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Rechtsprechung

Aktenzeichen: 2 Ws 221/09 OLG Hamm

Leitsatz: Einem Verurteilten arabischer Herkunft ist das gerichtliche Anhörungsschreiben zum Widerruf einer Bewährungsstrafe aufgrund erneuter Straffälligkeit innerhalb der Bewährungszeit in arabischer Sprache zu übersenden, wenn er im Rahmen des Antrags auf Pflichtverteidigerbeiordnung vorträgt, dass er der deutschen Sprache nicht hinreichend mächtig sei.

Senat: 2

Gegenstand: Beschwerde

Stichworte: Bewährungswiderruf; Anhörung; schwache Deutschkenntnisse

Normen: GG Art. 103; StGB 56f ; StPO 453

Beschluss:

Strafsache in pp.
wegen Diebstahls im besonders schweren Fall,
(hier: sofortige Beschwerde gegen den Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung).
Auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten vom 19. Juni 2009 gegen den Beschluss der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Hagen vom 05. Juni 2009 hat der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm durch nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft am 25. 08. 2009 beschlossen:
I. Auf die sofortige Beschwerde wird der Beschluss der Strafvollsteckungskammer des Landgerichts Hagen vom 05. Juni 2009 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Behandlung und Entscheidung – auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens – an die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Hagen zurückverwiesen.
II. Die Entscheidung über den Antrag auf Pflichtverteidigerbeiordnung bleibt der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Hagen vorbehalten.
Gründe:
I.
Der Verurteilte ist durch seit dem 20. August 2007 rechtskräftiges Urteil des Amtsgerichts München ( 812 Ds 236 Js 2221131/07 ) vom selben Tage wegen eines Diebstahls im besonders schweren Fall zu einer Freiheitsstrafe in Höhe von drei Monaten mit Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt worden. Durch Beschluss vom selben Tage hat das Amtsgericht München die Bewährungszeit auf zwei Jahre festgesetzt.
Der Verurteilte wurde innerhalb der Bewährungszeit erneut straffällig. Er wurde durch seit dem 30. Juni 2008 rechtskräftiges Urteil des Amtsgerichts Iserlohn vom 15. April 2008 – 5 Ls 201 Js 351/07 – 5/08 – wegen räuberischen Diebstahls, Diebstahls geringwertiger Sachen und gemeinschaftlichen Diebstahls in sechs Fällen, wovon es in zwei Fällen beim Versuch blieb, (Tatzeiten: 31. August 2007 bis 14. Dezember 2007) zu einer vollstreckbaren Gesamtfreiheitsstrafe in Höhe von einem Jahr und acht Monaten und ferner durch seit dem 19. Februar 2009 rechtskräftiges Urteil des Amtsgerichts Hamm vom 17. Oktober 2009 – 9 Ls 139 Js 1798/08 – 210/08 – wegen eines am 14. August 2008 zur Finanzierung seiner Drogensucht begangenen gemeinschaftlichen Diebstahls zu einer vollstreckbaren Freiheitsstrafe in Höhe von einem Jahr verurteilt. Für das zuletzt genannte Verfahren befand sich der Verurteilte nach seiner vorläufigen Festnahme am 14. August 2008 seit dem 15. August 2008 bis zum 27. November 2008 in Untersuchungshaft. Vom 28. November 2008 an verbüßte er bis zum 06. März 2009 Strafhaft aus dem Urteil des Amtsgerichts Iserlohn vom 15. April 2008, seit dem 07. März 2009 befindet er sich in Strafhaft für das Verfahren 139 Js 1798/08 V der Staatsanwaltschaft Hagen (Urteil des Amtsgerichts Hamm vom 17. Oktober 2008). Seit dem 17. März 2009 befindet er sich durchgehend in der Justizvollzugsanstalt Schwerte, in die er aus der Justizvollzugsanstalt Siegen verlegt worden war.
Aufgrund der neuerlichen Verurteilungen des Verurteilten beantragte die Staatsanwaltschaft München I unter dem 06. April 2009 – wohl in Unkenntnis seiner zwischenzeitlichen Verlegung – bei der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Siegen den Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung. Der Antrag ging am 14. April 2009 bei dem Landgericht Siegen ein. Durch Verfügung vom 28. April 2009 verneinte die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Siegen unter Rücksendung des Bewährungsheftes ihre örtliche Zuständigkeit. Daraufhin richtete die Staatsanwaltschaft München I ihren Widerrufsantrag vom 06. April 2009 an die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Hagen, wo dieser mit dem Bewährungsheft am 11. Mai 2009 einging. Mit in deutscher Sprache verfasstem Schreiben vom 13. Mai 2009 hörte die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Hagen den Verurteilten daraufhin schriftlich zu dem beantragten Widerruf an. Nachdem der Verfolgte darauf nicht reagiert hatte, widerrief die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Hagen die Strafaussetzung zur Bewährung aus dem Urteil des Amtsgerichts München vom 20. August 2007 durch den angefochtenen Beschluss vom 05. Juni 2009 aufgrund der erneuten Straffälligkeit des Verurteilten innerhalb der Bewährungszeit. Gegen diesen, ihm am 15. Juni 2009 zugestellten Beschluss hat der Verurteilte durch per Telefaxschreiben am 19. Juni 2009 bei dem Landgericht Hagen eingegangenen anwaltlichen Schriftsatz vom selben Tage sofortige Beschwerde eingelegt und gleichzeitig beantragt, ihm Rechtsanwalt G. in Dortmund als Pflichtverteidiger beizuordnen. Zur Begründung des Beiordnungsantrages hat der Verurteilte im Wesentlichen ausgeführt, er sei der deutschen Sprache nicht hinreichend mächtig und nicht in der Lage sich angemessen zu verteidigen, da er die in dem angefochtenen Beschluss enthaltenen juristischen Begründungen nicht zu verstehen vermöge. Zur Begründung der sofortigen Beschwerde wird im Wesentlichen angeführt, der Widerruf sei „unzulässig“, da die Widerrufsvoraussetzungen bereits vor mehreren Monaten vorgelegen hätten. Zudem sei eine Verlängerung der Bewährungszeit ausreichend. Wegen der weiteren Einzelheiten der Begründungen wird auf den anwaltlichen Schriftsatz vom 19. Juni 2009 Bezug genommen.
Die Generalstaatsanwaltschaft in Hamm hat unter dem 12. August 2009 Stellung genommen und beantragt, den angefochtenen Beschluss mangels örtlicher Zuständigkeit der Strafvollsteckungskammer des Landgerichts Hagen aufzuheben und zur erneuten Behandlung und Entscheidung an die Strafvollsteckungskammer des Landgerichts Siegen zu verweisen.
II.
Die gemäß § 453 Abs. 2 StPO, § 56f StGB statthafte und fristgerecht eingelegte sofortige Beschwerde ist zulässig und hat auch in der Sache vorläufig Erfolg.
Zwar war die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Hagen für die Entscheidung über den Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung gemäß § 462a Abs. 1 S. 1 StPO örtlich zuständig, da sich der Verurteilte seit dem 17. März 2009 durchgehend und damit auch im Zeitpunkt des Eingangs des Widerrufsantrags der Staatsanwaltschaft München I bei dem Landgericht Siegen – dem Zeitpunkt des „Befasstseins“ im Sinne des § 462a Abs. 1 S. 1 StPO (vergleiche dazu: BGH, Beschluss vom 03. Dezember 2004 – 2 ARs 377/042 AR 237/04 –, zitiert nach juris Orientierungssatz 2.) – am 14. April 2009 in Strafhaft in der Justizvollzugsanstalt Schwerte befand. Dies hat eine im Wege des Freibeweises durchgeführte telefonische Nachfrage des Senats in der Vollzugsgeschäftsstelle der Justizvollzugsanstalt Schwerte vom 21. August 2009 ergeben.
Indes ist der angefochtene Widerrufsbeschluss wegen einer Gehörsverletzung (Art. 103 Abs. 1 GG) mangels wirksamer Anhörung gemäß § 453 Abs. 1 S. 2 StPO aufzuheben.
Die gemäß § 453 Abs. 1 S. 2 StPO grundsätzlich zwingend vorgesehene Anhörung des Verurteilten soll ihm Gelegenheit geben, sich zu der von der Staatsanwaltschaft beantragten oder vom Gericht beabsichtigten nachteiligen Entscheidung umfassend zu äußern (Meyer-Goßner, StPO, 52. Aufl., § 453 Rn. 6). Sie gewährleistet damit seinen Anspruch auf rechtliches Gehör, der in Art. 103 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich verbürgt ist und dessen Verletzung mit der Verfassungsbeschwerde gerügt werden kann (Meyer-Goßner, StPO, 52. Aufl., § 33a Rn. 1).
Aus dem Umkehrschluss des § 453 Abs. 1 S. 3 StPO ergibt sich zwar, dass bei dem Widerruf aufgrund erneuter Straffälligkeit des Verurteilten innerhalb der Bewährungszeit (§ 56f Abs. 1 Nr. 1 StGB) grundsätzlich eine – wie vorliegend durchgeführte – schriftliche Anhörung vor der Entscheidung über den Widerruf ausreicht, um dem Verurteilten rechtliches Gehör zu gewähren. Allerdings ist dem Verurteilten das gerichtliche Anhörungsschreiben – soweit ersichtlich – ausschließlich in deutscher Sprache übersandt worden. Demgegenüber hat der Verurteilte im Rahmen des Antrags auf Pflichtverteidigerbeiordnung vorgetragen, er sei der deutschen Sprache nicht hinreichend mächtig, ohne dass sich aus den dem Senat zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen etwas anderes ergäbe. Vielmehr hat eine am 21. August 2009 im Freibeweisverfahren durchgeführte telefonische Anfrage des Senats bei dem Amtsgericht Dortmund, vor dem der Verurteilte am 20. August 2009 – nicht rechtskräftig – wegen Diebstahls zu dem dortigen Aktenzeichen 720 Ds 206 Js 1916/08 – 192/09 – zu einer vollstreckbaren Freiheitsstrafe in Höhe von sechs Monaten verurteilt worden ist, ergeben, dass die Hauptverhandlung dort unter Hinzuziehung eines Dolmetschers für die arabische Sprache durchgeführt worden ist.
Dass der Verurteilte nach Zustellung des Widerrufsbeschlusses darauf durch die anwaltliche Beschwerdeschrift vom 19. Juni 2009 reagiert hat, führt nicht zu einem anderen Ergebnis. Allein daraus kann nicht geschlossen werden, dass der Verurteilte das gerichtliche Anhörungsschreiben beziehungsweise des Widerrufsbeschluss inhaltlich – in vollem Umfang – verstanden hat. Vor diesem Hintergrund hatte der Verurteilte aufgrund des ausschließlich in deutscher Sprache übersandten Anhörungsschreibens vom 13. Mai 2009 nicht ausreichend Gelegenheit, sich zu dem beantragten Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung zu äußern. Vielmehr ist zu besorgen, dass er den Inhalt des Schreibens gar nicht oder nur unvollständig verständen hat.
Für (Rechtsmittel-)Belehrungen ist wegen der besonderer Bedeutung des Anspruchs auf rechtliches Gehör anerkannt, dass – schriftliche – Belehrungen, die der Gewährung des rechtlichen Gehörs dienen – grundsätzlich in einer dem Betroffenen verständlichen Sprache erteilt werden sollen (Meyer-Goßner, StPO, 52. Aufl., § 35a mit weiteren Nachweisen), auch wenn der ausländische Betroffene im Übrigen keinen Anspruch auf Aushändigung eines Belehrungsmerkblatts in seiner Sprache hat (Meyer-Goßner, StPO, 52. Aufl., § 35a Rn. 9 mit weiteren Nachweisen).
Dieser Gedanke ist nach dem Sinn des Anhörungserfordernisses aus § 453 Abs. 1 S. 2 StPO nach der Ansicht des Senats auf – schriftliche – Anhörungen nach § 453 Abs. 1 S. 2 StPO zu übertragen. Ergeben sich daher Zweifel, ob der Verurteilte der deutschen Sprache in ausreichendem Umfang mächtig ist, muss das gerichtliche Anhörungsschreiben in eine ihm verständliche Sprache übersetzt werden – ebenso wie eine mündliche Anhörung nach § 453 Abs. 1 S. 3 StPO in diesem Fall unter Hinzuziehung eines Dolmetschers durchzuführen ist.
Der Widerrufsbeschluss war daher aufzuheben und die Sache zur erneuten Behandlung und Entscheidung an die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Hagen zurückzuverweisen. Diese wird ihm – im Falle einer schriftlichen Anhörung nach § 453 Abs. 1 S. 2 StPO – das Anhörungsschreiben in Form einer ihm verständlichen Übersetzung zukommen lassen, die gegebenenfalls bei dem Verteidiger oder der Justizvollzugsanstalt in Erfahrung gebracht werden kann.
Von einer Anhörung des Verurteilten durch den Senat mit anschließender eigener Sachentscheidung nach § 309 Abs. 2 StPO hat der Senat abgesehen, um dem Verurteilten nicht eine Instanz zu nehmen.
III.
Eine Kostenentscheidung war mangels abschließender Sachentscheidung des Senats nicht veranlasst.
IV.
Eine Entscheidung des Senats über die beantragte Pflichtverteidigerbeiordnung ist nach Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und Zurückverweisung nicht veranlasst. Diese bleibt der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Hagen vorbehalten, worauf die Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Stellungnahme vom 12. August 2009 bereits zutreffend hingewiesen hat.




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