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Rechtsprechung

Aktenzeichen: 4 Ws 114/10 OLG Hamm

Leitsatz: 1. Der Umstand fehlender Erprobung kann bei der Entscheidung über die Aussetzung einer Strafe grundsätzlich nicht unberücksichtigt bleiben. Dies gilt jedoch dann nicht, wenn die Versagung von Vollzugslockerungen ersichtlich rechtswidrig war (hier: Über zwei Jahre fehlende Entscheidung des JM über die Lockerung).2.
Nach Rechtskraft der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 17.12.2009 (Az.: 19359/04) am 11. Mai 2010 verstößt die Vollstreckung von Sicherungsverwahrung über den 10-Jahres-Zeitpunkt hinaus sowohl gegen Art. 5 EMRK als auch gegen Art. 7 EMRK.

Senat: 4

Gegenstand: Beschwerde

Stichworte: Sicherungsverwahrung, Aussetzung, Bewährung, fehlende Lockerungen, 10-Jahres-Frist, EGMR

Normen: StGB 67d, EMRK 7; EMRK 5

Beschluss:

In pp.
hat der 4. Strafsenat des Oberlandesgericht Hamm am 12.05.2010 beschlossen:

Die sofortige Beschwerde wird auf Kosten der Landeskasse verworfen.
G r ü n d e :
I.
Das Landgericht Bochum hat durch Urteil vom 4. Dezember 1990 den jetzt 58 jährigen Untergebrachten wegen schwerer räuberischer Erpressung in Tateinheit mit Vergewaltigung und sexueller Nötigung, wegen sexueller Nötigung in zwei Fällen und versuchter sexueller Nötigung in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 10 Jahren verurteilt und zugleich die Unterbringung in die Sicherungsverwahrung angeordnet. Die Strafe hat er bis zum 25. April 2000 verbüßt. Seit dem 26. April 2000 befindet er sich in der Maßregel der Sicherungsverwahrung. 10 Jahre waren daher am 25. April 2010 vollstreckt.
Seit September 2005 wir die Unterbringung in der Sozialtherapeutischen Anstalt in H vollzogen. Nach Durchlaufen der Erprobungsphase nahm der Verurteilte in der Folgezeit ab Januar 2006 an dem gesamten Therapieangebot der Anstalt teil. Die Behandlung verlief dort nach Einschätzung der Vollzugsbediensteten erfolgreich. Die Rückfallprognose wurde als "vorsichtig günstig" eingeschätzt. Zu einer noch günstigeren Prognose sah man sich nicht in der Lage, weil der Untergebrachte aufgrund einer fehlenden Entscheidung des Justizministeriums nicht weitergehend gelockert werden konnte. Die Vollzugskonferenz hatte sich bereits mit Beschluss vom 29.11.2007 für Lockerungen ausgesprochen. Das Ministerium hatte daraufhin erst unter dem 09.06.2008 – somit mehr als ein halbes Jahr später – die Sachverständige Prof. Dr. O mit der Erstellung eines Lockerungsgutachtens beauftragt. Dieses legte die Sachverständige erst weitere neun Monate später am 31.03.2009 vor. Ob sie zu einer zügigeren Erledigung seitens des Ministeriums angemahnt worden ist, lässt sich den Akten nicht entnehmen. Trotz des dann im März 2009 vorliegenden Gutachtens kam es zunächst zu keiner Entscheidung im Justizministerium über die Genehmigung von Lockerungen, obwohl dies durch die Strafvollstreckungskammer, wie im angefochtenen Beschluss dokumentiert, in der Zeit von Mai 2009 bis Oktober 2009 insgesamt sieben Mal angemahnt wurde. Erst im Februar 2010 genehmigte dann das Ministerium Lockerungen. Inzwischen hat der Untergebrachte 20 Ausgänge problemlos absolviert.
Nach Einholung eines weiteren Gutachtens der Sachverständigen Prof. Dr. O vom 31.03.2010 hat die Strafvollstreckungskammer mit dem angefochtenen Beschluss die durch Urteil des Landgerichts Bochum vom 4. Dezember 1990 angeordnete Maßregel der Sicherungsverwahrung gem. § 67 d III StGB für erledigt erklärt. Die Sachverständige war in ihrem Gutachten zu dem Ergebnis gelangt, dass die Wahrscheinlichkeit für gewalttätige Sexualstraftaten deutlich geringer geworden sei, so dass aus gutachterlicher Sicht zum jetzigen Zeitpunkt nicht mehr dieselbe Gefahr wie zum Zeitpunkt der Anordnung gesehen werden könne, dass die durch die Taten zu Tage getretene Gefährlichkeit fortbestehe. Auch die Gefahr von Eigentumsdelinquenz, wie der Verurteilte sie früher begangen habe, wurde als deutlich herabgesetzt eingeschätzt, da er sich von den entsprechenden dissozialen Einstellungen gelöst und ein prosoziales Wertesystem entwickelt habe. Aus gutachterlicher Sicht seien die Voraussetzungen für die Feststellung eines "Hanges" nicht mehr gegeben. Dem hat sich die Kammer nach eigener Prüfung angeschlossen.
Gegen diese Entscheidung wendet sich die Staatsanwaltschaft Bochum mit ihrer rechtzeitig eingelegten sofortigen Beschwerde. Sie macht im Wesentlichen geltend, dass es ein unvertretbares Risiko darstelle, den Untergebrachten, welcher seit dem 08.12.1978 nahezu andauernd – er befand sich nur in der Zeit vom 24.11.1988 bis zum 20.01.1990 auf freiem Fuß – inhaftiert worden sei, ohne vorherige ausreichende Erprobung zu entlassen. Durch das Gutachten der Sachverständigen vom 31.03.2010 sei auch nicht nachvollziehbar dargetan, aufgrund welcher Umstände diese zu dem Ergebnis gekommen sei, nicht nur eine negative Prognose abzulehnen, sondern sogar weitergehend eine positive Prognose abzugeben.
Die Generalstaatsanwaltschaft ist ohne eigene Begründung der sofortigen Beschwerde der Staatsanwaltschaft Bochum beigetreten.
II.
Die sofortige Beschwerde hat keinen Erfolg. Die Strafvollstreckungskammer hat nachvollziehbar dargelegt, warum derzeit nicht mehr festgestellt werden kann, dass die Gefahr besteht, dass der Untergebrachte infolge seines Hanges erhebliche Straftaten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden, § 67 d Abs. 3 StGB. Dabei hat sie sich eingehend mit dem Gutachten der Sachverständigen auseinandergesetzt. Insoweit nimmt der Senat auf die zutreffenden Ausführungen Bezug.
Entgegen der in der sofortigen Beschwerde geäußerten Ansicht der Staatsanwaltschaft Bochum kann auch nicht zur Begründung einer negativen Prognose auf die unterbliebenen Lockerungen in der Vergangenheit abgestellt werden. Denn die Versagungen dieser Vollzugslockerungen waren ersichtlich rechtswidrig. Das Justizministerium hat über zwei Jahre eine Entscheidung über diese Lockerungen nicht herbeigeführt. Eine Begründung für die lange Dauer ist weder ersichtlich noch wird sie mit der Beschwerde geltend gemacht. Unter Zugrundelegung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 30. April 2009 (2 BvR 2009/08 bei juris) war dies im Rahmen der Prüfung der Verhältnismäßigkeit der weiteren Vollstreckung zu berücksichtigen. Keinesfalls darf sich dieses Verhalten der Vollzugsbehörden zum Nachteil des Untergebrachten auswirken. Zwar kann der Umstand fehlender Erprobung bei der Entscheidung über die Aussetzung einer Strafe grundsätzlich nicht unberücksichtigt bleiben (BVerfG a.a.O. RN 39). Vorliegend ist jedoch zu berücksichtigen, dass es hier nicht um die Aussetzung der Vollstreckung, sondern um die Frage der Erledigung der Maßregel geht. Hier besteht bereits die gesetzliche Vermutung, dass die Gefährlichkeit des Untergebrachten nicht mehr besteht. Zweifelt das Gericht an der Wahrscheinlichkeit künftiger Straftaten, so ist zugunsten des Untergebrachten die Sicherungsverwahrung für erledigt zu erklären (vgl. BVerfG 2 BvR 2029/01, bei juris RN 111). Dies gilt um so mehr, wenn sich die Zweifel bezüglich der weiteren Gefährlichkeit aus Umständen ergeben, die von den Strafvollzugsbehörden zu vertreten sind.
Entscheidendes Gewicht kommt jedoch weiter dem Umstand zu, dass nach der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 17.12.2009
(Az.: 19359/04) der im Jahre 1998 angeordnete Wegfall der 10-Jahres-Frist für die erste Sicherungsverwahrung menschenrechtswidrig ist. Diese Entscheidung ist
seit dem 11. Mai 2010 rechtskräftig. Danach verstößt die Vollstreckung über den
10-Jahres-Zeitpunkt, der bei dem Untergebrachten bereits verstrichen ist, hinaus sowohl gegen Art. 5 EMRK als auch gegen Art. 7 EMRK. Denn zu dem Zeitpunkt,
als der Untergebrachte zur Sicherungsverwahrung verurteilt wurde, galt noch die
10-Jahres-Frist. Durch den im Jahre 1998 angeordneten Wegfall wurde gegen das Rückwirkungsverbot verstoßen, da nach der nachvollziehbaren Wertung des EGMR die Sicherungsverwahrung keine Maßregel, sondern eine "Strafe" im Sinne des Art. 7 EMRK darstellt (EGMR, Entscheidung vom 17. 12. 2009, BeckRS 2010, 01692 Rn.122 ff) . Ferner beruht die weitere Vollziehung nicht mehr auf dem ursprünglichen Urteil des Landgerichts Bochum, da dieses nur eine Sicherungsverwahrung für die Dauer von 10 Jahren angeordnet hatte, auch wenn dies sich nicht unmittelbar dem Tenor entnehmen lässt. Somit beruht die weitere Freiheitsentziehung nicht mehr auf einer Verurteilung "durch ein zuständiges Gericht", so dass sie nicht durch Art. 5 Abs. 1 2 a EMRK gerechtfertigt sein kann (EGMR aaO Rn 87 und 96).
Zwar wirkt die Entscheidung des EGMR unmittelbar nur zwischen dem Beschwerdeführer und der Bundesrepublik Deutschland; sie hat keine "erga omnes"-Wirkung für alle Untergebrachten, die sich nach Ablauf der 10-Jahres-Frist noch in der Unterbringung befinden. Dennoch müssen die Bundesrepublik und ihre staatlichen Organe – somit auch die Vollstreckungsgerichte – als verpflichtet angesehen werden, zu verhindern, dass es in gleichgelagerten Fällen zu einer entsprechenden Verletzung der EMRK kommt (vgl. Kinzig, NStZ 2010, 233, 238; LR-Gollwitzer, StPO, 25. Aufl., Verfahren MRK RN 77 d). Der Entscheidung kommt somit allgemeine Orientierungswirkung zu. Sie ist damit zumindest im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung, welche bei lang andauerndem Freiheitsentzug immer anzustellen ist (BVerfGE 109, 133, 159), zu berücksichtigen. Dies kann nur dazu führen, dass die Sicherungsverwahrung in diesen Fällen für erledigt zu erklären ist (so Kinzig a.a.O.).
Demnach war die sofortige Beschwerde mit der Kostenfolge aus § 473 StPO zu verwerfen.




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