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Rechtsprechung

Aktenzeichen: III-1 Vollz (Ws) 216/11 OLG Hamm

Leitsatz: Besondere Fluchtgefahr i.S.v. § 88 Abs. 1 StVollzG setzt eine an konkreten Anhaltspunkten belegte und individuelle zu beurteilende Fluchtgefahr voraus, die über die allgemein bei Gefangenen naheliegende Fluchtvermutung hinaus geht und auch die gemäß § 11 Abs. 2 StVollzG der Gewährung von Vollzugslockerungen entgegenstehende Fluchtgefahr übersteigt.

Die Fesselung von Strafgefangenen begründet aufgrund des hiermit verbundenen erheblichen Grundrechtseingriffs und ihres diskriminierenden Charakters regelmäßig ein besonderes Feststellungsinteresse i.S.v. § 115 Abs. 3 StVollzG

Senat: 1

Gegenstand: Beschwerde

Stichworte: Fesselung, Strafgefangener, Fluchtgefahr

Normen: StVollzG 88

Beschluss:

Beschluss
Strafvollstreckungssache
In pp.
hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 16.06.2011 beschlossen.

Die Rechtsbeschwerde wird zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zugelassen.
2. Der Beschluss des Landgerichts L vom 23.03.2011 wird aufgehoben.

3. Es wird festgestellt, dass die Fesselung der Betroffenen im Rahmen der Aus-führungen am 23., 24. und 25. Januar 2011 sowie während des Kranken-transportes am 25. Januar 2011
rechtswidrig war.
4. Die Kosten des Verfahrens einschließlich der notwendigen Auslagen der
Betroffenen trägt die Staatskasse. 5.
5. Der Gegenstandswert wird auf 3.000,00 € festgesetzt.
Gründe: I. Die x Jahre alte Betroffene verbüßt derzeit als Erstverbüßerin eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren wegen Steuerhinterziehung aus dem Urteil des Landgerichts L vom xxxx. (StA L). Nach den Feststellungen des angefochtenen Beschlusses war die in dem Urteil ursprünglich ausgesprochene Strafaussetzung zur Bewährung durch Beschluss des Amtsgerichts L vom 08.11.2005 wegen Verstoßes gegen Bewährungsauflagen (Schadenswiedergut-machung) widerrufen worden. Nachfolgend war der Betroffenen mit Blick auf ihre gesundheitliche Situation zunächst über mehrere Jahre mehrfach Strafaufschub gewährt worden. Nachdem nachfolgend indes die Versagung weiteren Strafauf-schubes gerichtlich bestätigt worden war, setzte sich die Betroffene im Jahr 2009 nach P ab und legte von dort medizinische Gutachten vor, die ihre Haft-unfähigkeit belegen sollten. Einem hierauf gestellten Auslieferungsersuchen der BRD gab die Republik P statt. Als dieses schließlich auch zwangsweise durchgesetzt werden sollte, tauchte die Betroffene zunächst unter. Sie stellte sich anschließend jedoch freiwillig den Deutschen Behörden. Zum Vollzug der Freiheitsstrafe stellte sich die Betroffene selbst am 13.12.2010 im JVK G. Nach ihrer Verlegung in die JVA L wurde die Betroffene wegen Blutdruckentgleisungen am 23.01.2011 in das G.hospital in L ausgeführt und am 24.01.2011 zunächst in die JVA L zurückverbracht. Noch am 24.01.2011 wurde die Betroffene erneut in das G.hospital in L zu weiteren Untersuchungen ausgeführt. Dort wurde am 25.01.2011 entschieden, die Betroffene in das JVK G zu verlegen. Während der Ausführungen in das G.hospital musste die Betroffene Fußfesseln tragen und war jeweils über Nacht mit Fußfesseln an das Krankenhausbett gefesselt. Der Transport in das JVK Fröndenberg wurde als Liegendtransport durchgeführt. Bei diesem wurde die Betroffene mit Gurten auf der Liege fixiert und zusätzlich mit Fußfesseln gefesselt. Während der gesamten Fahrt waren Justizvollzugsbeamte zugegen. Auf der Fahrt wurde der Krankenwagen in einen Verkehrsunfall verwickelt. Aufgrund dessen musste die Fahrt ca. 1 1/2 Stunden unterbrochen werden. Auch während dieser Zeit blieb die Betroffene an die Liege festgegurtet und mit Fußfesseln gefesselt.
Seit dem 03.02.2011 befindet sich die Betroffene im offenen Vollzug.
Mit ihrem am 01.02.2011 eingegangenem Antrag auf gerichtliche Entscheidung hat die Betroffene die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Fesselungen während der Ausführungen am 23., 24. und 25. Januar und während des Krankentransportes begehrt.
Der Leiter der JVA L ist dem Antrag entgegen getreten. Er hat u.a. die Ansicht vertreten, nach der Verlegung in den offenen Vollzug bestehe mangels Wieder-holungsgefahr kein Feststellungsinteresse mehr.
Mit dem angefochtenen Beschluss hat das Landgericht L Strafvollstreckungskammer - den Feststellungsantrag als unbegründet zurückgewiesen. Zur Begründung hat die Kammer ausgeführt, die vorliegend gemäß § 115 Abs. 5 StVollzG auf die Überprüfung von Ermessensfehlern beschränkte Prüfung der angeordneten Fesselungen lasse Ermessensfehler der JVA L nicht erkennen. Vielmehr sei die JVA L in Anbetracht des Umstandes, dass die Betroffene sich zunächst dem Strafvollzug habe entziehen wollen, zu Recht von erhöhter Fluchtgefahr i.S.v. § 88 Abs. 4 StVollzG ausgegangen. Dem Umstand, dass sich die Betroffene selbst zum Strafantritt gestellt habe, komme demgegenüber kein entscheidungsrelevantes Gewicht zu. Vielmehr sei die Einschätzung, die Verurteilte werde nach den ersten Hafterfahrungen die Ausführungen zur Flucht nutzen, nicht nur rechtsfehlerfrei möglich, sondern naheliegend gewesen.
Gegen diesen, der Betroffenen am 28.03.2011 zugestellten Beschluss 13 richtet sich ihre Rechtsbeschwerde vom 12.04.2011, eingegangen am 14.04.2011, mit der sie die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt. Sie macht geltend, die Strafvollstreckungskammer habe die Voraussetzungen für eine Fesselung während der Ausführungen und des Krankentransportes gem. §§ 88, 90 StVollzG rechtsfehlerhaft als gegeben angesehen. Insbesondere habe sie sich nicht mit den vorgetragenen gesundheitlichen Beeinträchtigungen der Betroffenen, welche die Annahme von Fluchtgefahr ausschlössen, auseinandergesetzt.
Das Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen als zuständige Aufsichtsbehörde beantragt, die Rechtsbeschwerde als unzulässig zu verwerfen.
II.
1.
Der Senat lässt die Rechtsbeschwerde zu, da dies zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung geboten ist (§ 116 Abs. 1 StVollzG). Die Strafvollstreckungskammer hat bei ihrer Entscheidung die Anforderungen, die nach allg. Meinung in Rechtsprechung und Literatur an die Rechtmäßigkeit einer Fesselung gem. §§ 88 Abs. 1, Abs. 4 und § 90 StVollzG zu stellen sind, rechtsfehlerhaft verkannt. Es ist zu befürchten, dass sich dieser Rechtsfehler ohne eine Entscheidung über die Rechtsbeschwerde bei künftigen gleichartigen Fällen wiederholt.
2. Die auch im übrigen zulässige, insbesondere form- und fristgerecht eingelegte Rechtsbeschwerde der Betroffenen hat schon auf die Sachrüge hin Erfolg.
2.1. Der vorliegende Feststellungsantrag der Betroffenen ist gem. § 115 Abs. 3 StVollzG zulässig. Die Betroffene hat ein berechtigtes Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit der Fesselung. Fesselungen stellen einen erheblichen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht gem. Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG dar (BVerfG B. v. 18.06.2007, 2 BvR 2395/06, zit. bei JURIS Rdnr 17). Sie begründen aufgrund ihres diskriminierenden Charakters daher regelmäßig ein besonderes Feststellungsinteresse i.S.v. § 115 Abs. 3 StVollzG (Senat B. v. 21.01.1988, 1 Vollz (Ws) 427/87, zit. bei JURIS Rdnr 12; OLG Celle NStZ 1991, 559 zit. bei JURIS; Arloth, 3. Aufl. § 115 Rdnr 8 m.w.N.). Auch im vorliegenden Fall gilt nichts anderes. Die Fesselung der Betroffenen bei den Ausführungen am 23., 24. und 25.01.2011 unter den Augen anderer Krankenhausinsassen und des dortigen Personals hatte vielmehr besonders diskriminierenden Charakter. Dies gilt auch und insbesondere für die Fixierung der Betroffenen auf die Trage während des Krankentransportes.
2.2. Die Fesselung der Betroffenen während der Ausführungen am 23.01., 24.01. und 25.01.2011 sowie während des Krankentransportes am 25.01.2011 war rechtswidrig.
Die Voraussetzungen für eine Fesselung der Betroffenen lagen schon nach dem Vorbringen der Justizvollzugsanstalt, welches sich die Strafvollstreckungskammer zu Eigen gemacht hat, nicht vor.
Gemäß § 88 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 6 StVollzG kann gegen einen Strafgefangenen die Fesselung als besondere Sicherungsmaßnahme angeordnet werden, wenn nach seinem Verhalten oder aufgrund seines seelischen Zustandes in erhöhtem Maße Fluchtgefahr besteht. Für den vorliegenden Fall der Ausführung und des Transports von Strafgefangenen ist nach § 88 Abs. 4 StVollzG die Fesselung auch dann zu-lässig, wenn aus anderen Gründen als denen des Absatzes 1 eine derartige Fluchtgefahr abzuleiten ist. Bei der Feststellung, ob in erhöhtem Maße Fluchtgefahr vorliegt, steht der Vollzugsbehörde ein Beurteilungsspielraum zu, da es sich um eine Prognoseentscheidung handelt (Arloth § 88 Rdnr 1 Calliess/Müller-Dietz 11. Aufl. § 88 Rdnr 2; OLG Koblenz B. v. 30.06.1999, 2 Ws 297/99, NStZ 2000, 28 467, zit. bei JURIS Rdnr 4). Die Prognoseentscheidung ist in entsprechender Anwendung des § 115 Abs. 5 StVollzG nur darauf zu überprüfen, ob die Vollzugsbehörde von einem zutreffend oder vollständigen Sachverhalt ausgegangen ist und ihrer Entscheidung den richtigen Begriff der Eingriffsvoraussetzung zugrunde gelegt und die Grenzen des Beurteilungsspielraums eingehalten hat (Vgl. OLG Frankfurt a.M. B. v. 26.02.2002, 3 Ws 132/02 (StVollz), NStZ-RR 2002, 155, JURIS Rdnr 2; Arloth § 115 Rdnr 16, jew. m.w.N.). Vorliegend haben die Vollzugsbehörde und auch die Strafvollstreckungskammer den Begriff der "besonderen Fluchtgefahr" verkannt. Nach allgemeiner Ansicht in Rechtsprechung in Kommentarliteratur bedeutet die qualifizierte erhöhte Fluchtgefahr gem. § 88 Abs. 1 StVollzG eine an konkreten Anhaltspunkten belegte und individuell zu beurteilende Fluchtgefahr, die über die allgemein bei Gefangenen naheliegende Fluchtvermutung hinaus geht und auch die gemäß § 11 Abs. 2 StVollzG der Gewährung von Vollzugslockerungen entgegenstehende Fluchtgefahr übersteigt (OLG Koblenz a.a.O.; OLG Karlsruhe B. v. 16.06.1993, 2 Ws 201/92, MDR 1993, 1114, JURIS Rdnr 16; Arloth § 88 Rdnr 2; Calliess/Müller-Dietz § 88 Rdnr 2, jew. m.w.N.). Es muss sich immer um eine im Zeitpunkt der Entscheidung nach dem möglichen Stand der Ermittlungen erkennbare, substantiierte und mit konkreten Anhaltspunkten belegbare Gefahr handeln, die aus dem Verhalten des Gefangenen zu entnehmen ist (OLG Koblenz a.a.O.; OLG Karlsruhe a.a.O.). Befürchtungen, Vermutungen oder gar nur ein bloßer Verdacht genügen hierzu nicht (OLG Koblenz a.a.O.; OLG Karlsruhe, a.a.O., m.w.N.).
Eine solche mit konkreten Anhaltspunkten belegbare erhöhte Fluchtgefahr bestand vorliegend nicht. Soweit die Strafvollstreckungskammer, der Stellungnahme des Leiters der Justizvollzugsanstalt L folgend, die Fluchtgefahr mit dem Verhalten der Betroffenen vor ihrer Selbststellung begründet, belegt schon die Selbststellung, dass sich die Betroffene der Vollstreckung der Strafe gerade nicht mehr entziehen wollte. Soweit die Kammer die Annahme besonderer Fluchtgefahr auf die erlebten ersten Hafterfahrung der Betroffenen stützt, stellt sie hiermit ausschließlich auf die bei Gefangenen allgemein naheliegende Fluchtvermutung ab. Diese reicht indes, wie ausgeführt, für die Annahme erhöhter Fluchtgefahr gerade nicht aus.
Insgesamt sind Anhaltspunkte, welche eine erhöhte Fluchtgefahr i.S.v. 34 § 88 Abs. 1 StVollzG begründen könnten, nicht festgestellt, von der Justizvollzugsanstalt nicht behauptet und auch sonst nicht im Ansatz erkennbar.
2.3. Die Fixierung der Betroffenen während des Krankentransportes am 25.01.2011 auf der Trage war unabhängig von dem zu 2.2. Ausgeführten auch deshalb und offensichtlich rechtswidrig, weil solche Fesselungsmaßnahmen gem. § 90 S. 2 StVollzG allein im Interesse des Gefangenen erfolgen dürfen. Dieser, gegenüber der Fesselung nach § 90 S. 1 StVollzG erheblich stärkere Eingriff, ist nur dann zulässig, wenn die Art der Fesselung geboten und geeignet ist, den Gefangenen vor erheblichen Selbstverletzungen zu bewahren (Arloth § 90 Rdnr 3). Anhaltspunkte für die Zulässigkeit dieser Art der Fixierung waren vorliegend auch nicht im Entferntesten erkennbar, die Anordnung erfolgte damit offensichtlich willkürlich.
3. Der angefochtene Beschluss war daher aufzuheben. Da die Sache spruchreif ist und weitergehende Feststellungen nicht zu erwarten sind, konnte der Senat in der Sache selbst entscheiden (§§ 119 Abs. 4 S. 2, 115 Abs. 3 StVollzG).
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 121 StVollzG, die Wertfestsetzung 40 auf §§ 60, 52 Abs. 1 GKG. In Anbetracht des erheblichen Eingriffs in die Rechte der Betroffenen und der Dauer der Fesselung erachtet der Senat einen Gegenstandswert von 3.000,00 € vorliegend für angemessen.



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