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aus ZAP Heft 2/2019, F 22, S. 951 ff.

(Ich bedanke mich bei der Schriftleitung von "ZAP" für die freundliche Genehmigung, diesen Beitrag aus "ZAP" auf meiner Homepage einstellen zu dürfen.)

Folgen des Ausbleibens des Angeklagten in der Berufungshauptverhandlung – Teil 1: Ladung, Vertretung, Berufung der Staatsanwaltschaft

Von Rechtsanwalt Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Münster/Augsburg

I. Allgemeines. 2

II. Ordnungsgemäße Ladung. 3

III. Ausbleiben des Angeklagten. 4

  1. Aufruf der Sache. 4

  2. Verhandlungsunfähigkeit 4

  3. „Bei Beginn eines Hauptverhandlungstermins“. 5

IV. Sich-Entfernen aus der Hauptverhandlung. 5

  1. Allgemeines. 5

  2. Verwerfungsfälle. 5

V. Vertretung des Angeklagten. 6

  1. Strafbefehlsverfahren. 6

  2. Entwicklung der Rechtsprechung. 7

  3. Gesetzliche Neuregelung. 7

  4. Schriftliche/nachgewiesene Vertretungsvollmacht des Verteidigers. 8

    a) Erscheinen des Verteidigers. 8

    b) Vertretungsvollmacht 9

  5. Erforderlichkeit der Anwesenheit 10

    a) Prüfungspflicht 10

    b) Erforderlichkeitsprüfung. 10

    c) Prüfungskriterien/-maßstäbe. 11

VI. Berufung der Staatsanwaltschaft 12

  1. Verhandlung ohne den Angeklagten. 12

  2. Vorführung/Verhaftung. 13

  3. Informationspflicht 13

  4. Rücknahme der Berufung. 13

I. Allgemeines

Gegen einen ausgebliebenen oder abwesenden Angeklagten findet in den Tatsacheninstanzen des Strafverfahrens eine Hauptverhandlung grundsätzlich nicht statt (vgl. §§ 230 Abs. 1, 285 Abs. 1 S. 1 StPO). Dies beruht einerseits auf dem Anspruch auf rechtliches Gehör und andererseits auf der sich aus § 244 Abs. 2 StPO ergebenden Aufklärungspflicht des Gerichts. Damit korrespondiert die Pflicht des Angeklagten zum Erscheinen und Verbleiben in der Hauptverhandlung. Ausnahmen hiervon sind in §§ 231 Abs. 2, 231b, 232, 233 StPO sowie beim Einspruch gegen einen Strafbefehl nach § 411 Abs. 2 StPO normiert (wegen der Einzelheiten s. Burhoff ZAP F. 22, S. 939 ff.; zum Bußgeldverfahren Burhoff ZAP F. 21, S. 311 ff.).

Diese Grundsätze gelten über § 332 StPO grundsätzlich auch für die Berufungshauptverhandlung. Gerade hier bleiben aber die Angeklagten häufiger aus. Das kann unterschiedliche Gründe haben, wie etwa die Absicht, hierdurch gezielt eine nachteilige Entscheidung zu verhindern oder das fehlende Vertrauen in die Erfolgsaussicht der eigenen Berufung sowie bei Alkohol- oder Drogenabhängigen ein Rückfall mit der Folge, dass es an der erforderlichen Sorgfalt bei der Beachtung des Termins fehlt. Für diese Verfahrenskonstellation sieht die StPO in § 329 StPO eine eigene Regelung vor. Diese ist durch das am 25.7.2015 in Kraft getretene „Gesetz zur Stärkung des Rechts des Angeklagten auf Vertretung in der Berufungshauptverhandlung und über die Anerkennung von Abwesenheitsentscheidungen in der Rechtshilfe“ (BT-Drucks 18/3562 = BR-Drucks 491/14) in der Fassung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses (BT-Drucks 18/5254, 3; vgl. BGBl I, S. 1332) an die Rechtsprechung des EGMR (vgl. NStZ 2013, 350 [Neziraj] angepasst worden (Einzelheiten s. Burhoff, Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung, 9. Aufl. 2019, Rn 768 ff. m.w.N. zu Lit./Rspr. zum alten Recht [im Folgenden Burhoff, HV]). § 329 StPO sieht danach folgendes Regelungsgefüge vor:

  • Ist bei Beginn eines Hauptverhandlungstermins weder der Angeklagte noch ein Verteidiger mit schriftlicher Vertretungsvollmacht erschienen und das Ausbleiben des Angeklagten nicht genügend entschuldigt, so hat das Gericht nach § 329 Abs. 1 S. 1 StPO eine Berufung des Angeklagten ohne Verhandlung zur Sache zu verwerfen. Die Berufungsverwerfung ist ausgeschlossen, wenn der Angeklagte genügend entschuldigt ist (dazu Teil 2, in: ZAP F. 22, S. 962 [III.]). Die Verwerfung der Berufung setzt zudem eine ordnungsgemäße Ladung des Angeklagten voraus (s. unten II.). Weitere Verwerfungsfälle sind in § 329 Abs. 2 StPO enthalten (s. unten IV. 2.).
  • Soweit die Anwesenheit des Angeklagten nicht erforderlich ist, findet die Hauptverhandlung nach § 329 Abs. 5 S. 1 StPO ohne ihn statt, wenn er durch einen Verteidiger mit schriftlicher Vertretungsvollmacht vertreten wird oder seine Abwesenheit im Fall der Verhandlung auf eine Berufung der Staatsanwaltschaft nicht genügend entschuldigt ist (s. unten VI. und Teil 2, in: ZAP F. 22, S. 962 [III.]).
  • Handelt es sich um eine Berufung der Staatsanwaltschaft, kann ohne den ausgebliebenen Angeklagten verhandelt werden (s. unter V.). Allerdings ist § 329 Abs. 2 StPO zu beachten.
  • Als Rechtsmittel stehen ein Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und die Revision zur Verfügung (s. dazu Teil 2, in: ZAP F. 22, S. 969 [IV.]).

II. Ordnungsgemäße Ladung

Voraussetzung für ein Verwerfungsurteil ist zunächst, dass der Angeklagte ordnungsgemäß in der durch die §§ 216, 323 Abs. 1 S. 1 StPO vorgeschriebenen Form geladen worden ist (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 61. Aufl. 2018, § 329 Rn 9 m.w.N. [im Folgenden kurz: Meyer-Goßner/Schmitt]; OLG Köln NStZ-RR 1999, 334). Die Ladung muss insbesondere den Hinweis auf die Folgen des Ausbleibens enthalten (vgl. dazu § 323 Abs. 1 S. 2 StPO u.a. OLG Schleswig SchlHA 2005, 262 [Dö/Dr]; OLG Nürnberg StRR 8/2018, 3 [Ls.; Fortsetzungstermin]; OLG Oldenburg StV 2018, 151 [Fortsetzungstermin]; StraFo 2009, 114), und zwar auch im Fall der Terminsverlegung (zu allem Meyer-Goßner/Schmitt, § 323 Rn 3 m.w.N.); ob das auch für einen Fortsetzungstermin gilt, ist offen (bejahend OLG Oldenburg a.a.O.; offen gelassen OLG Nürnberg a.a.O.). Das gilt auch für die Ladung zu einer neuen Berufungshauptverhandlung, nachdem ein die Berufung des Angeklagten wegen Nichterscheinens verwerfendes Urteil durch das Revisionsgericht aufgehoben und die Sache zurückverwiesen worden ist (OLG Oldenburg StraFo 2009, 336; OLG Nürnberg a.a.O.).

Der Angeklagte kann auch durch öffentliche Zustellung (§ 40 Abs. 3 StPO) geladen werden. Ist der Angeklagte durch öffentliche Zustellung geladen worden, aber nicht erschienen, ist die Ladung unwirksam, wenn noch vor Beginn der Hauptverhandlung eine ladungsfähige Anschrift des Angeklagten bekannt wird und unter der Adresse die Ladung ordnungsgemäß zugestellt werden kann (OLG Hamm NStZ-RR 2005, 114; OLG Oldenburg StraFo 2004, 274). Auch muss nach der letzten wirksamen Zustellung zunächst ein weiterer Zustellungsversuch seitens des Gerichts erfolgt sein (OLG Hamm StraFo 2006, 280; zur Nachforschungspflicht des Gerichts KG StraFo 2006, 105 [für Widerrufsverfahren]). Auch darf die Ladung des Angeklagten im Weg der öffentlichen Zustellung nicht verfrüht von der Gerichtstafel entfernt werden (OLG Bremen StV 2018, 77). Die fehlende Belehrung nach § 35a S. 1 StPO berührt die Wirksamkeit der öffentlichen Zustellung nicht, wird jedoch i.d.R. zu einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§§ 44, 45 StPO) führen (OLG Hamm NStZ 2014, 421 m. Anm. Kotz StV 2014, 227).

Ist die Ladungsfrist nicht eingehalten, hindert das die Verwerfung der Berufung nicht (BGHSt 24, 143, 154; OLG Brandenburg NStZ-RR 2009, 318). Allerdings trifft den Angeklagten i.d.R. kein Verschulden, wenn die Nichteinhaltung der Ladungsfrist ursächlich für die Versäumung der Hauptverhandlung gewesen ist (OLG Brandenburg a.a.O.). Um einen Ladungsmangel handelt es sich z.B., wenn die Terminsladung eine widersprüchliche Zeitangabe enthält (OLG Frankfurt NStZ-RR 1996, 75) oder die Sache, die verhandelt werden soll, nicht angegeben ist (OLG Hamburg NStZ-RR 1998, 183 [für Bußgeldverfahren]). Die Wirksamkeit der Ladung wird von Amts wegen geprüft und ist positiv nachzuweisen; dabei kommt der Postzustellungsurkunde (nur) ein Indizwert zu (OLG Karlsruhe NJW 1997, 3183). Die Zustellung der Ladung an den Verteidiger ist nicht wirksam, wenn er nicht ausdrücklich zur Empfangnahme von Ladungen ermächtigt ist (OLG Dresden StV 2006, 8). Das gilt auch für den Pflichtverteidiger (OLG Köln StV 1996, 13; Burhoff, HV, Rn 806 ff.).

Zum Teil wird in der neueren Rechtsprechung davon ausgegangen, dass Ladungen eines ausländischen Angeklagten, denen eine Übersetzung nicht beigefügt ist, unwirksam sind (s. OLG Bremen NStZ 2005, 527; OLG Dresden StV 2009, 348; LG Bremen StraFo 2005, 29; LG Heilbronn StV 2011, 406 [Ls.]; a.A. BayObLG NJW 1996, 1836; OLG Hamm JMBl. NW 1984, 78; Beschl. v. 25.10.2016 – 3 RVs 72/16; OLG Köln StV 1996, 13; NStZ-RR 2015, 317; OLG Nürnberg NStZ-RR 2010, 286). Nr. 181 Abs. 2 RiStBV ist allerdings nur eine Empfehlung (BVerfG NJW 1983, 2762).

Hinweis:

In der Regel wird dem Beschuldigten in diesen Fällen jedenfalls aber Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§§ 44, 45 StPO) zu gewähren sein (s. OLG Frankfurt NStZ-RR 1996, 75; OLG Hamm a.a.O.; OLG Köln a.a.O.; s. auch BayObLG, a.a.O. [zum erforderlichen Vortrag der Revisionsrüge]).

III. Ausbleiben des Angeklagten

1. Aufruf der Sache

Die Berufung des Angeklagten darf/kann – unabhängig vom Vorliegen weiterer Voraussetzungen – nur verworfen werden, wenn der Angeklagte bei Beginn des Berufungshauptverhandlungstermins ausgeblieben ist (zu weiteren Voraussetzungen s. VI. und Teil 2, in: ZAP F. 22, S. 961 ff.). Beginn des Hauptverhandlungstermins ist nach §§ 324, 243 Abs. 1 S. 2 StPOauch bei einem sog. Fortsetzungstermin – der Aufruf der Sache (OLG Hamburg StraFo 2018, 69; Burhoff, HV, Rn 775 ff.; zum Sich-Entfernen des zunächst erschienenen Angeklagten s. unten IV.).

Hinweise:

Die Berufung kann nicht verworfen werden, wenn die Hauptverhandlung unabhängig vom Erscheinen des Angeklagten vertagt werden muss, weil also z.B. ein Fall notwendiger Verteidigung vorliegt und die Hauptverhandlung wegen krankheitsbedingter Verhinderung des Verteidigers nicht durchgeführt werden kann (OLG Köln StV 2016, 804 unter Hinw. auf den Normzweck des § 329 StPO).

Die Verwerfung der Berufung nach § 329 Abs. 1 StPO ist auch nicht zulässig, wenn der Angeklagte vom Erscheinen in der Hauptverhandlung entbunden war oder ggf. auf Antrag des Verteidigers in der Hauptverhandlung noch entbunden wird (OLG Braunschweig StV 2018, 152; s. auch Burhoff, HV, Rn 1572). Der Antrag gem. § 233 StPO, den Angeklagten vom Erscheinen in der (Berufungs-)Hauptverhandlung zu entbinden, ist auch noch am Beginn der Berufungshauptverhandlung möglich (BGHSt 25, 281; Meyer-Goßner/Schmitt, § 233 Rn 6 m.w.N.). Wird dem Antrag stattgegeben, braucht der Angeklagte sich auch nicht vertreten zu lassen (§ 234 StPO). Wird der Antrag abgelehnt, kann sofort nach § 329 Abs. 1 StPO verfahren werden; wird ihm stattgegeben, kann nicht nach § 329 StPO verfahren werden (OLG Braunschweig StV 2018, 152).

2. Verhandlungsunfähigkeit

Ausgeblieben/nicht erschienen ist der Angeklagte nicht nur, wenn er überhaupt nicht erschienen ist, sondern auch, wenn er zwar erschienen, jedoch wegen Verhandlungsunfähigkeit geistig abwesend ist, z.B. infolge Trunkenheit (BGHSt 23, 331; Meyer-Goßner/Schmitt, § 329 Rn 14 m.w.N.; zur Verhandlungsfähigkeit Burhoff, HV, Rn 3129; vgl. auch § 329 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 StPO und dazu unten IV. 2.). Das „Verschulden“ des Angeklagten an seiner Verhandlungsunfähigkeit muss jedoch feststehen (OLG Hamm, Beschl. v. 15.2.2007 – 3 Ss 573/06). Gegebenenfalls muss sich das Gericht also mit einer bekannten Alkoholabhängigkeit des Angeklagten auseinandersetzen (OLG Hamm a.a.O.).

3. „Bei Beginn eines Hauptverhandlungstermins“

In § 329 Abs. 1 S. 1 StPO heißt es „bei Beginn eines Hauptverhandlungstermins“. Das bedeutet, dass es sich anders als nach früherem Recht nicht um den ersten Berufungshauptverhandlungstermin in der anhängigen Sache handeln muss und somit z.B. auch das Nichterscheinen in einem Fortsetzungstermin erfasst wird (OLG Nürnberg StRR 8/2018, 3 [Ls.]; BT-Drucks 18/3562, 68; Deutscher StRR 2015, 284; Spitzer StV 2016, 48, 49). Die insoweit vorliegende Rechtsprechung zu § 329 Abs. 1 StPO a.F. (OLG Brandenburg zfs 2010, 347; OLG Hamm, Beschl. v. 26.6.2008 – 5 Ss 266/08; OLG Schleswig SchlHA 2010, 230 [Dö/Dr; für das Strafbefehlsverfahren]) ist nicht weiter anwendbar. Denn sie beruhte auf der alten Fassung des § 329 Abs. 1 StPO, in der es hieß „bei Beginn der Hauptverhandlung“.

IV. Sich-Entfernen aus der Hauptverhandlung

1. Allgemeines

§ 329 Abs. 1 S. 2 Nr. 1–3 StPO regelt ausdrücklich die Fälle, in denen der Angeklagte zwar zu Beginn des Berufungshauptverhandlungstermins (vgl. oben III. 3.) erschienen ist, danach aber ggf. die Voraussetzungen des „Ausbleibens“ angenommen werden könnten, z.B., weil sich der Angeklagte aus der Hauptverhandlung entfernt (hat). Nach der Rechtsprechung zu § 329 Abs. 1 StPO a.F. durfte in diesen Fällen die Berufung (noch) nicht verworfen werden (OLG Celle StV 1994, 365 m.w.N. [Angeklagter klagt erst während seiner Vernehmung zur Sache über Unwohlsein und „würgt“]; OLG Frankfurt NJW 2005, 2169 [Ls.; Trunkenheit des Angeklagten]).

Diese Fälle sind durch § 329 Abs. 1 S. 2 Nr. 1–3 StPO jetzt ergänzend zur Neufassung des § 329 Abs. 1 S. 1 StPO ausdrücklich durch zwingende Verwerfungstatbestände geregelt. Ihnen ist gemeinsam, dass es nach Beginn des Hauptverhandlungstermins zu einer Verhinderung der Fortführung des Termins kommt. Dieser Katalog von Verwerfungstatbeständen ist, was nicht ganz von der Hand zu weisen ist, in der Literatur als „überkompliziert“ bezeichnet worden (so Frisch NStZ 2015, 69, 71, 72; krit. auch Meyer-Goßner/Schmitt, § 329 Rn 16 ff.). Im Grunde handelt es sich aber um eine im Kern folgerichtige Übertragung des in § 329 Abs. 1 S. 1 StPO normierten Prinzips auf Sachverhalte, die nach Beginn des Berufungshauptverhandlungstermins in gleicher Weise deren Durchführung hindern (s. auch Deutscher StRR 2015, 284; abl. hingegen Frisch NStZ 2015, 69, 71 f., 74). Sie erfassen nämlich entweder ein Desinteresse des Angeklagten am Abschluss des Verfahrens (vgl. nachstehend Nr. 2, 3 sowie Nr. 1 bei Widerruf der Vollmacht seines Verteidigers) oder ein Verhalten des Verteidigers, das sich der Angeklagte aufgrund der erteilten Vertretungsmacht grundsätzlich zurechnen lassen muss (krit. insoweit Meyer-Goßner/Schmitt, § 329 Rn 16).

2. Verwerfungsfälle

Nach § 329 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 StPO ist die Berufung zu verwerfen, wenn sich bei unentschuldigt abwesendem Angeklagten (vgl. dazu Teil 2, in: ZAP F. 22, S. 962 [III.]) der Verteidiger unentschuldigt entfernt hat oder den Angeklagten nicht (weiter) vertritt. Letzteres betrifft zum einen den auch formlos möglichen Widerruf der Vollmacht durch den Angeklagten, zum anderen die Niederlegung des Mandats durch den Verteidiger oder seine Erklärung, den Angeklagten nicht weiter vertreten zu können oder zu wollen (Deutscher StRR 2015, 284; Spitzer StV 2016, 48, 51 f.; zur Vertretung des Angeklagten durch den Verteidiger s. unten V.).

Nach § 329 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 StPO ist die Berufung zu verwerfen, wenn sich der Angeklagte unentschuldigt entfernt hat und kein vertretungsbevollmächtigter Verteidiger (vgl. unten V.) anwesend ist. Statt wie früher eine Weiterverhandlung in Abwesenheit zu führen (§ 231 Abs. 1 StPO), hat nunmehr die Verwerfung der Berufung zu erfolgen. Entsprechendes gilt, wenn der Angeklagte nach einer Unterbrechung der Hauptverhandlung zu einem „Fortsetzungstermin“ nicht wieder erscheint (Meyer-Goßner/Schmitt, § 328 Rn 17; a.A. wohl aber offen, OLG Nürnberg StRR 8/2018, 3 [Ls.]; zum verspäteten Erscheinen OLG Bamberg VRR 2012, 276 für das Bußgeldverfahren) und kein Verteidiger mit schriftlicher Vertretungsvollmacht anwesend ist (Spitzer StV 2016, 48, 52). Die Berufung des zum Fortsetzungstermin (zunächst) erschienenen Angeklagten kann, wenn ein vertretungsberechtigter Verteidiger anwesend ist, dann aber nicht nach § 329 Abs. 4 S. 2 StPO verworfen werden, wenn sich der Angeklagte im Laufe des Fortsetzungstermins ohne genügende Entschuldigung entfernt (OLG Hamburg StraFo 2018, 69).

Nach § 329 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 StPO ist die Berufung schließlich zu verwerfen, wenn sich der Angeklagte vorsätzlich und schuldhaft in einen die Verhandlungsfähigkeit ausschließenden Zustand versetzt hat, und kein vertretungsbevollmächtigter Verteidiger (vgl. unten V.) anwesend ist. Auch hier hat statt einer Abwesenheitsverhandlung (§ 231a Abs. 1 StPO) die Verwerfung zu erfolgen. Der Zustand der Verhandlungsunfähigkeit kann auch erst während der Verhandlung eintreten oder sich herausstellen (Meyer-Goßner/Schmitt, § 329 Rn 18; Spitzer StV 2016, 48, 52 f.). Erfasst werden hier insbesondere die Fälle der Trunkenheit (BGHSt 23, 331; zum früheren Recht a.A. OLG Celle StV 1994, 365).

Hinweis:

Die Verwerfung nach Nr. 3 kann nach § 329 Abs. 2 S. 3 StPO nur nach Anhörung eines Arztes als Sachverständigen erfolgen.

V. Vertretung des Angeklagten

1. Strafbefehlsverfahren

Im Strafbefehlsverfahren kann sich der Angeklagte nach § 411 Abs. 2 S. 1 StPO auch in der Berufungshauptverhandlung durch einen Vertreter vertreten lassen, selbst wenn nach § 236 StPO das persönliche Erscheinen angeordnet worden ist (OLG Dresden StV 2005, 492 m.w.N.; OLG Düsseldorf StV 1985, 52). Das gilt allerdings nur, wenn das Verfahren durch einen Strafbefehl eingeleitet worden ist, also nicht im Fall des § 408 Abs. 3 S. 2 StPO (Meyer-Goßner/Schmitt, § 329 Rn 14 m.w.N.).

Hinweis:

Das gilt nicht in (sonstigen) Bagatellsachen (§ 232 StPO), wenn der Hinweis an den Angeklagten, dass ohne ihn verhandelt werden könne (§ 231 Abs. 1 S. 1 StPO), nicht erfolgt oder sein persönliches Erscheinen angeordnet worden ist.

2. Entwicklung der Rechtsprechung

Umstritten war in Rechtsprechung/Literatur, ob über die Zulässigkeit der Vertretung im Strafbefehlsverfahren hinaus eine Vertretung durch einen verteidigungsbereiten Vertreter/Verteidiger, der in der Hauptverhandlung anwesend ist, zulässig ist und ob das ggf. der Verwerfung der Berufung entgegenstand. Diese Fragen sind dann durch das „Gesetz zur Stärkung des Rechts des Angeklagten auf Vertretung in der Berufungshauptverhandlung und über die Anerkennung von Abwesenheitsentscheidungen in der Rechtshilfe v. 17.7.2015 in § 329 StPO geregelt worden (s. unten V. 3.).

Zu der Verwerfung der Berufung auch in den Fällen, in denen ein vertretungsbereiter Verteidiger in der Hauptverhandlung anwesend ist, hatte in den vergangenen Jahren mehrfach der EGMR Stellung genommen und hat in seiner Rechtsprechung immer wieder das Recht des Angeklagten, sich eines Verteidigers zu bedienen, betont (Art. 6 Abs. 3 Buchst. c EMRK; vgl. u.a. EGMR NJW 2001, 2387; HRRS 2009 Nr. 981; dazu Gundel NJW 2001, 2380; Meyer-Mews NJW 2002, 1928 Anm. zu EGMR m.w.N. zur EGMR-Rspr.). Anderer Ansicht waren in der innerstaatlichen Rechtsprechung die Obergerichte, die u.a. unter Hinweis auf die einen Konventionsverstoß ebenfalls ablehnende Rechtsprechung des BVerfG (StraFo 2007, 190) ebenfalls ausdrücklich einen Konventionsverstoß verneint haben, da es sich nicht um eine „Abwesenheitsverhandlung“ im Berufungsverfahren handele (vgl. u.a. BayObLG NStZ-RR 2000, 307; OLG Düsseldorf StV 2013, 299; OLG Hamm StRR 2012, 463). Dazu hatte sich der EGMR im Verfahren Neziraj noch einmal geäußert und die Abwesenheitsverwerfung nach § 329 Abs. 1 S. 1 StPO a.F. in diesen Fällen als einen Verstoß u.a. gegen Art. 6 Abs. 3 Buchst. c EMRK angesehen (s. NStZ 2013, 350 u.a. m. Anm. Püschel StraFo 2012, 490). In der Folgezeit haben dann – soweit ersichtlich – sämtliche OLG, die nach dem Urteil des EGMR vom 8.11.2012 (a.a.O.) entschieden haben – die Umsetzung dieser Rechtsprechung auf innerstaatliches Recht abgelehnt (vgl. KG, Beschl. v. 7.2.2014 – 161 Ss 5/14; OLG Brandenburg StraFo 2015, 70 m.w.N.; OLG Bremen StV 2014, 211; OLG Celle NStZ 2013, 615; OLG München NStZ 2013, 358 m. Anm. Gerst StRR 2013, 146). Diese OLG-Rechtsprechung hat die Literatur heftig kritisiert (vgl. u.a. Engel ZJS 2013, 327; Esser StV 2013, 331; Gerst NStZ 2013, 310; StRR 2013, 23 Anm. zu EGMR; Hüls/Reichling StV 2014, 242; Zehetgruber HRRS 2013, 397; Meyer-Goßner/Schmitt, § 329 Rn 15a; s. auch noch Burhoff StRR 2013, 388 Anm. zu OLG Bremen a.a.O.; zust. Mosbacher NStZ 2013, 312; diff. Ast JZ 2013, 780).

3. Gesetzliche Neuregelung

Das „Gesetz zur Stärkung des Rechts des Angeklagten auf Vertretung in der Berufungsverhandlung und über die Anerkennung von Abwesenheitsentscheidungen in der Rechtshilfe“ vom 17.7.2015 (vgl. BT-Drucks 18/3562) hat § 329 StPO zum 25.7.2015 geändert und an die Rechtsprechung des EGMR angepasst. Danach gilt nunmehr folgendes Regelungsgefüge:

Nach § 329 Abs. 1 und 2 StPO darf die Verwerfung der Berufung des Angeklagten grundsätzlich nicht mehr erfolgen, wenn statt des Angeklagten ein entsprechend bevollmächtigter und vertretungsbereiter Verteidiger in dem Berufungshauptverhandlungstermin erschienen ist. Anstelle der nicht mehr zulässigen Verwerfung wird in Anwesenheit des Verteidigers ohne den Angeklagten verhandelt, soweit nicht dessen Anwesenheit erforderlich ist (vgl. unten V. 5.; dazu – teilweise krit. – Frisch NStZ 2015, 69; Kunze ZAP F. 22, S. 819). Auch wenn die Neufassung des § 329 StPO kein Recht des Angeklagten auf Abwesenheit in der Berufungsverhandlung begründet hat (BT-Drucks 18/3562, S. 61), hat § 329 Abs. 1 S. 1 StPO die Vorgaben des EGMR umgesetzt. Denn: Lässt sich der unentschuldigt ausgebliebene Angeklagte zu Beginn eines Berufungshauptverhandlungstermins von einem erschienenen, mit schriftlicher Vertretungsvollmacht versehenen Verteidiger (vgl. nachfolgend V. 4.) vertreten, ist eine Verwerfung seiner Berufung im Grundsatz ausgeschlossen. Daran ändert auch die Anordnung des persönlichen Erscheinens (§§ 332, 236 StPO) nichts (BT-Drucks 18/3562, S. 70; Deutscher StRR 2015, 284).

Hinweise:

Die Berufung ist nach § 329 Abs. 1 S. 1 StPO hingegen zu verwerfen, wenn

  • sowohl der Angeklagte als auch der bevollmächtigte Verteidiger ausbleiben,
  • der unverteidigte Angeklagte nicht erscheint oder
  • der anwesende Verteidiger keine schriftliche/nachgewiesene Vertretungsvollmacht besitzt; durch das „Gesetz zur Einführung der elektronischen Akte in der Justiz und zur weiteren Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs“ vom 5.7.2017 (BGBl I, S. 2208), ist in § 329 StPO die Formulierung „schriftliche“ durch die „medienneutrale“ Formulierung (s. BT-Drucks 18/9416, S. 70 – „nachgewiesene“) ersetzt worden, was jedoch keine materiellen Auswirkungen hat.

Im Übrigen gelten die zwingenden Verwerfungsfälle des § 329 Abs. 1 S. 2 Nr. 1–3 (vgl. IV. 2.).

4. Schriftliche/nachgewiesene Vertretungsvollmacht des Verteidigers

Voraussetzung für die Beschränkung der Verwerfungskompetenz des Berufungsgerichts ist, dass der Angeklagte zu Beginn des Berufungshauptverhandlungstermins von einem mit schriftlicher/nachgewiesener Vertretungsvollmacht versehenen Verteidiger vertreten wird. Der bevollmächtigte Verteidiger muss zu Beginn des Hauptverhandlungstermins erscheinen, wobei es sich anders als bisher nicht um die erste Berufungsverhandlung in der anhängigen Sache handeln muss und ggf. auch das Nichterscheinen in einem Fortsetzungstermin erfasst wird (BT-Drucks 18/3562, 68).

a) Erscheinen des Verteidigers

Für die Vertretung des Angeklagten in einem (Berufungs-)Hauptverhandlungstermin reicht es grundsätzlich aus, dass der bevollmächtigte Verteidiger für den Angeklagten erscheint, er also körperlich im Sitzungssaal anwesend ist. Eine ausdrückliche Erklärung des mit einer schriftlichen Vertretungsvollmacht erschienenen Verteidigers, dass er für den Angeklagten in dessen Abwesenheit verhandeln wolle, setzt § 329 Abs. 1 StPO nicht voraus, es ist lediglich die Bereitschaft des Verteidigers hierzu erforderlich (OLG Hamm StV 2018, 150 m. Hinw. auf BT-Drucks 18/3562, S. 69; OLG Oldenburg StV 2018, 148 m. Anm. Burhoff StRR 9/2017, 14; Spitzer StV 20116, 48, 50; unzutreffend a.A. OLG Jena StraFo 2016, 417). Der Verteidiger muss also weder an der Verhandlung mitwirken noch Erklärungen zur Sache abgeben; vielmehr kann er sich darauf beschränken, anwesend zu sein und damit zu erkennen zu geben, dass er bereit ist, von den Rechten des Angeklagten in der Hauptverhandlung Gebrauch zu machen. Aus dem bloßen Schweigen des Verteidigers und dem Absehen von einer Antragstellung lässt sich nicht schließen, dass er nicht vertretungswillig ist; hierfür bedarf es vielmehr weiterer eindeutiger Indizien (KG StraFo 2010, 427; OLG Bremen StRR 2008, 148; OLG Oldenburg a.a.O.; Deutscher StRR 2015, 284) bzw. es müssen konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der Verteidiger es gar nicht zu einer Sachverhandlung kommen lassen will (OLG Hamm a.a.O.; OLG Oldenburg a.a.O.).

b) Vertretungsvollmacht

Vertreten werden muss der Angeklagte durch einen „Verteidiger mit schriftlicher Vertretungsvollmacht“.

Hinweis:

Aus der Formulierung „Verteidiger“ folgt, dass Vertreter des ausgebliebenen Angeklagten also nicht jeder Dritte sein kann und auch nicht ein als Beistand in der Berufungshauptverhandlung nach § 149 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 StPO zugelassener Ehegatte, Lebenspartner oder gesetzliche Vertreter eines Angeklagten oder ein nach § 69 Abs. 1 JGG durch das Gericht bestellter Beistand für einen jugendlichen Angeklagten (BT-Drucks 18/3562, S. 6).

Vertreter kann nach § 329 Abs. 1 S. 1 StPO nur derjenige sein, den der Angeklagte nach § 138 Abs. 1 und 2 StPO auch als Verteidiger wählen kann (vgl. dazu Burhoff, Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 8. Aufl. 2019, Rn 4132 ff.). Dieser muss mit einer sog. Vertretungsvollmacht ausgestattet sein (wegen der Einzelheiten zur Vertretungsvollmacht Burhoff, HV, Rn 3557 ff.). Das gilt auch für den erschienenen Pflichtverteidiger. Die diesem ggf. zuvor als Wahlverteidiger erteilte Vertretungsvollmacht ist mit der Bestellung zum Pflichtverteidiger erloschen (BGH NStZ 1991, 94; OLG Celle NStZ 2013, 615; OLG Düsseldorf StV 2013, 299; OLG Hamm StRR 2012, 463; zfs 2014, 470; OLG München VRR 2010, 393; Spitzer StV 2016, 48, 49).

Der Verteidiger muss mit einer schriftlichen Vertretungsvollmacht des Angeklagten ausgestattet sein und diese vorweisen bzw. diese muss „nachgewiesen“ sein (vgl. BT-Drucks 18/9416, S. 70; vgl. KG StRR 2015, 64 m. Anm. Hanschke zugleich auch zu den Anforderungen an die Revision; OLG Hamburg StV 2018, 151 [Ls.] m. Anm. Burhoff StRR 9/2017, 13; OLG Köln StraFo 2017, 237; vgl. auch – zum alten Recht – OLG Celle NStZ 2013, 615, 616; OLG Düsseldorf StV 2013, 299, 301; OLG Hamm StRR 2012, 463; OLG München NStZ 2013, 358 m. Anm. Gerst StRR 2013, 146; Mosbacher NStZ 2013, 312, 314).

Hinweis:

Nach h.M. (vgl. BayObLG NStZ 2002, 277; OLG Celle, Beschl. v. 20.1.2014 – 322 Ss Rs 24/13; OLG Dresden StRR 2013, 26; Meyer-Goßner/Schmitt, § 234 Rn 5; a.A. Mosbacher NStZ 2013, 312, 314; offen bei Hanschke StRR 2015, 64 Anm. zu KG StRR 2015, 64) genügte nach der Rechtsprechung zur § 329 StPO a.F. eine vom Verteidiger selbst aufgrund mündlicher Ermächtigung seines Mandanten unterzeichnete Vollmacht. Daran hat die Rechtsprechung zur Neuregelung (unter Hinweis auf die BT-Drucks 18/3562, S. 67) nicht festgehalten (vgl. KG StraFo 2018, 71; OLG Hamburg StV 2018, 151 [Ls.] m. Anm. Burhoff StRR 9/2017, 13; s. auch Spitzer StV 2016, 48, 49). Die Vollmacht kann sich aber aus einer schriftlichen Erklärung des Angeklagten gegenüber dem Gericht ergeben (BT-Drucks a.a.O.; Spitzer a.a.O.; so grundsätzlich auch OLG Köln StraFo 2017, 237). Nach Auffassung des OLG Köln (a.a.O.) reicht die Übermittlung per Telefax am Vortag der Hauptverhandlung nicht, wenn die schriftliche Vollmacht bis zu Beginn der Hauptverhandlung nicht zur Kenntnis des Gerichts gelangt ist und vom Verteidiger in der Hauptverhandlung auch nicht vorgelegt wird. Eine solche Vollmacht müsse dem Gericht schon bei Beginn der Verhandlung vorliegen. Ob das mit der neuen Formulierung „nachgewiesen“ vereinbar ist, erscheint fraglich.

5. Erforderlichkeit der Anwesenheit

a) Prüfungspflicht

In § 329 Abs. 2, Abs. 4 StPO ist eine Prüfungspflicht für das Berufungsgericht im Hinblick auf die Erforderlichkeit der Anwesenheit des Angeklagten in der Berufungshauptverhandlung normiert (dazu eingehend krit. Sommer StV 2016, 55; Spitzer StV 2016, 48, 53). Insoweit gilt: Wird der abwesende Angeklagte durch einen vertretungsbefugten Verteidiger vertreten und darf deshalb seine Berufung nicht verworfen werden, ergibt sich für das Berufungsgericht nach § 329 Abs. 2, 4 StPO eine Prüfungspflicht. Das Berufungsgericht muss nach § 329 Abs. 2 S. 1 StPO prüfen, ob die Anwesenheit des Angeklagten erforderlich ist:

· Anwesenheit nicht erforderlich: Die Hauptverhandlung findet ohne den Angeklagten statt (§ 329 Abs. 2 S. 1 1. Alt. StPO).

· Anwesenheit trotz Vertretung erforderlich: Das Berufungsgericht muss den Angeklagten zu einer Fortsetzung der Hauptverhandlung laden und sein persönliches Erscheinen anordnen (§ 329 Abs. 4 S. 1 StPO). Erscheint der Angeklagte dann in der neuen Hauptverhandlung unentschuldigt bei weiterbestehender Erforderlichkeit seiner Anwesenheit nicht, muss seine Berufung verworfen werden (§ 329 Abs. 4 S. 2 StPO). Nach dem eindeutigen Gesetzeswortlaut muss es sich bei dem neuen Termin um eine Fortsetzung der Hauptverhandlung handeln, die innerhalb der Fristen des § 229 StPO zu erfolgen hat. Über diese Möglichkeiten ist der Angeklagte mit der Ladung zu belehren (§ 329 Abs. 4 S. 3 StPO).

Hinweis:

Beim unverteidigten Angeklagten, der auf seine Berufung hin unentschuldigt nicht erscheint, erfolgt keine Prüfung der Erforderlichkeit, sondern nach § 329 Abs. 1 S. 1 StPO zwingend die Verwerfung seiner Berufung. Insoweit hat sich durch die Neuregelungen in § 329 StPO nichts geändert.

b) Erforderlichkeitsprüfung

Notwendig ist eine allgemeine Erforderlichkeitsprüfung durch das Gericht. Diese ist zwingend. Ursprünglich war vorgesehen, die Prüfungspflicht auf „besondere Gründe“ zu beschränken (BT-Drucks 18, 3562, S. 73 f.). Das hätte aber die Annahme nahegelegt, dass es sich bei § 329 Abs. 2 StPO um eine Ausnahmeregelung handelt (i.d.S. OLG Hamburg StV 2018, 145; Böhm NJW 2015, 3132, 3133; krit. Sommer StV 2016, 55 ff.). Um zu verdeutlichen, dass dies nicht der Fall ist, ist die Beschränkung auf „besondere Gründe“, die die Anwesenheit erforderlich machen, im Gesetzgebungsverfahren gestrichen worden (BT-Drucks 18/5254, S. 6). Bei der Auslegung der Vorschrift wird man allerdings die Gesetzesbegründung zu den zunächst vorgesehenen „besonderen Gründen“, die die Anwesenheit des Angeklagten „erfordern“ sollten (vgl. BT-Drucks 18, 3562, S. 73 f.), heranziehen können. Denn in den Fällen ist nach der nun schwächeren Formulierung die Anwesenheit des Angeklagten auf jeden Fall auch erforderlich.

Hinweis:

Die mit dem Prüfungserfordernis verbundene bzw. aus ihm folgende gestreckte Verfahrensgestaltung (vgl. Deutscher StRR 2015, 294) hat im Übrigen zur Folge, dass bei Annahme der Erforderlichkeit eine Vorführung oder Verhaftung des Angeklagten statt der Fortsetzung der Hauptverhandlung nur bei einer Berufung der Staatsanwaltschaft oder nach Zurückverweisung durch das Revisionsgericht vorgesehen ist (§ 329 Abs. 3 StPO).

Das Berufungsgericht darf im Übrigen auch nicht die Anwesenheit des Angeklagten schon allein deshalb für erforderlich erachten, um dann nach § 329 Abs. 4 StPO zu verfahren und bei einer erneuten Säumnis des Angeklagten die Berufung verwerfen zu können (Deutscher StRR 2015, 284). Das wäre eine Umgehung des mit der Neuregelung verfolgten Sinn und Zweck (dazu auch Sommer StV 2016, 55; Gerson StV 2018, 146 Anm. zu OLG Hamburg StV 2018, 145).

In § 329 Abs. 2, Abs. 4 StPO ist keine Regelung dazu getroffen, wann und wie lange die Erforderlichkeitsprüfung stattzufinden hat. Obwohl eine insoweit klare Vorgabe fehlt, ist die Erforderlichkeitsprüfung nicht auf den Beginn der Berufungshauptverhandlung beschränkt, sondern während des gesamten Verlaufs der Verhandlung durchzuführen (BT-Drucks 18/5254, S. 6; Frisch NStZ 2015, 69, 71; Meyer-Goßner/Schmitt, § 329 Rn 15a). Das folgt im Übrigen auch schon daraus, dass § 329 StPO nicht mehr auf den „Beginn der Hauptverhandlung“ abstellt, sondern auf den Beginn eines Hauptverhandlungstermins. Es kann also die Anwesenheit des Angeklagten, die zu Beginn der Hauptverhandlung nicht erforderlich war, während des Laufs einer sich über mehrere Hauptverhandlungstermine erstreckenden Hauptverhandlung erforderlich werden bzw. geworden sein.

Hinweis:

§ 329 Abs. 2 S. 2 StPO stellt im Übrigen klar, dass die Möglichkeit, den Angeklagten nach § 231b StPO wegen ordnungswidrigen Benehmens aus dem Sitzungszimmer zu entfernen oder zur Haft abzuführen (§ 177 GVG) und nach der dortigen Maßgabe ohne ihn weiter zu verhandeln, unbeschadet von § 329 StPO, der über § 332 StPO anwendbar ist.

c) Prüfungskriterien/-maßstäbe

Auszugehen ist von folgenden Prüfungskriterien (vgl. auch Burhoff, HV, Rn 834): Die Prüfung der Erforderlichkeit der Anwesenheit muss sich allgemein zunächst an der Aufklärungspflicht des Gerichts (§ 244 Abs. 2 StPO) ausrichten, wobei materiell- und verfahrensrechtliche Kriterien von Bedeutung sein können (weitergehend auf der Grundlage des ursprünglichen Entwurfs „besondere Gründe“ Frisch NStZ 2015, 73, wonach die Anwesenheit in aller Regel „unverzichtbar“ sein soll; s. auch Meyer-Goßner/Schmitt, § 329 Rn 15; Sommer StV 2016, 55). Sehr weit geht das OLG Hamburg (StV 2018, 145), das die Anwesenheit des Angeklagten stets für erforderlich hält, wenn die Aufklärung irgendeines für die Schuld- und Straffrage bedeutsamen Umstandes in Rede steht.

Die Erforderlichkeit der Anwesenheit (vgl. auch Deutscher StRR 2015, 284; Spitzer StV 2016, 48, 53 f.; Meyer-Goßner/Schmitt, § 329 Rn 36) kann sich etwa ergeben im Bereich der Beweisaufnahme, wenn es um die Gegenüberstellung des Angeklagten mit Zeugen oder Mitangeklagten geht (vgl. zu § 231a StPO entsprechend SK-StPO/Schlüchter, § 231a Rn 13). Dabei nimmt die Erforderlichkeit ab, je mehr andere Beweismittel, insbesondere Sachbeweise vorhanden sind. Die Anwesenheit des Angeklagten ist ebenfalls erforderlich, falls sich die Erklärungen des vertretungsberechtigten Verteidigers für den Angeklagten zur Sache als lückenhaft oder widersprüchlich erweisen. Sie ist auch anzunehmen, wenn es auf den persönlichen Eindruck des Gerichts von der Person des Angeklagten ankommt, etwa bei der Strafaussetzung zur Bewährung (zu § 329 Abs. 2 StPO a.F. OLG Hamm StV 1997, 346; OLG Karlsruhe NStZ-RR 2004, 21).

Hinweis:

Die Anwesenheit des Angeklagten wird umso eher erforderlich, je höher die Straferwartung ist (BT-Drucks 18/3562, S. 74). Umgekehrt werden in Bagatellverfahren an die Annahme der Erforderlichkeit geringere Anforderungen gestellt werden können.

Die Erforderlichkeit wird hingegen zu verneinen sein, wenn von der Anwesenheit des Angeklagten eine weitere Sachaufklärung nicht zu erwarten ist (so schon zu § 329 Abs. 2 StPO a.F., u.a. OLG Stuttgart NStZ 1987, 377). Gleiches gilt, wenn es lediglich um Rechtsfragen geht, wie z.B. Verfahrenshindernisse, fehlende Verfahrensvoraussetzungen oder einen erstrebten Freispruch aus Rechtsgründen (Frisch NStZ 2015, 69, 71). Die Erforderlichkeit der Anwesenheit des Angeklagten entfällt aber nicht bereits dadurch, dass die Berufung auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt worden ist oder wird.

Hinweis:

Auch wenn der vertretungsberechtigte Verteidiger den Angeklagten in Willen und Erklärung vertreten darf, wird man die Anwesenheit auch dann für erforderlich ansehen müssen, wenn eine Verständigung nach §§ 332, 257c StPO im Raum steht. Nur so lassen sich die vom BVerfG (vgl. NJW 2013, 1058 m. Anm. Deutscher StRR 2013, 179) statuierten Beteiligungsrechte des Angeklagten und der Schutz seiner Selbstbelastungsfreiheit gewährleisten (ähnlich Frisch NStZ 2015, 69, 73).

VI. Berufung der Staatsanwaltschaft

1. Verhandlung ohne den Angeklagten

Handelt es sich um eine Berufung der Staatsanwaltschaft, kann nach § 329 Abs. 2 StPO ohne den Angeklagten verhandelt werden, wenn er „nicht genügend entschuldigt“ nicht erscheint (zum Haftbefehl s. BVerfG NJW 2001, 1341). Daran hat sich durch die Neuregelung des § 329 StPO nichts geändert. Allerdings sollen durch die Neufassung des § 329 Abs. 2 Alt. 2 StPO – „Abwesenheit nicht genügend entschuldigt“ – nun auch die Fälle des nachträglichen Sich-Entfernens und des Versetzens in einen verhandlungsunfähigen Zustand (§ 329 Abs. 1 S. 2 Nr. 2, 3 StPO; s. oben IV. 2.) erfasst werden (so BT-Drucks 18/3562, S. 72; Spitzer StV 2016, 48, 53 f.; krit. Deutscher StRR 2015, 284).

Hinweise:

Tritt für den Angeklagten ein vertretungsberechtigter Verteidiger auf, so gelten auch hier die für die Verwerfung des Angeklagten bei potenzieller Vertretung aufgestellten Grundsätze der Erforderlichkeitsprüfung (BT-Drucks 18/3562, S. 74; s. dazu V. 5.). Gerade in diesen Fällen muss der Verteidiger darauf achten, ob nicht ggf. die sich aus § 244 Abs. 2 StPO ergebende Aufklärungspflicht des Gerichts eine Verhandlung in Anwesenheit des Angeklagten erforderlich macht. Das wird insbesondere dann der Fall sein, wenn sich das Gericht einen persönlichen Eindruck vom Angeklagten verschaffen muss, so z.B. bei einer Strafmaßberufung der Staatsanwaltschaft (BayObLG DAR 1987, 315 [Rüth]; OLG Hamm StV 1997, 346; OLG Karlsruhe NStZ-RR 2004, 21; OLG Köln StraFo 2011, 360).

2. Vorführung/Verhaftung

Nach § 329 Abs. 3 Alt. 1 StPO ist gegen den ausgebliebenen Angeklagten die Vorführung oder Verhaftung anzuordnen, wenn bei einer Berufung der Staatsanwaltschaft nicht ohne ihn verhandelt werden kann. Die Vorführung des Angeklagten dürfte im Übrigen auch dann grundsätzlich zulässig sein, wenn allein der Nebenkläger Berufung eingelegt hat (OLG Köln NStZ 2014, 296). Die Zwangsmaßnahmen stehen allerdings unter dem Vorbehalt, dass sie zur Durchführung der Hauptverhandlung geboten sind. Bei der Entscheidung der Frage, ob die Anwesenheit des Angeklagten in der Verhandlung über eine Berufung der Staatsanwaltschaft erforderlich ist, steht dem Berufungsgericht ein Beurteilungsspielraum zu, dessen Ausfüllung (im Beschwerdeverfahren) nur eingeschränkt zu überprüfen ist (KG, Beschl. v. 12.7.2017 – 4 Ws 115/17). Der Erlass eines Haftbefehl nach § 329 Abs. 3 StPO setzt nicht voraus, dass der Angeklagte zunächst unter Anordnung seines persönlichen Erscheinens zu einem Fortsetzungstermin geladen wurde (KG a.a.O.).

3. Informationspflicht

In § 329 Abs. 5 S. 1 StPO ist eine Informationspflicht des Gerichts vorgesehen, falls nach § 329 Abs. 2 S. 1 Alt. 2 StPO über eine Berufung der Staatsanwaltschaft ohne Angeklagten und vertretungsbefugten Verteidiger verhandelt worden ist. Hiernach hat der Vorsitzende, solange mit der Verkündung des Urteils noch nicht begonnen worden ist, einen erscheinenden Angeklagten oder vertretungsberechtigten Verteidiger von dem wesentlichen Inhalt dessen zu unterrichten, was in seiner Abwesenheit verhandelt worden ist. Die Regeln zu § 247a StPO dürften entsprechend gelten (vgl. dazu Burhoff, HV, Rn 1608 ff.).

4. Rücknahme der Berufung

Nach § 329 Abs. 5 S. 2 StPO ist die Rücknahme der Berufung der Staatsanwaltschaft abweichend von § 303 StPO auch ohne Zustimmung des unentschuldigt ausgebliebenen Angeklagten zulässig. Eine Ausnahme gilt, wenn nach Zurückverweisung durch das Revisionsgericht verhandelt wird (§ 329 Abs. 5 S. 2 Hs. 2 StPO). Wegen der Bezugnahme auf § 329 Abs. 1 StPO gilt das aber nur, wenn auch kein vertretungsbefugter Verteidiger anwesend ist. Erweitert wird diese Möglichkeit auf das nachträgliche Sich-Entfernen von dem Angeklagten bzw. seinem Verteidiger oder falls der Verteidiger den Angeklagten nicht weiter vertritt (Spitzer StV 2016, 48, 55).


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