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Rechtsprechung

Aktenzeichen: 1 VAs 58/11 OLG Hamm

Leitsatz: 1. Der Gesetzgeber hat die Möglichkeit, bei ausländischen Straftätern von der Strafvollstreckung abzusehen, nicht im Interesse dieses Täterkreises, sondern ausschließlich aus fiskalischen Interessen geschaffen, um den Staat „in vertretbaren Rahmen von der Last der Strafvollstreckung zu befreien“.
2. Diese Motive schließen nicht aus, die persönlichen Verhältnisse und Belange des Verurteilten zu berücksichtigen; diese stehen aber nicht im Vordergrund.

Senat: 1

Gegenstand: Justizverwaltungssache

Stichworte: Abschiebung, Vollstreckung, Absehen, ausländischer Verurteilter

Normen: StPO 456a

Beschluss:

Justizverwaltungssache
betreffend pp.
wegen Rechtmäßigkeit von Maßnahmen der Justizbehörden
(hier: Entscheidung nach § 456a StPO)
Auf den Antrag des Betroffenen vom 25.07.2011 auf gerichtliche Entscheidung nach den §§ 23 ff EGGVG gegen den Bescheid der Staatsanwaltschaft Dortmund vom 26.05.2011 in der Form des Beschwerdebescheids des Generalstaatsanwalts in Hamm vom 11.07.2011 hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 13.10.2011 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht, den Richter am Oberlandesgericht und den Richter am Amtsgericht nach Anhörung des Generalstaatsanwalts und des Betroffenen beschlossen:

Der Antrag wird auf Kosten des Betroffenen als unbegründet verworfen. Der Geschäftswert wird auf 2.500,-- € festgesetzt.
Gründe:
Der Betroffene ist durch Urteil des Landgerichts Dortmund vom 08.04.1999 wegen Mordes, versuchter schwerer räuberischer Erpressung und wegen versuchten Woh nungseinbruchdiebstahls zu einer lebenslangen Gesamtfreiheitstrafe verurteilt wor den.
Der Verurteilung hinsichtlich des Wohnungseinbruchdiebstahls lag zugrunde, dass der Betroffene sich mit dem Zeugen X. in der Nacht vom 03.09.1998 zum 04.09.1998 zu einem Wohnungseinbruch verabredete. Der Betroffene ging da- von aus, dass niemand in der Wohnung sei und dass dort eine größere, nicht genau bekannte Menge Geld zu finden sei, die nach der Absprache mit dem Zeugen X. hälftig geteilt werden sollte. Der Betroffene versuchte zunächst die Wohnungstür mit Gewalt aufzudrücken, was ihm nicht gelang. Darauf schlug entweder der Betroffene oder der Zeuge C. einen in der Tür befindlichen Fenstereinsatz ein Als der Betroffene durch das Loch griff um die Tür von innen zu öffnen, verletzte er sich. Wider Erwarten hielten sich jedoch der Wohnungsinhaber, der Zeuge Y., seine Ehefrau und sein Sohn in der Wohnung auf und wurden durch die Geräusche geweckt. Der Zeuge Y. wollte verhindern, dass der in der Wohnungstür befindliche Schlüssel gegriffen und so die Tür geöffnet werden könnte. Er beugte den Oberkörper nach vorn in Richtung Wohnungstür und streckte den Arm vor, um den Schlüssel abzuziehen. In diesem Augenblick wurde durch das Loch in der Scheibe der Wohnungstür ein Schuss abgegeben, der den Zeugen Y. in den rechten Oberarm und in die rechte Lunge traf und so erheblich verletzte. Ob der Betroffene oder der Zeuge C. den Schuss aus dem später sichergestellten Revolver der Marke Rossi, Kaliber 38 Spezial abgegeben hat, konnte nicht festgestellt werden. Es war nicht auszuschließen, dass der Zeuge C. ohne Absprache und ohne Wissen des Betroffene die Schusswaffe bei sich führte und einsetzte.

Der Verurteilung 1999 wegen Mordes, und versuchter schwerer räuberischer Erpressung lag folgendes zugrunde: Am Abend des 04.09.1998 gegen 20:00 Uhr verließ der Betroffene, nachdem er zwischen 18:00 und 19:00 Uhr ein bis zwei Linien Kokain zu sich genommen hatte mit dem Zeugen Michael C. seine Wohnung. Er wurde durch Michael C. aufgefordert, durch einen Überfall auf eine Spielhalle, Geld für die Begleichung eines Fahrzeugschadens, den der Betroffene am Nachmittag des- selben Tages verursacht hatte, zu besorgen. Der Zeuge C. verlieh seinem Ansinnen durch Ohrfeigen und Drohungen gegen die Familie des Betroffenen Nach- druck. Er händigte dem Betroffenen den Revolver aus, von dem dieser wusste, dass es sich um eine funktionsfähige Schusswaffe mit Munition handelte. Der Betroffene begab sich vermutlich gemeinsam mit den Zeugen Michael X. und Z. Barone zu der in der M.str. 205 gelegenen Spielhalle, in der er zunächst an Automaten spielte. Später forderte er von der Spielhallenaufsicht, einem Herrn H., unter Drohung mit dem Revolver die Herausgabe von Geld. Als dieser sich zur Wehr setzte, gab der Betroffene im Laufe der entstandenen Auseinandersetzung zunächst einen Schuss in den Boden ab und als er merkte, dass sich die Spielhallenaufsicht dadurch nicht beeindrucken ließ, gezielt auf H. Oberkörper. Danach schoss er noch in Richtung zweier Zeugen, die aber inzwischen in Deckung gegangen waren. Hinde starb infolge der Schussverletzung.
Die hierfür verhängte lebenslange Gesamtfreiheitstrafe verbüßt der Betroffene der- zeit in der Justizvollzugsanstalt Bielefeld. Der Verurteilte wurde am 05.09.1998 fest- genommen und befand sich, unterbrochen durch Verbüßung einer Ersatzfreiheits- strafe bis zum 14.10.19999 in Untersuchungshaft. Seit dem 15.10.1999 befindet er sich in Strafhaft, 15 Jahre werden am 01.01.2014 verbüßt sein.

Der Betroffene ist durch rechtskräftige Ordnungsverfügung des Kreises Soest aus dem Gebiet der Bundesrepublik ausgewiesen worden. Die sofortige Vollziehung ist angeordnet worden.
Mit Schriftsatz vom 10.05.2011 hat der Betroffene zum wiederholten Mal beantragt, von der weiteren Vollstreckung der Freiheitsstrafe aus dem Urteil des Landgerichts Dortmund vom 08.04.1999 gemäß § 456 a StPO abzusehen. Er macht geltend, dass seine Mutter während der Haftzeit verstorben sei und er seinen nunmehr 80jährigen Vater noch einmal lebend sehen möchte. Seine deutschen Sprachkenntnisse seien „nicht besonders". Von besonderer Bedeutung sei, dass seine gesamte Familie in Italien lebe und er aufgrund der großen Entfernung von ihr keinen Besuch bekomme. Seine Resozialisierung bleibe auf der Strecke. Der psychologische Dienst der JVA Werl — wo er zuvor einsaß — habe ihm mitgeteilt, dass die Durchführung einer Therapie überflüssig sei, weil bei ihm kein aggressives Verhalten vorläge. Er beanstandet, dass in einem Schreiben vom 16.06.2010 auf einen vorherigen Antrag darauf Bezug genommen worden sei, dass er nicht nur wegen Mordes, sondern auch wegen anderer schwerer Delikte verurteilt worden sei, und meint, dieses bezöge sich auf eine Verurteilung wegen Diebstahls aus dem Jahre 1998, für den er zu einer Geldstrafe von 120 Tagessätzen zu je 10,-- DM verurteilt worden war. Er meint weiter, dass nach zwölf Jahren Haft der Verteidigung der Rechtsordnung genüge getan sei. Er führt an, dass andere Ausländer, die ebenfalls wegen Mordes — z. T. sogar mit Fest-stellung der besonderen Schwere der Schuld — verurteilt worden seien, bereits nach zehn bzw. 12 1/2 Jahren abgeschoben worden seien.
Mit Bescheid vom 26.05.2011 hat die Staatsanwaltschaft Dortmund den Antrag unter Hinweis auf die Gründe der ablehnenden Entscheidung vom 27.01.2010 abgelehnt. Ein Absehen von der Vollstreckung nach § 456a StPO sei bereits deshalb ausgeschlossen, weil der Betroffene nicht nur wegen Mordes, sondern auch wegen tat- mehrheitlich begangener versuchter schwerer räuberischer Erpressung und wegen versuchten Wohnungseinbruchdiebstahls verurteilt worden sei. Das öffentliche Interesse an einer nachhaltigen Vollstreckung sei höher zu bewerten, als die von dem Betroffenen geschilderten Nachteile, die er zwangsläufig als Folge der Haft hinnehmen müsse.

Der Betroffene hat diese Entscheidung der Staatsanwalt Dortmund in zulässiger Weise mit der — nicht näher ausgeführten - Beschwerde angefochten.

Der Generalstaatsanwalt in Hamm hat die Beschwerde des Betroffenen mit Entscheidung vom 11.07.2011 unter Bezugnahme auf die Gründe seiner früheren Beschwerdeentscheidung vom 28.07.2010 als unbegründet zurückgewiesen. Nach Auffassung des Generalstaatsanwalts hat die Staatsanwaltschaft Dortmund zu Recht auf den hohen Unrechtsgehalt der abgeurteilten Straftaten abgestellt

Gegen diese Entscheidung richtet sich der Antrag des Betroffenen auf gerichtliche Entscheidung nach den §§ 23 ff EGGVG vom 25.07.2011. Zur Begründung wieder- holt er im Wesentlichen sein bisheriges Vorbringen; darüber weist er ergänzend daraufhin, dass er hoffe, seine Familienmitglieder noch einmal lebend anzutreffen. Sei- ne sozialen Bindungen brächen immer weiter auseinander. Durch den mangelnden Kontakt nach draußen falle ihm die Haft zusehends schwer. Er komme auch nicht wie deutsche Gefangene in den Genuss von Vollzugslockerungen, wie sie zur Wiedereingliederung in die Gesellschaft vorgesehen seien.

Der Generalstaatsanwalt in Hamm hat die Zurückweisung des Antrags auf gerichtliche Entscheidung beantragt. Er ist der Auffassung, dass die Vollstreckungsbehörde nach Abwägung der für und wider ein Absehen von der weiteren Vollstreckung sprechenden Umstände vor dem Hintergrund der schweren Schuld des Betroffenen zu einer nicht zu beanstandenden Entscheidung gelangt sei.

Der Betroffene hat hierzu mit Schriftsatz vom 23.09.2011 unter Wiederholung und Vertiefung seines bisherigen Vorbringens Stellung genommen. Ergänzend führt er aus, dass es mit zunehmenden Alter für ihn immer schwerer werde, nach seiner Haftentlassung in Italien wieder Fuß zu fassen. Bei der Ermessensentscheidung der Vollstreckungsbehörden sei nicht ausreichend berücksichtigt worden, dass eine Grundlage für ein Leben nach der Haft durch Wiedereingliederungsmaßnahmen in Form von Vollzugslockerungen geschaffen werden müsse.

II.

Der Antrag ist gemäß §§ 23 ff EGGVG zulässig, aber nicht begründet.

Die angefochtene Entscheidung unterliegt nicht unbeschränkt der gerichtlichen Nachprüfung. Die Entscheidung der Vollstreckungsbehörde, bei einem aus dem Inland auszuweisenden Verurteilten von der weiteren Vollstreckung abzusehen, liegt in ihrem pflichtgemäßen Ermessen. Der Senat hat deshalb gemäß § 28 Abs. 3 EGGVG nur zu prüfen, ob bei der Ermessensentscheidung rechtsfehlerfrei verfahren wurde, ob also die Vollstreckungsbehörde von einem zutreffenden Sachverhalt ausgegangen ist, ob sie die Grenzen des Ermessens eingehalten und von ihm in einer dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat. Um die gerichtliche Nachprüfung der Ermessensausübung zu ermöglichen, müssen die Gründe einer ablehnenden Entscheidung der Vollstreckungsbehörde die dafür wesentlichen Gesichtspunkte mitteilen und eine Abwägung der für und gegen ein Absehen von der weiteren Vollstreckung sprechenden Umstände erkennen lassen (OLG Hamm NStZ 1983, 524; KG StV 1989, 27; OLG Hamburg StV 1996, 328; OLG Karlsruhe ZfStrVO 200, 251). Diese eingeschränkte Überprüfung ergibt keinen Rechtsfehler zum Nach- teil des Betroffenen.

Die Strafvollstreckungsbehörde hat zutreffend auf den hohen Unrechtsgehalt der ab- geurteilten Taten abgestellt, der auch in der Höhe der trotz des Vorliegens einiger zugunsten des Antragstellers berücksichtigten Strafzumessungsgesichtspunkte verhängten Freiheitsstrafe zum Ausdruck kommt. Beanstandungsfrei hat die Vollstreckungsbehörde in ihre Erwägungen auch die in der Tatausführung zu Tage getretene hohe kriminelle Energie sowie die schuldsteigernden besonderen Umstände wie die tatmehrheitlich begangenen weiteren Delikte sowie den Umstand, dass der Betroffene bereits ein knappes halbes Jahr vor der hier in Rede stehenden Verurteilung wegen Diebstahls zu einer hohen Geldstrafe verurteilt worden ist, in ihre Entscheidungsfindung einbezogen.

Auch darin, dass die Staatsanwaltschaft Dortmund und der Generalstaatsanwalt in Hamm bei Vornahme einer Abwägung das mit den Umständen der Taten und der Schwere der Schuld begründete öffentliche Interesse an einer weiteren Strafverbüßung über das des Antragstellers an einem Leben außerhalb Deutschlands unter Berücksichtigung seiner familiären und persönlichen Situation gestellt haben, ist ein Ermessenfehlgebrauch nicht zu erkennen. Vor dem Hintergrund der Schwere der Schuld, die der Betroffene auf sich geladen hat, ergibt sich ein gesteigertes öffentliches Interesse an einer nachdrücklichen Strafvollstreckung. Vor diesem Hintergrund ist nicht zu beanstanden, dass die Vollstreckungsbehörde bei der von ihr vorgenommenen Abwägung den persönlichen und sozialen Belangen des Betroffenen nur ei- ne untergeordnete Bedeutung beigemessen hat. Dabei ist auch die von dem Betroffenen geltend gemachte Haftempfindlichkeit infolge seiner Ausländereigenschaft und der wegen der drohenden Abschiebung nicht in Betracht kommenden Vollzugslockerungen von der Vollstreckungsbehörde ermessensfehlerfrei berücksichtigt worden.

Entgegen der Auffassung des Betroffenen ist durch die Ablehnung des Absehens von der weiteren Vollstreckung auch kein Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz zu sehen. Abgesehen von einer generellen Gleichbehandlung aller (ausländischen) Strafgefangenen, hängt die Entscheidung über das vorzeitige Absehen von der Strafvollstreckung mit anschließender Ausweisung letztlich von dem jeweiligen Einzelfall, insbesondere der in der Tat und der Täterpersönlichkeit liegenden Umstände ab. Eine abstrakte Vergleichbarkeit unterschiedlicher Fälle — wie sie offenbar dem Betroffenen vorschwebt — verbietet sich daher von vornherein.

Die Staatsanwaltschaften haben auch nicht gegen sie bindende Verwaltungsvorschriften verstoßen. Nach Ziffer 1 der Rundverfügung des Justizministers des Landes Nordrhein-Westfalen vom 20.08.1985 ist zwar in der Regel bei einer lebenslangen Freiheitsstrafe nach Verbüßung von zehn Jahren von der weiteren Vollstreckung gemäß § 456 a StPO abzusehen. Eine weitergehende Vollstreckung kommt aber jedenfalls dann in Betracht, wenn dies aus besonderen in der Tat oder in der Person des Verurteilten liegenden Gründen oder zur Verteidigung der Rechtsordnung unabweisbar geboten ist. Die Voraussetzungen, an die diese Verwaltungsvorschriften die Strafvollstreckung knüpfen, sind hier unzweifelhaft gegeben.

Abschließend weist der Senat darauf hin, dass der Gesetzgeber die Möglichkeit, bei ausländischen Straftätern von der Strafvollstreckung abzusehen, nicht im Interesse dieses Täterkreises, sondern ausschließlich aus fiskalischen Erwägungen im Interesse der Bundesrepublik geschaffen hat, um diese in vertretbaren Rahmen von der Last der Strafvollstreckung zu befreien (vergl. Senatsbeschlüsse vom 22.10.2004 — 1 VAs 48/04 und vom 25.03.2004 — 1 VAs 1/04). Die genannten gesetzgeberischen Motive schließen zwar nicht aus, die persönlichen Verhältnisse und Belange eines Verurteilten, wenn dies geboten erscheint, bei der zu treffenden Entscheidung an- gemessen zu berücksichtigen. Diese stehen aber — entgegen der offensichtlichen Auffassung des Betroffenen — nicht im Vordergrund.

Die Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 30 EGGVG, 130, 30 Kost°.



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