. die Fälle der Trunkenheit (BGH, Beschl. v. 6.10.1970 – 5 StR 199/70, BGHSt 23, 331; zum früheren Recht a.A. OLG Celle, Beschl. v. 31.8.1993 – 2 Ss 193/93, StV 1994, 365).

Hinweis:

Die Verwerfung nach Nr. 3 kann nach § 329 Abs. 2 S. 3 StPO nur nach Anhörung eines Arztes als Sachverständigen erfolgen.

V. Vertretung des Angeklagten

1. Strafbefehlsverfahren

Im Strafbefehlsverfahren kann sich der Angeklagte nach § 411 Abs. 2 S. 1 StPO auch in der Berufungshauptverhandlung durch einen Vertreter vertreten lassen (OLG Zweibrücken, Beschl. v. 23.2.2023 – 1 ORs 2 Ss 45/22, NStZ 2023, 383 m.w.N.), selbst wenn nach § 236 StPO das persönliche Erscheinen angeordnet worden ist (OLG Dresden, Beschl. v. 24.2.2005 – 2 Ss 113/05, StV 2005, 492 m.w.N.; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 12.12.1983 – 2 Ws 678/83, StV 1985, 52; OLG Zweibrücken a.a.O.). Das gilt allerdings nur, wenn das Verfahren durch einen Strafbefehl eingeleitet worden ist, also nicht im Fall des § 408 Abs. 3 S. 2 StPO (Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 329 StPO Rn 14 m.w.N.).

Hinweis:

Das gilt nicht in (sonstigen) Bagatellsachen (§ 232 StPO), wenn der Hinweis an den Angeklagten, dass ohne ihn verhandelt werden könne (§ 231 Abs. 1 S. 1 StPO), nicht erfolgt oder sein persönliches Erscheinen angeordnet worden ist.

2. Entwicklung der Rechtsprechung

Umstritten war in Rspr./Lit. dann lange Zeit, ob über die Zulässigkeit der Vertretung im Strafbefehlsverfahren hinaus eine Vertretung durch einen verteidigungsbereiten Vertreter/Verteidiger, der in der Hauptverhandlung anwesend ist, zulässig ist und ob das ggf. der Verwerfung der Berufung entgegenstand. Diese Fragen sind dann durch das „Gesetz zur Stärkung des Rechts des Angeklagten auf Vertretung in der Berufungshauptverhandlung und über die Anerkennung von Abwesenheitsentscheidungen in der Rechtshilfe“ v. 17.7.2015 in § 329 StPO geregelt worden (s. V. 3.).

Zu der Verwerfung der Berufung auch in den Fällen, in denen ein vertretungsbereiter Verteidiger in der Hauptverhandlung anwesend ist, hatte zum früheren Recht dann mehrfach der EGMR Stellung genommen. Der hat in seiner Rspr. immer wieder das Recht des Angeklagten, sich eines Verteidigers zu bedienen (Art. 6 Abs. 3 Buchst. c EMRK), betont (vgl. u.a. EGMR, Urt. v. 13.2.2001 – 29731/96, NJW 2001, 2387; EGMR, Urt. v. 22.9.2009 – 13566/06, HRRS 2009 Nr. 981; dazu Gundel, NJW 2001, 2380; Meyer-Mews, NJW 2002, 1928 m. Anm. zu EGMR, m.w.N. zur EGMR-Rspr.). Der EGMR hatte sich schließlich im Verfahren Neziraj noch einmal geäußert und die Abwesenheitsverwerfung nach § 329 Abs. 1 S. 1 StPO a.F. in diesen Fällen als einen Verstoß u.a. gegen Art. 6 Abs. 3 Buchst. c EMRK angesehen (EGMR, Urt. v. 8.11.2012 – 30804/07, NStZ 2013, 350; u.a. m. Anm. Püschel, StraFo 2012, 490). In der Folgezeit haben dann sämtliche OLG, die nach dem Urteil des EGMR v. 8.11.2012 (a.a.O.) entschieden haben, die Umsetzung dieser Rspr. auf innerstaatliches Recht abgelehnt (vgl. die Nachw. bei Burhoff, HV, Rn 867).

3. Gesetzliche Neuregelung

Das „Gesetz zur Stärkung des Rechts des Angeklagten auf Vertretung in der Berufungsverhandlung und über die Anerkennung von Abwesenheitsentscheidungen in der Rechtshilfe“ v. 17.7.2015 (vgl. BT-Drucks 18/3562) hat § 329 StPO zum 25.7.2015 geändert und an die Rspr. des EGMR angepasst. Danach gilt nunmehr folgende Regelung:

Nach § 329 Abs. 1, 2 StPO darf die Verwerfung der Berufung des Angeklagten grds. nicht mehr erfolgen, wenn statt des Angeklagten ein entsprechend bevollmächtigter und vertretungsbereiter Verteidiger in dem Berufungshauptverhandlungstermin erschienen ist. Anstelle der nicht mehr zulässigen Verwerfung wird in Anwesenheit des Verteidigers ohne den Angeklagten verhandelt, soweit nicht dessen Anwesenheit erforderlich ist (vgl. V. 5.; dazu – teilweise krit. – Frisch, NStZ 2015, 69; Kunze, ZAP 2014, 1275 ff.). Auch wenn die Neufassung des § 329 StPO kein Recht des Angeklagten auf Abwesenheit in der Berufungsverhandlung begründet hat (BT-Drucks 18/3562, S. 61), hat § 329 Abs. 1 S. 1 StPO die Vorgaben des EGMR umgesetzt. Denn: Lässt sich der unentschuldigt ausgebliebene Angeklagte zu Beginn eines Berufungshauptverhandlungstermins von einem erschienenen, mit schriftlicher Vertretungsvollmacht versehenen Verteidiger (vgl. V. 4.) vertreten, ist eine Verwerfung seiner Berufung im Grundsatz ausgeschlossen. Daran ändert auch die Anordnung des persönlichen Erscheinens (§§ 332, 236 StPO) nichts (BT-Drucks 18/3562, S. 70; Deutscher, StRR 2015, 284).

Hinweis:

Die Berufung ist nach § 329 Abs. 1 S. 1 StPO hingegen zu verwerfen, wenn

  • sowohl der Angeklagte als auch der bevollmächtigte Verteidiger ausbleiben,
  • der unverteidigte Angeklagte nicht erscheint oder
  • der anwesende Verteidiger keine schriftliche/nachgewiesene Vertretungsvollmacht besitzt; durch das „Gesetz zur Einführung der elektronischen Akte in der Justiz und zur weiteren Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs“ v. 5.7.2017 (BGBl I, S. 2208), ist in § 329 StPO die Formulierung „schriftliche“ durch die „medienneutrale“ Formulierung (s. BT-Drucks 18/9416, S. 70 – „nachgewiesene“) ersetzt worden, was jedoch keine materiellen Auswirkungen hat.

Im Übrigen gelten die zwingenden Verwerfungsfälle des § 329 Abs. 1 S. 2 Nr. 1–3 (vgl. IV. 2.).

4. Schriftliche/nachgewiesene Vertretungsvollmacht des Verteidigers

Voraussetzung für die Beschränkung der Verwerfungskompetenz des Berufungsgerichts ist, dass der Angeklagte zu Beginn des Berufungshauptverhandlungstermins von einem mit schriftlicher/nachgewiesener Vertretungsvollmacht versehenen Verteidiger vertreten wird. Der bevollmächtigte Verteidiger muss zu Beginn des Hauptverhandlungstermins erscheinen, wobei es sich anders als früher nicht um die erste Berufungsverhandlung in der anhängigen Sache handeln muss und ggf. auch das Nichterscheinen in einem Fortsetzungstermin erfasst wird (BT-Drucks 18/3562, S. 68).

a) Erscheinen des Verteidigers

Für die Vertretung des Angeklagten in einem (Berufungs-)Hauptverhandlungstermin reicht es grds. aus, dass der bevollmächtigte Verteidiger für den Angeklagten erscheint, er also körperlich im Sitzungssaal anwesend ist. Eine ausdrückliche Erklärung des mit einer schriftlichen Vertretungsvollmacht erschienenen Verteidigers, dass er für den Angeklagten in dessen Abwesenheit verhandeln wolle, setzt § 329 Abs. 1 StPO nicht voraus, es ist lediglich die Bereitschaft des Verteidigers hierzu erforderlich (OLG Hamm, Beschl. v. 6.9.2016 – 4 RVs 96/16, StV 2018, 150 m. Hinw. auf BT-Drucks 18/3562, S. 69; OLG Oldenburg, Beschl. v. 20.12.2016 – 1 Ss 178/16, StV 2018, 148 m. Anm. Burhoff, StRR 9/2017, 14; Spitzer, StV 20116, 48, 50; unzutreffend a.A. OLG Jena, Beschl. v. 28.7.2016 – 1 Ss 42/16, StraFo 2016, 417). Der Verteidiger muss also weder an der Verhandlung mitwirken noch Erklärungen zur Sache abgeben; vielmehr kann er sich darauf beschränken, anwesend zu sein und damit zu erkennen geben, dass er bereit ist, von den Rechten des Angeklagten in der Hauptverhandlung Gebrauch zu machen. Aus dem bloßen Schweigen des Verteidigers und dem Absehen von einer Antragstellung lässt sich nicht schließen, dass er nicht vertretungswillig ist; hierfür bedarf es vielmehr weiterer eindeutiger Indizien (KG, Beschl. v. 7.7.2010 – (1) 1 Ss 233/10 (17/10), StraFo 2010, 427; OLG Bremen, Beschl. v. 18.12.2007 – Ss 42/07, StRR 2008, 148; OLG Oldenburg a.a.O.; Deutscher, StRR 2015, 284) bzw. es müssen konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der Verteidiger es gar nicht zu einer Sachverhandlung kommen lassen will (OLG Hamm a.a.O.; OLG Oldenburg a.a.O.).

b) Vertretungsvollmacht

Vertreten werden muss der Angeklagte durch einen „Verteidiger mit schriftlicher Vertretungsvollmacht“.

Hinweis:

Aus der Formulierung „Verteidiger“ folgt, dass Vertreter des ausgebliebenen Angeklagten also nicht jeder Dritte sein kann und auch nicht ein als Beistand in der Berufungshauptverhandlung nach § 149 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 StPO zugelassener Ehegatte, Lebenspartner oder gesetzlicher Vertreter eines Angeklagten oder ein nach § 69 Abs. 1 JGG durch das Gericht bestellter Beistand für einen jugendlichen Angeklagten (BT-Drucks 18/3562, S. 6).

Vertreter kann nach § 329 Abs. 1 S. 1 StPO nur derjenige sein, den der Angeklagte nach § 138 Abs. 1, 2 StPO auch als Verteidiger wählen kann (dazu Burhoff, Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 10. Aufl. 2025, Rn 5111 ff. [im Folgenden kurz: Burhoff, EV). Dieser muss mit einer sog. Vertretungsvollmacht ausgestattet sein (wegen der Einzelheiten zur Vertretungsvollmacht Burhoff, HV, Rn 3908 ff., 3923 ff.; u.a. KG StRR 2014, 38; OLG Bamberg NJW 2007, 1477 [Ls.]; VRR 2011, 472; OLG Celle DAR 2010, 708; Beschl. v. 18.1.2021 – 2 Ss 119/20, NStZ 2021, 764; OLG Hamm StraFo 2006, 425; OLG Frankfurt am Main, Beschl. v. 7.12.2020 – 2 Ss-OWi 1347/20, NStZ-RR 2021, 83; Meyer-Lohkamp/Venn, StraFo 2009, 265, 268; Dierbach, StraFo 2019, 50), die dem Gericht bei Beginn der Hauptverhandlung vorliegen muss (OLG Brandenburg wistra 2012, 43; OLG Koblenz MDR 1972, 801; OLG Köln MDR 1964, 435). Die gewöhnliche Verteidigervollmacht ist nicht ausreichend (u.a. OLG Bamberg NJW 2007, 1477 [Ls.]; OLG Celle a.a.O.; OLG Hamm a.a.O.), die Vertretungsvollmacht kann aber zusammen mit der Verteidigervollmacht erteilt werden (BGHSt 9, 356). Aus dieser Vollmacht muss klar hervorgehen, dass der Verteidiger zur Vertretung des Angeklagten befugt ist. Nicht erforderlich ist eine Vollmacht „zur Vertretung des Angeklagten“ in dessen Abwesenheit (BGH a.a.O.; Meyer-Goßner/Schmitt, § 234 Rn 5 m.w.N.; wegen der Einzelh. → Verteidiger, Vollmacht des Verteidigers, Teil V Rdn 3923 ff.)

Das gilt auch für den erschienenen Pflichtverteidiger. Die diesem ggf. zuvor als Wahlverteidiger erteilte Vertretungsvollmacht ist mit der Bestellung zum Pflichtverteidiger erloschen (BGH, Beschl. v. 8.11.1990 – 4 StR 457/90, NStZ 1991, 94; u.a. BayObLG, Beschl. v. 9.10.2020 – 202 StRR 94/20; OLG Celle, Beschl. v. 20.2.2020 – 2 Ws 35/20, RVGreport 2020, 194; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 27.2.2012 – III-2 RVs 11/12, StV 2013, 299; OLG Hamburg, Beschl. v. 26.11.2019 – 2 Rev 41/19, StV 2020, 159 [Ls.]; OLG Hamburg, Beschl. v. 24.6.2021 – 2 Ws 52/21, StV 2022, 141 [Ls.]; OLG Hamm, Beschl. v. 3.4.2014 – 5 RVs 11/14, zfs 2014, 470; OLG Köln, Beschl. v. 12.6.2018 – 1 RVs 107/18, StraFo 2019, 21 m.w.N.; Spitzer, StV 2016, 48, 49).

Der Verteidiger muss mit einer schriftlichen Vertretungsvollmacht des Angeklagten ausgestattet sein und diese vorweisen bzw. diese muss „nachgewiesen“ sein (BT-Drucks 18/9416, S. 70; vgl. KG, Beschl. v. 16.5.2014 – (4) 161 Ss 71/14 (106/14), StRR 2015, 64 m. Anm. Hanschke zugleich auch zu den Anforderungen an die Revision; OLG Hamburg, Beschl. v. 25.7.2017 – 1 Rev 37/17, StV 2018, 151 [Ls.]; OLG Jena, Beschl. v. 2.2.2021 – 1 OLG 331 Ss 83/20; OLG Köln, Beschl. v. 24.3.2017 – 1 RVs 15/17, StraFo 2017, 237). Zum Nachweis der Vertretungsvollmacht durch ein elektronisches Dokument muss dieses qualifiziert signiert oder auf einem der in § 32a Abs. 4 StPO genannten sicheren Übermittlungswege übermittelt worden sein (OLG Karlsruhe, Beschl. v. 18.11.2020 – 2 Rv 21 Ss 483/20, NStZ-RR 2021, 56). Allerdings kann die Vorlage des Ausdrucks einer dem Verteidiger vom Angeklagten als Bilddatei übermittelten Vollmacht ausreichen (OLG Karlsruhe, Beschl. v. 7.4.2021 – 2 Ws 73/21, NStZ-RR 2021, 184). Bei der Beantwortung der Frage, ob die Vertretungsmacht des Verteidigers i.S.d. § 329 Abs. 2 StPO „nachgewiesen“ ist, darf letztlich aber nicht aus dem Blick geraten, dass – jedenfalls dann, wenn nur der Angeklagte Berufung eingelegt hat –, die Alternative zu dessen Vertretung in der Berufungshauptverhandlung in der umstandslosen Verwerfung seines Rechtsmittels besteht (so zutreffend OLG Köln, Beschl. v. 9.7.2021 – 1 RVs 121/21, NStZ 2024, 248).

Nach h.M. genügte nach der Rspr. zu § 329 StPO a.F. eine vom Verteidiger selbst aufgrund mündlicher Ermächtigung seines Mandanten unterzeichnete Vollmacht. Daran hat die Rspr. zur Neuregelung (unter Hinweis auf die BT-Drucks 18/3562, S. 67) nicht festgehalten (vgl. KG, Beschl. v. 23.11.2017 – (4) 161 Ss 158/17, StraFo 2018, 71; OLG Hamburg, Beschl. v. 25.7.2017 – 1 Rev 37/17 StV 2018, 151 [Ls.] m. Anm. Burhoff, StRR 9/2017, 13; s. auch Spitzer, StV 2016, 48, 49). Die Vollmacht kann sich aber aus einer schriftlichen Erklärung des Angeklagten gegenüber dem Gericht ergeben (BT-Drucks a.a.O.; Spitzer, a.a.O.; so grds. auch OLG Köln, Beschl. v. 24.3.2017 – 1 RVs 15/17, StraFo 2017, 237). Nach Auffassung des OLG Köln (a.a.O.) reicht die Übermittlung per Telefax am Vortag der Hauptverhandlung nicht, wenn die schriftliche Vollmacht bis zu Beginn der Hauptverhandlung nicht zur Kenntnis des Gerichts gelangt ist und vom Verteidiger in der Hauptverhandlung auch nicht vorgelegt wird. Eine solche Vollmacht müsse dem Gericht schon bei Beginn der Verhandlung vorliegen. Ob das mit der neuen Formulierung „nachgewiesen“ vereinbar ist, erscheint fraglich. Inzwischen ist weitere Bewegung in die Diskussion gekommen. Das OLG Köln geht nämlich wegen der Alternative Berufungsverwerfung davon aus, dass es nach Lage des Einzelfalles auch nach neuem Recht unbedenklich sein kann, wenn der Verteidiger die Vollmachturkunde selbst vervollständigt, z.B. um das Aktenzeichen des Berufungsverfahrens im Betreff der Vollmachturkunde (OLG Köln a.a.O.).

Hinweis:

Wegen dem Hin und Her in der Rspr. im Hinblick auf eine Vertretungsvollmacht sollte sich der Verteidiger zusätzlich zur „normalen“ Vollmacht eine weitere Vertretungsvollmacht unterzeichnen lassen, die allein die Vertretung regelt und die sich ausdrücklich auf die jeweilige Verhandlung bezieht.

5. Erforderlichkeit der Anwesenheit

a) Prüfungspflicht

In § 329 Abs. 2, 4 StPO ist eine Prüfungspflicht für das Berufungsgericht im Hinblick auf die Erforderlichkeit der Anwesenheit des Angeklagten in der Berufungshauptverhandlung normiert (dazu eingehend krit. Sommer, StV 2016, 55; Spitzer, StV 2016, 48, 53). Insoweit gilt: Wird der abwesende Angeklagte durch einen vertretungsbefugten Verteidiger vertreten und darf deshalb seine Berufung nicht verworfen werden, ergibt sich für das Berufungsgericht nach § 329 Abs. 2, 4 StPO eine Prüfungspflicht. Das Berufungsgericht muss nach § 329 Abs. 2 S. 1 StPO prüfen, ob die Anwesenheit des Angeklagten erforderlich ist (u.a. BayObLG, Beschl. v. 20.3.2024 – 204 StRR 77/24):

  • Anwesenheit nicht erforderlich: Die Hauptverhandlung findet ohne den Angeklagten statt (§ 329 Abs. 2 S. 1 Alt. 1 StPO).
  • Anwesenheit trotz Vertretung erforderlich: Das Berufungsgericht muss den Angeklagten zu einer Fortsetzung der Hauptverhandlung laden und sein persönliches Erscheinen anordnen (§ 329 Abs. 4 S. 1 StPO; KG, Beschl. v. 12.12.2018 – 161 Ss 161/18, StV 2020, 157). Erscheint der Angeklagte dann in der neuen Hauptverhandlung unentschuldigt bei weiterbestehender Erforderlichkeit seiner Anwesenheit nicht, muss seine Berufung verworfen werden (§ 329 Abs. 4 S. 2 StPO). Nach dem eindeutigen Gesetzeswortlaut muss es sich bei dem neuen Termin um eine Fortsetzung der Hauptverhandlung handeln, die innerhalb der Fristen des § 229 StPO zu erfolgen hat (KG, Beschl. v. 12.12.2018 – (6) 161 Ss 161/18, StV 2020, 157; OLG Brandenburg, Beschl. v. 4.4.2019 – (1) 53 Ss 14/19 (17/19), StV 2020, 158; OLG Brandenburg, Beschl. v. 26.7.2019 (1) 53 Ss 83/19 (50/19), StraFo 2020, 28; OLG Hamburg, Beschl. v. 6.5.2020 – 2 Rev 20/20, StV 2021, 162 [Ls.]). Über diese Möglichkeiten ist der Angeklagte mit der Ladung zu belehren (§ 329 Abs. 4 S. 3 StPO). Zudem muss die Ladungsfrist eingehalten worden sein (OLG Bamberg, Beschl. v. 15.9.2021 – 1 Ws 561/21).

Hinweis:

Beim unverteidigten Angeklagten, der auf seine Berufung hin unentschuldigt nicht erscheint, erfolgt keine Prüfung der Erforderlichkeit, sondern nach § 329 Abs. 1 S. 1 StPO zwingend die Verwerfung seiner Berufung. Insoweit hat sich durch die Neuregelungen in § 329 StPO nichts geändert.

b) Erforderlichkeitsprüfung

Notwendig ist eine allgemeine Erforderlichkeitsprüfung durch das Gericht. Diese ist zwingend. Ursprünglich war vorgesehen, die Prüfungspflicht auf „besondere Gründe“ zu beschränken (BT-Drucks 18/3562, S. 73 f.). Das hätte aber die Annahme nahegelegt, dass es sich bei § 329 Abs. 2 StPO um eine Ausnahmeregelung handelt (in diesem Sinne OLG Hamburg, Beschl. v. 21.10.2016 – 1 Rev 57/16, StV 2018, 145; Böhm, NJW 2015, 3132, 3133; krit. Sommer, StV 2016, 55). Um zu verdeutlichen, dass dies nicht der Fall ist, ist die Beschränkung auf „besondere Gründe“, die die Anwesenheit erforderlich machen, im Gesetzgebungsverfahren gestrichen worden (BT-Drucks 18/5254, S. 6). Bei der Auslegung der Vorschrift wird man allerdings die Gesetzesbegründung zu den zunächst vorgesehenen „besonderen Gründen“, die die Anwesenheit des Angeklagten „erfordern“ sollten (vgl. BT-Drucks 18/3562, S. 73 f.), heranziehen können. Denn in den Fällen ist nach der nun schwächeren Formulierung die Anwesenheit des Angeklagten auf jeden Fall auch erforderlich.

Hinweis:

Die mit dem Prüfungserfordernis verbundene bzw. aus ihm folgende gestreckte Verfahrensgestaltung (Deutscher, StRR 2015, 294) hat im Übrigen zur Folge, dass bei Annahme der Erforderlichkeit eine Vorführung oder Verhaftung des Angeklagten statt der Fortsetzung der Hauptverhandlung nur bei einer Berufung der Staatsanwaltschaft oder nach Zurückverweisung durch das Revisionsgericht vorgesehen ist (§ 329 Abs. 3 StPO).

Das Berufungsgericht darf im Übrigen auch nicht die Anwesenheit des Angeklagten schon allein deshalb für erforderlich erachten, um dann nach § 329 Abs. 4 StPO zu verfahren und bei einer erneuten Säumnis des Angeklagten die Berufung verwerfen zu können (Deutscher, StRR 2015, 284). Das wäre eine Umgehung des mit der Neuregelung verfolgten Sinn und Zwecks (dazu auch Sommer, StV 2016, 55; Gerson, StV 2018, 146 m. Anm. zu OLG Hamburg a.a.O.).

In § 329 Abs. 2, 4 StPO ist keine Regelung dazu getroffen, wann und wie lange die Erforderlichkeitsprüfung stattzufinden hat. Obwohl eine insoweit klare Vorgabe fehlt, ist die Erforderlichkeitsprüfung nicht auf den Beginn der Berufungshauptverhandlung beschränkt, sondern während des gesamten Verlaufs der Verhandlung durchzuführen (BT-Drucks 18/5254, S. 6; Frisch, NStZ 2015, 69, 71; Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 329 StPO Rn 15a). Das folgt im Übrigen auch schon daraus, dass § 329 StPO nicht mehr auf den „Beginn der Hauptverhandlung“ abstellt, sondern auf den Beginn eines Hauptverhandlungstermins. Es kann also die Anwesenheit des Angeklagten, die zu Beginn der Hauptverhandlung nicht erforderlich war, im Laufe einer sich über mehrere Hauptverhandlungstermine erstreckenden Hauptverhandlung erforderlich werden bzw. geworden sein.

Hinweis:

§ 329 Abs. 2 S. 2 StPO stellt im Übrigen klar, dass die Möglichkeit, den Angeklagten nach § 231b StPO wegen ordnungswidrigen Benehmens aus dem Sitzungszimmer zu entfernen oder zur Haft abzuführen (§ 177 GVG) und nach der dortigen Maßgabe ohne ihn weiter zu verhandeln, unbeschadet des über § 332 StPO anwendbaren § 329 StPO gegeben ist. Wird ein Angeklagter wegen ordnungswidrigen Benehmens gem. § 177 GVG aus dem Sitzungssaal entfernt, soll dies aber nicht die Verwerfung seiner Berufung rechtfertigen; vielmehr ist in einem solchen Fall nach § 231b Abs. 1 StPO zu verfahren (BayObLG, Beschl. v. 9.8.2021 – 202 ObOWi 860/21, StRR 10/2021, 29 m.w.N. auch zur a.A. [für Verwerfung des Einspruchs gegen den Bußgeldbescheid]).

c) Prüfungskriterien/-maßstäbe

Auszugehen ist von folgenden Prüfungskriterien (vgl. auch Burhoff, HV, Rn 879):

Die Prüfung der Erforderlichkeit der Anwesenheit muss sich allgemein zunächst an der Aufklärungspflicht des Gerichts (§ 244 Abs. 2 StPO) ausrichten, wobei materiell- und verfahrensrechtliche Kriterien von Bedeutung sein können (weitergehend auf der Grundlage des ursprünglichen Entwurfs „besondere Gründe“ Frisch, NStZ 2015, 73, wonach die Anwesenheit in aller Regel „unverzichtbar“ sein soll; s. auch Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 329 StPO Rn 15; Sommer, StV 2016, 55). Sehr weit geht das OLG Hamburg (a.a.O.), das die Anwesenheit des Angeklagten stets für erforderlich hält, wenn die Aufklärung irgendeines für die Schuld- und Straffrage bedeutsamen Umstandes in Rede steht.

Die Erforderlichkeit der Anwesenheit (auch Deutscher, StRR 2015, 284; Spitzer, StV 2016, 48, 53; Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 329 StPO Rn 36; K. Franzke, StV 2019, 363; Ullenboom, StV 2019, 643, 646) kann sich etwa ergeben im Bereich der Beweisaufnahme, wenn es um die Gegenüberstellung des Angeklagten mit Zeugen oder Mitangeklagten geht (vgl. zu § 231a StPO entsprechend SK-StPO/Schlüchter, § 231a Rn 13). Dabei nimmt die Erforderlichkeit ab, je mehr andere Beweismittel, insb. Sachbeweise vorhanden sind. Die Anwesenheit des Angeklagten ist ebenfalls erforderlich, falls sich die Erklärungen des vertretungsberechtigten Verteidigers für den Angeklagten zur Sache als lückenhaft oder widersprüchlich erweisen. Sie ist auch anzunehmen, wenn es auf den persönlichen Eindruck des Gerichts von der Person des Angeklagten ankommt, etwa bei der Strafaussetzung zur Bewährung (zu § 329 Abs. 2 StPO a.F.: OLG Hamm, Beschl. v. 22.1.1997 – 2 Ws 9/97, StV 1997, 346; OLG Karlsruhe, Beschl. v. 11.11.2002 – 2 Ss 64/02, NStZ-RR 2004, 21; s. noch BayObLG, Beschl. v. 20.3.2024 – 204 StRR 77/24).

Hinweis:

Die Anwesenheit des Angeklagten wird umso eher erforderlich sein, je höher die Straferwartung ist (BT-Drucks 18/3562, S. 74). Umgekehrt werden in Bagatellverfahren an die Annahme der Erforderlichkeit geringere Anforderungen gestellt werden können.

Die Erforderlichkeit wird hingegen zu verneinen sein, wenn von der Anwesenheit des Angeklagten eine weitere Sachaufklärung nicht zu erwarten ist (so schon zu § 329 Abs. 2 StPO a.F. u.a. OLG Stuttgart, Beschl. v. 10.3.1987 – 3 Ws 66/87, NStZ 1987, 377). Gleiches gilt, wenn es lediglich um Rechtsfragen geht, wie z.B. Verfahrenshindernisse, fehlende Verfahrensvoraussetzungen oder einen erstrebten Freispruch aus Rechtsgründen (Frisch, NStZ 2015, 69, 71). Die Erforderlichkeit der Anwesenheit des Angeklagten entfällt aber nicht bereits dadurch, dass die Berufung auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt worden ist oder wird.

Hinweis:

Auch wenn der vertretungsberechtigte Verteidiger den Angeklagten in Willen und Erklärung vertreten darf, wird man die Anwesenheit auch dann für erforderlich ansehen müssen, wenn eine Verständigung nach §§ 332, 257c StPO im Raum steht. Nur so lassen sich die vom BVerfG (Urt. v. 19.3.2013 – 2 BvR 2628/10, NJW 2013, 1058 m. Anm. Deutscher, StRR 2013, 179) statuierten Beteiligungsrechte des Angeklagten und der Schutz seiner Selbstbelastungsfreiheit gewährleisten (ähnlich Frisch, NStZ 2015, 69, 73).

VI. Berufung der Staatsanwaltschaft

1. Verhandlung ohne den Angeklagten

Handelt es sich um eine Berufung der Staatsanwaltschaft, kann nach § 329 Abs. 2 StPO ohne den Angeklagten verhandelt werden, wenn er „nicht genügend entschuldigt“ nicht erscheint (zum Haftbefehl BVerfG, Beschl. v. 18.12.2000 – 2 BvR 1706/00, NJW 2001, 1341). Daran hat sich durch die Neuregelung des § 329 StPO nichts geändert. Allerdings sollen durch die Neufassung des § 329 Abs. 2 Alt. 2 StPO – „Abwesenheit nicht genügend entschuldigt“ – nun auch die Fälle des nachträglichen Sich-Entfernens und des Versetzens in einen verhandlungsunfähigen Zustand (§ 329 Abs. 1 S. 2 Nr. 2, 3 StPO; s. IV. 2.) erfasst werden (so BT-Drucks 18/3562, S. 72; Spitzer, StV 2016, 48, 53; krit. Deutscher, StRR 2015, 284).

Hinweis:

Tritt für den Angeklagten ein vertretungsberechtigter Verteidiger auf, so gelten auch hier die für die Verwerfung des Angeklagten bei potenzieller Vertretung aufgestellten Grundsätze der Erforderlichkeitsprüfung (BT-Drucks 18/3562, S. 74; dazu V. 5.). Gerade in diesen Fällen muss der Verteidiger darauf achten, ob nicht ggf. die sich aus § 244 Abs. 2 StPO ergebende Aufklärungspflicht des Gerichts eine Verhandlung in Anwesenheit des Angeklagten erforderlich macht. Das wird insb. dann der Fall sein, wenn sich das Gericht einen persönlichen Eindruck vom Angeklagten verschaffen muss, so z.B. bei einer Strafmaßberufung der Staatsanwaltschaft (OLG Hamm, Beschl. v. 22.1.1997 – 2 Ws 9/97, StV 1997, 346; OLG Karlsruhe, Beschl. v. 11.11.2002 – 2 Ss 64/02, NStZ-RR 2004, 21; OLG Köln, Beschl. v. 17.6.2011 – III-1 RVs 140/11, StraFo 2011, 360).

2. Vorführung/Verhaftung

Nach § 329 Abs. 3 Alt. 1 StPO ist gegen den ausgebliebenen Angeklagten die Vorführung oder Verhaftung anzuordnen, wenn bei einer Berufung der Staatsanwaltschaft nicht ohne ihn verhandelt werden kann. Die Vorführung des Angeklagten dürfte im Übrigen auch dann grds. zulässig sein, wenn allein der Nebenkläger Berufung eingelegt hat (OLG Köln, Beschl. v. 19.11.2012 – 2 Ws 806/12, NStZ 2014, 296). Die Zwangsmaßnahmen stehen allerdings unter dem Vorbehalt, dass sie zur Durchführung der Hauptverhandlung geboten sind. Bei der Entscheidung der Frage, ob die Anwesenheit des Angeklagten in der Verhandlung über eine Berufung der Staatsanwaltschaft erforderlich ist, steht dem Berufungsgericht ein Beurteilungsspielraum zu, dessen Ausfüllung (im Beschwerdeverfahren) nur eingeschränkt zu überprüfen ist (KG, Beschl. v. 12.7.2017 – 4 Ws 115/17). Der Erlass eines Haftbefehls nach § 329 Abs. 3 StPO setzt nicht voraus, dass der Angeklagte zunächst unter Anordnung seines persönlichen Erscheinens zu einem Fortsetzungstermin geladen wurde (KG a.a.O.).

3. Informationspflicht

In § 329 Abs. 5 S. 1 StPO ist eine Informationspflicht des Gerichts vorgesehen, falls nach § 329 Abs. 2 S. 1 Alt. 2 StPO über eine Berufung der Staatsanwaltschaft ohne Angeklagten und vertretungsbefugten Verteidiger verhandelt worden ist. Hiernach hat der Vorsitzende, solange mit der Verkündung des Urteils noch nicht begonnen worden ist, einen erscheinenden Angeklagten oder vertretungsberechtigten Verteidiger von dem wesentlichen Inhalt dessen zu unterrichten, was in seiner Abwesenheit verhandelt worden ist. Die Regeln zu § 247a StPO dürften entsprechend gelten (vgl. dazu Burhoff, HV, Rn 1796 ff.).

4. Rücknahme der Berufung

Nach § 329 Abs. 5 S. 2 StPO ist die Rücknahme der Berufung der Staatsanwaltschaft abweichend von § 303 StPO auch ohne Zustimmung des unentschuldigt ausgebliebenen Angeklagten zulässig. Eine Ausnahme gilt, wenn nach Zurückverweisung durch das Revisionsgericht verhandelt wird (§ 329 Abs. 5 S. 2 Hs. 2 StPO). Wegen der Bezugnahme auf § 329 Abs. 1 StPO gilt das aber nur, wenn auch kein vertretungsbefugter Verteidiger anwesend ist. Erweitert wird diese Möglichkeit auf das nachträgliche Sich-Entfernen von dem Angeklagten bzw. seinem Verteidiger oder falls der Verteidiger den Angeklagten nicht weiter vertritt (Spitzer, StV 2016, 48, 55).


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