aus StRR 10/2025, 5
(Ich bedanke mich bei der Schriftleitung von "StRR" für die freundliche Genehmigung, diesen Beitrag aus "StRR" auf meiner Homepage einstellen zu dürfen.)
Wir setzen mit diesem Beitrag unsere Berichterstattung zum Recht der Pflichtverteidigung fort. Der Beitrag schließt an die Übersicht in StRR 6/2024, 6 ff. an. Er enthält die seitdem bekannt gewordene Rechtsprechung.
Auch im Berichtszeitraum liegt der Schwerpunkt der Diskussion im Recht der Pflichtverteidigung nach wie vor immer noch bei der Frage der nachträglichen/rückwirkenden Bestellung eines Pflichtverteidigers. Die Rechtsprechung ist weiterhin gespalten. Höchstrichterliche Rechtsprechung liegt zu dieser Problematik bislang weiterhin nicht vor.
Die seit der letzten Übersicht ergangene Rechtsprechung ist in der nachfolgenden Übersicht zusammengestellt. Sie hat den Stand von etwa Mitte 2025.
Die Normen über die notwendige Verteidigung im Strafverfahren konkretisieren das Gebot fairer Verfahrensführung. Wird gegen diese Bestimmungen verstoßen und der Angeklagte trotz notwendiger Verteidigung ohne Mitwirkung seines Verteidigers verurteilt, so stellt dies eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren dar (BVerfG, Beschl. v. 19.7.2024 2 BvR 829/24, NJW 2024, 2640; ähnlich BVerfG, Beschl. v. 27.3.2025 - 2 BvR 829/24). Die Beiordnung eines Pflichtverteidigers ist aber erst in dem Zeitpunkt geboten, in dem der Angeklagte der Verteidigung durch einen Rechtsanwalt bedarf (OLG Zweibrücken, Beschl. v. 28.7.2025 - 1 Ws 129/25). Eine (isolierte) Beiordnung eines Verteidigers nach § 364a StPO im Verfahren über die sofortige Beschwerde nach § 372 S. 1 StPO gegen die Entscheidungen nach § 368 Abs. 1 bzw. § 370 Abs. 1 StPO ist möglich (OLG Hamm, Beschl. v. 2.7.2025 1 Ws 171/25).
Eine Aufhebung der Pflichtverteidigerbestellung kommt in Betracht, wenn das Gericht die Bestellung in grob fehlerhafter Verkennung der Voraussetzungen des § 140 StPO vorgenommen hat oder sich die für die Bestellung maßgeblichen Umstände wesentlich geändert haben. Unter dieser Voraussetzung kann die Aufhebung auch in Betracht kommen, wenn entgegen erwarteter Anklageerhebung zum Schöffengericht tatsächlich nur zum Strafrichter angeklagt wird. In diesem Fall wird aber unter besonderer Berücksichtigung der Umstände, die zunächst die Erwartung der Anklageerhebung zum Schöffengericht begründet haben, das Vorliegen notwendiger Verteidigung nach § 140 Abs. 2 zu prüfen sein (LG Köln, Beschl. v. 11.12.2024 - 111 Qs 118/24).
Der Beschluss, durch den eine Pflichtverteidigerbestellung aufgehoben worden ist, muss eine Begründung enthalten, damit für die Beschwerdekammer die Entscheidung des aufhebenden Gerichts entweder bezogen auf eine fehlerfreie Rechtsanwendung oder auf eine rechtsfehlerfreie Ermessensausübung nachprüfbar ist (LG Bonn, Beschl. v. 9.12.2024 - 63 Qs 77/24).
Umfang
Durch die Beiordnung eines Rechtsanwalts als Verteidiger für die Wahrnehmung eines Termins wird ein eigenständiges, vollumfängliches öffentlich-rechtliches Beiordnungsverhältnis begründet, aufgrund dessen der bestellte Verteidiger während der Dauer seiner Bestellung die Verteidigung des Angeklagten umfassend und eigenverantwortlich wahrzunehmen hat. Daraus folgt, dass der Rechtsanwalt alle Gebühren eines Verteidigers nach Teil 4 Abschnitt 1 VV RVG geltend machen kann (OLG Koblenz, Beschl. v. 4.7.2024 - 2 Ws 412/24, AGS 2024, 357 = JurBüro 2024, 462). Ist eine Verteidigung im Sinne des § 140 Abs. 1 StPO notwendig, ist dies grundsätzlich im gesamten Verfahren und nicht ggf. nur für eine richterliche Vernehmung. Dies gilt vor allem. wenn beabsichtigt ist, die Aussage einer Hauptbelastungszeugin vernehmungsersetzend in die Hauptverhandlung einzuführen und von der Verteidigung Einwände gegen die erfolgte Anordnung nach § 223 Abs. 1 StPO unter Hinweis auf ein mögliches Beweisverwertungsverbot erhoben und überdies ein Widerspruch hinsichtlich der Verlesung der Vernehmungsniederschrift im Raum steht (LG Siegen, Beschl. v. 12.8.2025 - 10 Qs 74/25).
Nach § 143 Abs. 1 StPO endet die Bestellung des Pflichtverteidigers mit dem rechtskräftigen Abschluss des Strafverfahrens. Ausnahmen sind nur für das abgetrennte Einziehungsverfahren (§ 423 StPO) und die nachträgliche Gesamtstrafenbildung (§ 460 StPO), nicht aber für das Wiederaufnahmeverfahren vorgesehen (OLG Hamm, Beschl. v. 2.7.2025 1 Ws 171/25).
Zu erwartende Freiheitsstrafe
Von einem Fall notwendiger Verteidigung ist regelmäßig ab einer Straferwartung von einem Jahr Freiheitsstrafe auszugehen (OLG Naumburg, Beschl. v. 23.12.2024 1 Ws 498/24; LG Arnsberg, Beschl. v. 7.5.2024 6 Qs 26/24, LG Braunschweig, Beschl. v. 10.5.2024 - 9 Qs 105/24; LG Frankfurt am Main, Beschl. v. 16.9.2024 5-30 Qs 41/24; LG Köln, Beschl. v. 11.12.204 111 Qs 118/24; LG Nürnberg, Beschl. v. 14.6.2024 - JKII Qs 11/24 jug (JGG-Verfahren); AG Arnsberg, Beschl. v. 26.2.2024 5 Gs 424/24). Bei einer drohenden Gesamtgeldstrafe von 360 Tagessätzen oder mehr kann im Einzelfall eine Verteidigung wegen der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge geboten sein (AG Stade, Beschl. v. 27.8.2024 32 Cs 283/24). Ein Fall der notwendigen Verteidigung nach § 140 Abs. 1, Abs. 2 StPO liegt nicht vor, wenn es sich um eine rechtsfolgenbeschränkte Berufung alleine der Staatsanwaltschaft gegen eine erstinstanzliche Verwarnung mit Strafvorbehalt wegen des Vorwurfs einer falschen Verdächtigung handelt und die Staatsanwaltschaft eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten unter Aussetzung zur Bewährung erstrebt (LG Karlsruhe, Beschl. v. 18.8.2025 - 11 NBs 390 Js 43433/24).
Gesamtfreiheitsstrafe
Bei der Festsetzung der zu erwartenden Strafhöhe ist nicht auf Einzelstrafen, sondern auf die Gesamtstrafe abzustellen. Dies gilt auch für eine nachträgliche Gesamtstrafenbildung, soweit das anhängige Verfahren die Strafe nicht nur unwesentlich beeinflusst (LG Bonn, Beschl. v. 23.12.204 63 Qs 61/24; LG Frankfurt am Main, Beschl. v. 16.9.2024 5-30 Qs 41/24; LG Magdeburg, Beschl. v. 21.11.2024 - 21 Qs 80/24; LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 30.07.2025 - JKI Qs 17/25 jug). Die für die Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge im Rahmen des § 140 Abs. 2 StPO maßgebliche Schwelle von einem Jahr (BVerfG, Beschl. v. 27.03.2025 - 2 BvR 829/24; LG Magdeburg, Beschl. v. 25.6.2025 - 21 Qs 4/25) ist bezogen auf ein noch laufendes konkretes Ermittlungsverfahren auch dann erreicht, wenn im Falle der Anklageerhebung in diesem Verfahren mit der Strafe in einem bereits zur Anklage gebrachten Verfahren eine Gesamtstrafe gebildet werden müsste, die diese Schwelle erreicht (OLG Nürnberg, Beschl. v. 24.4.2025 -Ws 325/25; LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 4.9.2024 18 Qs 34/24). Zur Beiordnung eines Pflichtverteidigers, wenn dem Beschuldigten drei Fälle der Leistungserschleichung vorgeworfen werden und im Fall der Verurteilung eine Gesamtfreiheitsstrafe zu bilden ist, hat sich das LG Gera geäußert (LG Gera, Beschl. v. 20.2.2024 11 Qs 3/24). Voraussetzung der ein anderes Verfahren betreffenden Berücksichtigungspflicht ist, dass das andere Verfahren dem über die Pflichtverteidigerbestellung entscheidenden Gericht bekannt ist. Eine Aufklärungspflicht besteht insoweit nicht (LG Bonn, Beschl. v. 23.12.2024 - 63 Qs 61/24). Einem Strafverfahren kann zwar dadurch ein die Beiordnung eines Pflichtverteidigers gebietendes Gewicht zukommen, dass in einem weiteren Verfahren die Bildung einer Gesamtfreiheitsstrafe zu erwarten ist; dies ist aber dann nicht der Fall, wenn die im vorliegenden Verfahren zu erwartende Strafe bei der späteren Bildung der Gesamtfreiheitsstrafe nur geringfügig ins Gewicht fallen und eine sonst mögliche Strafaussetzung zur Bewährung nicht gefährden wird (OLG Zweibrücken, Beschl. v. 11.9.2024 1 Ws 208/24).
Nebenfolgen usw.
Auch mittelbare Nachteile, wie ggf. eine Bewährungswiderruf und eine Ablehnung des Antrags auf Aufhebung der Führungsaufsicht in anderer Sache, sind zu berücksichtigen (LG Arnsberg, Beschl. v. 7.5.2024 6 Qs 26/24; LG Dessau-Roßlau, Beschl. v. 20.8.2025 - 6 Qs 109/25; AG Arnsberg, Beschl. v. 26.2.2024 5 Gs 424/24). Das OLG Naumburg (OLG Naumburg (Beschl. v. 23.12.2024 1 Ws 498/24) hat zu den Voraussetzungen einer Pflichtverteidigerbestellung im Berufungsverfahren für einen Angeklagten, der seine Wiederbestellung als Steuerberater nach dem StBerG anstrebt, Stellung genommen.
Sachlage
Das nur eingeschränkte Akteneinsichtsrecht des Beschuldigten in bei der Akte befindliche Beweismittel mit kinderpornographischen Inhalten erfordert nicht die Bestellung eines Pflichtverteidigers, weil die Hauptakte auch für den Beschuldigten selbst einsehbar ist und die Beweismittelakte bei der Staatsanwaltschaft eingesehen werden kann (LG Hannover, Beschl. v. 24.9.2024 40 Qs 73/24). Die Sachlage ist u.a. dann im Sinne des § 140 Abs. 2 StPO schwierig, wenn die Staatsanwaltschaft in Ermittlungsverfahren wegen Verdachts von Straftaten nach § 184b StGB ggf. externe Sachverständige mit der Auswertung und Begutachtung sichergestellter Datenträger beauftragt (AG Frankfurt am Main, Beschl. v. 12.7.2024 - 4881 Js 215385/24 - 931 Gs). Die zu erwartende Auseinandersetzung mit technischen Untersuchungsberichten begründet eine überdurchschnittliche Schwierigkeit der Sachlage, für die auch die nur dem Verteidiger zu gewährende Aktenkenntnis erforderlich ist (AG Frankfurt am Main, Beschl. v. 12.7.2024 - 4881 Js 215385/24 - 931 Gs; s.a. ähnlich LG Bremen, Beschl. v. 23.12.2024 6 Qs 418/24). Nicht jede Hinzuziehung eines Sachverständigen begründet die Schwierigkeit einer Sachlage mit der Folge, dass ein Pflichtverteidiger beizuordnen wäre (LG Braunschweig, Beschl. v. 9.4.2024 - 7 Ns 811 Js 66743/21 (27/23). Eine schwierige Sachlage ist gegeben, wenn ein Sachverständigengutachten das entscheidende Beweismittel gegen den Beschuldigten ist, wenn es also z.B. für den Nachweis der Täterschaft des Angeschuldigten auf das Ergebnis eines DNA-Gutachtens voraussichtlich ankommen wird (LG Dessau-Roßlau, Beschl. v. 21.8.2025 - 6 Qs 104/25).
Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage, die die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheinen lässt, ist dann anzunehmen, wenn die Gefahr besteht, dass der Angeklagte seine Rechte ohne die Mitwirkung eines Verteidigers nicht mehr ausreichend wahrnehmen kann. Das kann nach der gebotenen Gesamtbetrachtung der Fall sein, wenn Umfang der Akte mit 12 weiteren Fallakten und die Anzahl von 14 enthaltenen Ermittlungsverfahren es dem gerade 20-jährigen Beschuldigten erschwert, ohne anwaltliche Hilfe deutlich, den Überblick über die Vorwürfe zu behalten (LG Dortmund, Beschl. v. 23.10.2024 - 36 Qs 30/24). Als schwierig ist die Sachlage eines Verfahrens u.a. dann zu bewerten, wenn die Hauptverhandlung ohne Aktenkenntnis nicht umfassend vorbereitet werden kann (LG Bremen, Beschl. v. 23.12.2024 - 6 Qs 418/24). Ist der Beschuldigte nicht in der Lage, die ihn belastenden Beweisstücke selbstständig einzusehen, weil, wie in einem sog. KiPo-Verfahren, überwiegende schutzwürdige Interessen Dritter entgegenstehen, ist die Beiordnung eines Pflichtverteidigers wegen Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage geboten (LG Bremen, Beschl. v. 4.6.2025 - 42 Qs 162/25).
Im Berufungsverfahren ist dem Angeklagten in der Regel ein Verteidiger beizuordnen, wenn die Staatsanwaltschaft gegen ein freisprechendes Urteil Berufung eingelegt hat und eine Verurteilung aufgrund abweichender Beweiswürdigung oder sonst unterschiedlicher Beurteilung der Sach- oder Rechtslage erstrebt (KG, Beschl. v. 6.2.2024 2 ORs 43/23). Der Beiordnung eines Pflichtverteidigers steht nicht entgegen, wenn der bisherige Wahlverteidiger des Angeklagten im Berufungsverfahren erklärt hat, er würde eine gegenseitige Berufungsrücknahme befürworten, und die Staatsanwaltschaft daraufhin angekündigt hat, im Falle einer Berufungsrücknahme des Angeklagten die ihrerseits eingelegte Berufung ebenfalls zurückzunehmen (LG Braunschweig, Beschl. v. 9.4.2024 - 7 Ns 811 Js 66743/21 [27/23]).Nicht jede Aussage-gegen-Aussage-Konstellation erfordert die Beiordnung eines Pflichtverteidigers. Vielmehr kommt eine Beiordnung insbesondere dann nicht in Betracht, wenn zu der Aussage des einzigen Belastungszeugen den Angeklagten belastende Indizien hinzutreten mit der Folge, dass von einer schwierigen Beweiswürdigung nicht mehr gesprochen werden kann (OLG Brandenburg, Beschl. v. 27.1.2025 1 Ws 161/24 [S]).
Rechtslage
KCanG
Zur Beiordnung eines Pflichtverteidigers in den Fällen des § 34 Abs. 3 Satz 2 Nr. 4 KCanG hat das LG Braunschweig Stellung genommen (LG Braunschweig, Beschl. v. 10.5.2024 9 Qs 105/24). Das LG Neuruppin befasst sich mit der Bestellung eines Pflichtverteidigers im Nachverfahren über die anlässlich des teilweisen Inkrafttretens des KCanG zum 1.4.2024 nach Maßgabe der Art. 313 Abs. 3 Satz 3, 316p EGStGB gebotene Strafermäßigungsprüfung (LG Neuruppin, Beschl. v. 22.7.2024 11 Kls 5/22). Ist im Vollstreckungsverfahren zu prüfen, ob eine Freiheitsstrafe als freiheitsentziehende Straftatfolge von zwei Jahren und sechs Monaten unter Anwendung der Art. 313, 316p EGStGB i.V.m. Art. 13 CanG neu festzusetzen bzw. zu ermäßigen wäre und ist die Rechtslage schwierig, weil aufgrund divergierender gerichtlicher Entscheidungen zur Neufestsetzung bzw. Ermäßigung in Fällen, in denen der gleichzeitige Besitz verschiedener Betäubungsmittel den Tatbestand des unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln nur einmal verwirklicht, ist dem Verurteilten ein Pflichtverteidiger zu bestellen (LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 10.1.2025 7 Qs 3/25).
Verfahrensarten
Die Rechtslage bezüglich des Vorwurfs eines tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit dem Vorwurf des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte (§§ 113 Abs. 1, 114 Abs. 1 StGB ) im Zusammenhang mit einem polizeilichen Einschreiten aufgrund des Filmens des Polizeieinsatzes kann so komplex sein, dass ein Pflichtverteidiger beizuordnen ist (OLG Frankfurt am Main, Beschl. v. 26.3.2024 7 Ws 45/24). Bei Tatvorwürfen der Steuerhinterziehung über mehrere Veranlagungszeiträume, die auf Schätzungsgrundlagen beruhen, ist eine Verteidigung wegen der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage jedenfalls dann geboten, wenn weitere Umstände in der Person des Angeklagten hinzutreten, die befürchten lassen, dass der Angeklagte den Sachverhalt in seiner Komplexität nicht erfasst, was z.B. bei sprachlichen Schwierigkeiten und der Erforderlichkeit eines Dolmetschers der Fall sein kann (AG Stade, Beschl. v. 27.8.2024 32 Cs 141 Js 18761/24 (283/24). Wird Beschuldigten vorgeworfen, falsche Angaben in einem ausländerrechtlichen Verfahren oder Asylverfahren gemacht zu haben, so liegt ganz regelmäßig angesichts der drohenden Ausweisung (§ 54 Abs. 2 Nr. 8a AufenthG) ein Fall notwendiger Verteidigung gem. § 140 Abs. 2 StPO vor (AG Singen, Beschl. v. 23.10.2024 60 Cs 25 Js 17110/24 jug.).
Beweisverwertungsverbot
Für die Beurteilung, ob die Rechtslage wegen eines behaupteten Beweisverwertungsverbotes schwierig ist, kommt es nicht darauf an, ob tatsächlich von einem Verwertungsverbot auszugehen ist. Ausreichend ist vielmehr, dass fraglich ist, ob ein Beweisergebnis einem Beweisverwertungsverbot unterliegt. Die sich insoweit stellenden Rechtsfragen wird ein juristischer Laie nicht beantworten könne. Hinzu kommt, dass die Frage, ob von einem Beweisverwertungsverbot auszugehen ist, regelmäßig ohne vollständige Aktenkenntnis nicht zu beantworten ist (LG Regensburg, Beschl. v. 21.1.2025 - 10 Qs 8/25).
Betreuung
Steht der Beschuldigte seit Jahren unter nahezu umfassender Betreuung, die insbesondere auch den Aufgabenkreis der Vertretung vor Behörden umfasst, ist ihm schon allein aus diesem Grund gem. § 140 Abs.2 StPO wegen der daraus folgenden erheblichen Zweifel an seiner Selbstverteidigungsfähigkeit ein Pflichtverteidiger zu bestellen (LG Münster, Beschl. v. 23.10.2024 - 11 Qs 58/24). Bestehen Gründe, die Zweifel an der Fähigkeit des Angeklagten begründen, sich interessengerecht zu verteidigen, liegt ein Fall der notwendigen Verteidigung auch dann vor, wenn eine ursprünglich angeordnete Betreuung aufgehoben ist (LG Magdeburg, Beschl. v. 23.4.2024 - 29 Qs 27/24). Auch wenn der Beschuldigte unter Betreuung steht, was regelmäßig zu einer Beiordnung gemäß § 140 Abs. 2 StPO führt, ist eine Unfähigkeit der Selbstverteidigung nicht ersichtlich, wenn das Verfahren unmittelbar nach dem Eingang der Akten bei der Staatsanwaltschaft aufgrund eines Verfahrenshindernisses ohne weitere Ermittlungen eingestellt worden ist (LG Zweibrücken, Beschl. v. 18.7.2024 - 1 Qs 53/24; s. auch LG Siegen, Beschl. v. 26.6.2025 - 10 Qs 55/25).
Einschränkungen
Für das Vorliegen der Voraussetzungen für die Bestellung eines Pflichtverteidigers wegen Unfähigkeit der Selbstverteidigung muss nicht gänzliche Verteidigungsunfähigkeit gegeben sein. § 140 Abs. 2 StPO ist bereits dann anwendbar, wenn an der Fähigkeit zur Selbstverteidigung erhebliche Zweifel bestehen. Das ist bei einer attestierten Dysarthrie (Artikulationsstörung) des Angeklagten der Fall, da dann erhebliche Zweifel bestehen, dass dieser in der Lage ist, seine Interessen selbst zu wahren und alle zur Verteidigung erforderlichen Handlungen selbst vorzunehmen (LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 7.1.2025 - 7 Qs 80/24). Unfähigkeit der Selbstverteidigung ist anzunehmen für einen Beschuldigten, der nur eingeschränkt lesen oderschreiben oder an Legasthenie leidet und somit erst recht, wenn der Beschuldigte Analphabet ist (AG Osnabrück, Beschl. v. 9.12.2024 - 245 Gs 1185/24).
Akteneinsicht
Die zu erwartende Auseinandersetzung mit technischen Untersuchungsberichten begründet eine überdurchschnittliche Schwierigkeit der Sachlage, für die auch nur dem Verteidiger zu gewährende Aktenkenntnis erforderlich ist (AG Frankfurt am Main, Beschl. v. 12.7.2024 - 4881 Js 215385/24 - 931 Gs).
Waffengleichheit
Es kann aus Gründen der Waffengleichheit die Beiordnung eines Pflichtverteidigers geboten sein, wenn Mitangeklagte anwaltlich verteidigt werden, so etwa wenn die Angeklagten sich gegenseitig belasten oder die Gefahr gegenseitiger Belastung besteht (LG Köln, Beschl. v. 11.12.2024 - 111 Qs 118/24).
Eröffnung des Tatvorwurfs
Die Eröffnung des Tatvorwurfs an den Beschuldigten setzt einen förmlichen Akt der Strafverfolgungsbehörden voraus, es genügt nicht, dass der Betroffene auf sonstige Art und Weise von einem Tatverdacht Kenntnis erhält. Regelmäßig wird der Verfolgungswille der Staatsanwaltschaft im Sinn von § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO durch die förmliche Bekanntgabe des Ermittlungsverfahrens manifestiert (LG Stuttgart, Beschl. v. 17.1.2025 - 3 Qs 3/24). In der Gewährung von Akteneinsicht an den Verteidiger ist nicht immer die Eröffnung des Tatvorwurfs an den Beschuldigten zu sehen (LG Stuttgart, Beschl. v. 17.1.2025 - 3 Qs 3/24).
Verfahren
Gemäß § 141 Abs. 2 Nr. 4 StPO ist dem Angeklagten, wenn ein Fall der notwendigen Verteidigung vorliegt, auch ohne Antrag ein Pflichtverteidiger sofort beizuordnen. Daher hindert die Rechtskraft eines Beschlusses mit dem eine Bestellungsantrag des Beschuldigten (zunächst) abgewiesen worden ist, nicht die spätere Beiordnung auf Antrag eines (Wahl)Verteidigers (LG Magdeburg, Beschl. v. 21.11.2024 - 21 Qs 80/24).
Der Anwendungsbereich des § 141 Abs. 2 Satz 3 StPO beschränkt sich auf Fälle der Bestellung eines Pflichtverteidigers von Amts wegen nach § 141 Abs. 2 StPO (LG Chemnitz, Beschl. v. 22.5.2024 - 1 Qs 178/24).