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Rechtsprechung

Aktenzeichen: III-3 Ws 37/12 OLG Hamm

Leitsatz: 1. (Beschwerde)Entscheidungen in Parallelverfahren dürfen auch dann nicht abgewartet werden, wenn eine Verbindung mit diesen Verfahren in Betracht kommt.
2. Zu den Voraussetzungen, unter denen eine Verfahrensverzögerung den Justizorganen anzulasten ist.
3. Eine fehlende Personalausstattung fällt ebenso wie die Überlastung der Gerichte in den Verantwortungsbereich der Strafverfolgungsbehörden.

Senat: 3

Gegenstand: Beschwerde

Stichworte: Beschleunigungsgrundsatz, Ermittlungsverfahrenb

Normen: MRK Art. 5; MRK Art. 6

Beschluss:

Strafsache
gegen pp.
wegen schweren Raubes.
Auf die Beschwerde des Angeklagten gegen den Haftbefehl der 2. großen Strafkammer des Landgerichts X. vom 28. Dezember 2011 hat der 3. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 1. März 2012 durch nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft und des Angeklagten bzw. seiner Verteidiger beschlossen:
Der Haftbefehl des Amtsgerichts X. gegen den Angeklagten Y. vom 21. Dezember 2010 (9 Gs 7347/10) in der Fassung der Haftbefehle des Amtsgerichts X. vom 28. April 2011 (9 Gs 2468/11) und des Landgerichts X. vom 28. Dezember 2011 (2 KLs 24/11) wird aufgehoben.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens sowie die dem Angeklagten im Beschwerdeverfahren entstandenen notwendigen Auslagen trägt die Staatskasse.

Gründe
Der Beschwerdeführer Y. steht spätestens seit dem Ende des Jahres 2010 in dem Verdacht, an einem Raubüberfall auf die Filiale der Sparkasse Weserbergland in Hessisch Oldendorf am 2. Dezember 2009 beteiligt gewesen zu sein, bei dem die Täter Bargeld im Gesamtwert von 697.000 € erbeutet hatten. Das Amtsgericht X. ordnete mit Haftbefehl vom 21. Dezember 2010 (9 Gs 7347/10) die Untersuchungshaft gegen den Beschwerdeführer an, der sich zum damaligen Zeitpunkt an einem unbekannten Ort — vermutlich in Polen — aufhielt. Auf der Grundlage dieses Haftbefehles stellte die Staatsanwaltschaft X. am 29. Dezember 2010 einen Europäischen Haftbefehl aus. Am 18. Januar 2011 wurde der Beschwerdeführer in Polen festgenommen und dort zum Zwecke der Auslieferung nach Deutschland inhaftiert.

Unter dem 7. März 2011 erhob die Staatsanwaltschaft X. vor dem Landgericht X. Anklage gegen die Mitbeschuldigten. Am 30. März 2011 lieferten die polnischen Behörden den Beschwerdeführer nach Deutschland aus. Seither verbüßt er hier eine Restfreiheitsstrafe von 569 Tagen aufgrund einer Verurteilung aus dem Jahre 2007. Das Strafende ist auf den 18. Oktober 2012 notiert. Für das vorliegende Verfahren ist Überhaft vermerkt.

Am 28. April 2011 fasste das Amtsgericht X. den Haftbefehl gegen den Beschwerdeführer neu.

Mit Beschluss vom 6. Mai 2011 lehnte die 2. große Strafkammer des Landgerichts die Eröffnung des Hauptverfahrens gegen ihn ab. Zur Begründung führte die Strafkammer aus, der Eröffnung des Hauptverfahrens gegen den im Dezember 2010 von Polen nach Deutschland ausgelieferten Y. stehe der auslieferungsrechtliche Grundsatz der Spezialität entgegen. Die hiergegen eingelegte sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft verwarf der Senat mit Beschluss vom 6. Juni 2011 (III-3 Ws 188/11) als unbegründet.

Die Staatsanwaltschaft nahm daraufhin am 7. Juli 2011 die Anklage vom
6. März 2011 insgesamt zurück und verfasste unter dem 26. Juli 2011 eine neue Anklage, die sich nunmehr gegen und den Beschwerdeführer richtete. Diese neue Anklage ging am 2. August 2011 beim Landgericht X. ein. Mit Verfügung vom 12. August 2011 ordnete der stellvertretende Vorsitzende der 2. großen Strafkammer des Landgerichts X. die Übersetzung der Anklageschrift in die polnische bzw. türkische Sprache und deren Zustellung an die vier Angeschuldigten sowie deren Verteidiger an.

In der Folgezeit erhielten mehrere Verteidiger Akteneinsicht, und es wurde die Übersetzung eines zur Ermittlungsakte gelangten Strafurteils eines polnischen Gerichts gegen den Hauptbelastungszeugen in die deutsche Sprache veranlasst.
Sonstige verfahrensfördernde Maßnahmen wurden — soweit ersichtlich — nicht ergriffen.

Mit Beschluss vom 28. Dezember 2011 eröffnete die 2. große Strafkammer des Landgerichts das Hauptverfahren gegen die vier Angeschuldigten und fasste zugleich die Haftbefehle gegen den Beschwerdeführer und seine drei Mitangeklagten neu. Mit Verfügung vom gleichen Tage ordnete der Vorsitzende der Strafkammer die Zustellung dieses Beschlusses an, teilte den Verfahrensbeteiligten mit, die Geschäftslage der Kammer habe bislang eine Terminsbestimmung nicht zugelassen, stellte eine Durchführung der Hauptverhandlung im Zeitraum zwischen dem 25. April 2012 und dem 6. Juli 2012 in Aussicht und bat die Verfahrensbeteiligten insoweit um Abstimmung möglicher Verhandlungstermine.

Mit Schriftsatz seines Verteidigers Rechtsanwalt Z. vom 16. Januar 2012 legte der Angeklagte Y. Beschwerde gegen den neugefassten Haftbefehl vom 28. Dezember 2011 ein.

Mit Verfügung vom 24. Januar 2012 teilte der Vorsitzende der Strafkammer den Ver-fahrensbeteiligten mit, die Hauptverhandlung solle an dreizehn Tagen zwischen dem 11. Mai 2012 und dem 22. Juni 2012 stattfinden.

Mit Beschluss vom 31. Januar 2012 half das Landgericht der Haftbeschwerde des Angeklagten Y. nicht ab.

II. Die Haftbeschwerde des Angeklagten ist zulässig und begründet.

1. Es kann dahinstehen, ob gegen den Beschwerdeführer ein dringender Tatverdacht besteht und ob ein Haftgrund vorliegt (vgl. § 112 Abs. 1 Satz 1 StPO). Die Anordnung der Untersuchungshaft kann allein schon aus Gründen der Verhältnismäßigkeit nicht aufrechterhalten bleiben. Sowohl die Staatsanwaltschaft als auch die Strafkammer haben das Verfahren gegen den Beschwerdeführer nicht in ausreichendem Maße gefördert.

a) Das Bundesverfassungsgericht (vgl. BVerfG, StV 2006, 73 = NJW 2006, 672; Beschluss vom 24. August 2010 — 2 BvR 1113/10 —; Beschluss vom 13. Mai 2009 — 2 BvR 388/09) betont in seiner ständigen Rechtsprechung die Bedeutung von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG, der die Freiheit der Person garantiert, und fordert deshalb die konsequente Einhaltung des für Haftsachen geltenden verfassungsrechtlichen Beschleunigungsgebots (so auch OLG Hamm, StV 2007, 363; OLG Brandenburg, StV 2007, 363; OLG Dresden, StV 2007, 93; OLG Koblenz, StV 2007, 91).

Das Gewicht des Freiheitsanspruchs des Untersuchungsgefangenen verstärkt sich dabei gegenüber dem Strafverfolgungsinteresse des Staates mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft (BVerfG, NJW 2006, 652; StV 2007, 644; StV 2008, 421). Vor diesem Hintergrund ist im Rahmen der Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch und dem Strafverfolgungsinteresse in erster Linie auf die durch objektive Kriterien bestimmte Angemessenheit der Verfahrensdauer abzustellen, die etwa von der Komplexität der Rechtssache, der Vielzahl der beteiligten Personen oder dem Verhalten der Verteidigung abhängig sein kann. Dabei kann selbst bei schwersten Tatvorwürfen die Verletzung des Beschleunigungsgrundsatzes die Aufhebung des Haftbefehls erfordern (BVerfG, StV 2006, 73; StV 2007, 644). Diese Grundsätze bedingen eine auf den Einzelfall bezogene Analyse des Verfahrensablaufs, wobei Untersuchungshaftverfahren mit der größtmöglichen Beschleunigung durchzuführen sind und grundsätzlich Vorrang vor der Erledigung anderer Strafverfahren haben (BVerfG, StV 2006, 73; OLG Hamm, StraFo 2001, 32 = wistra 2001, 35; StV 2006, 481).

b) Das aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG und Art. 5 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 EMRK sowie Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK folgende Beschleunigungsgebot gilt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der Obergerichte auch dann, wenn der Haftbefehl nicht vollzogen wird, weil sich der Beschwerdeführer in anderer Sache in Strafhaft befindet und daher für das anhängige Verfahren lediglich Überhaft notiert ist (vgl. BVerfG, StV 2006, 251; Senat, BeckRS 2012, 02850; 2009, 19904; KG, NStZ-RR 2009, 188; OLG Stuttgart, NStZ-RR 2003, 29; OLG Karlsruhe, StV 2002, 317; OLG Bremen, StV 2000, 35). Der Umstand, dass der Haftbefehl nicht vollstreckt wird, schwächt das Beschleunigungsgebot zwar ab, hebt es aber nicht auf. Vielmehr sind Zeiten, in denen der Haftbefehl nicht vollzogen wird, zu nutzen, um das Verfahren nachhaltig zu fördern und es so schnell wie möglich abzuschließen (Senat, a.a.O.; KG, Beschluss vom 20. Oktober 2006 — 5 Ws 569/06). Denn zum einen unterliegt der Gefangene in Strafhaft bei Notierung von Überhaft regelmäßig weiteren Beschränkungen, die der Zweck der Untersuchungshaft erfordert (hier unterliegt der Beschwerdeführer der Post-, Telekommunikations- und Besuchsüberwachung). Zum anderen bedarf es der (weiteren) Vollstreckung von Untersuchungshaft im Anschluss an die Strafvollstreckung dann nicht mehr, wenn das Verfahren bereits während der Dauer der Strafhaft in anderer Sache abgeschlossen werden kann; jedenfalls bedarf es der Vollstreckung von Untersuchungshaft für solche Verfahrens- abschnitte nicht mehr, die während der Vollstreckung der Strafhaft in anderer Sache durchgeführt werden konnten (vgl. Senat, a.a.O.).

c) Die Anwendung der oben dargelegten verfassungsrechtlichen Maßstäbe zwingt im vorliegenden Fall zur Aufhebung des Haftbefehls wegen einer gravierenden Verletzung des Beschleunigungsgebotes.

aa) Zu beanstanden ist bereits das Verfahren der Staatsanwaltschaft bis zur Anklageerhebung. Es ist kein sachlicher Grund dafür erkennbar, dass die Staatsanwaltschaft nach der Auslieferung des Beschwerdeführers nach Deutschland nahezu vier Monate gewartet hat, bis sie Anklage gegen ihn erhoben hat. Nennenswerte Ermittlungsmaßnahmen sind in dieser Zeit — soweit ersichtlich — nicht veranlasst worden. Die Sach- und Rechtslage war — und ist — auch nicht derart schwierig, dass bei objektiver Betrachtung ein so langer Zeitraum benötigt wurde, um die Voraussetzungen für eine Anklageerhebung zu prüfen und eine Anklageschrift abzufassen.

Ebenso vermögen die in der Übersendungsverfügung der Staatsanwaltschaft X. vom 6. Februar 2012 aufgeführten Gründe das mehrmonatige Zuwarten bis zur Anklageerhebung nicht zu rechtfertigen. Die Staatsanwaltschaft hat in ihrer Übersendungsverfügung ausgeführt, sie habe es für sinnvoll erachtet, vor der Entscheidung über das weitere Vorgehen gegen den Beschwerdeführer zunächst die Beschwerdeentscheidung des Senats abzuwarten, nachdem das Landgericht in dem Parallelverfahren gegen xxx. die Eröffnung des Hauptverfahrens abgelehnt habe, zumal der Vorsitzende der Strafkammer gesprächsweise angedeutet habe, dass er im Falle einer nachträglichen Anklageerhebung gegen den Beschwerdeführer nicht geneigt sei, das Verfahren zu dem dort damals anhängigen Verfahren gegen xxx hinzuzuverbinden. Diese Erwägungen vermögen bereits deshalb nicht zu überzeugen, weil das Beschleunigungsgebot die Ermittlungsbehörden und Gerichte zwingt, das Verfahren gegen einen Beschuldigten, gegen den die Untersuchungshaft angeordnet ist, unabhängig von der Möglichkeit oder Unmöglichkeit der Verbindung mit anderen Strafverfahren und unabhängig von dem möglichen Ausgang dieser anderen Strafverfahren zügig voranzutreiben. Überdies bestanden und bestehen im Verfahren gegen den Beschwerdeführer — anders als in dem Verfahren gegen Innig— keinerlei Bedenken im Hinblick auf den auslieferungsrechtlichen Spezialitätsgrundsatz, weshalb es auch unter diesem Gesichtspunkt nicht geboten war, zunächst die Beschwerdeentscheidung des Senats im Verfahren gegen xxxx. abzuwarten.

bb) Nach der Anklageerhebung hat die Strafkammer das Verfahren weiter verzögert. Die Strafkammer hat erst fünf Monate nach der Anklageerhebung über die Eröffnung des Hauptverfahrens entschieden, ohne in der Zwischenzeit nennenswerte verfahrensfördernde Maßnahmen zu ergreifen. Zwischen der Eröffnungsentscheidung und dem geplanten Beginn der Hauptverhandlung liegen noch einmal nahezu viereinhalb Monate.

Soweit der Vorsitzende der Strafkammer in seiner Verfügung vom 28. Dezember 2011 auf die Geschäftslage der Kammer verwiesen hat, merkt der Senat zunächst an, dass sich dieser Verfügung ansatzweise konkrete Angaben über die Terminslage der Kammer nur für die Monate November und Dezember 2011 entnehmen lassen und dass auch insoweit unklar ist, ob es sich bei den aufgeführten Verfahren überhaupt um vorrangig zu bearbeitende Haftsachen handelt. Überdies kommt es für die Verletzung des Beschleunigungsgebotes letztlich nur darauf an, ob die Verzögerung den Justizorganen (gleich welchen) anzulasten ist (vgl. BGHR StGB § 46 Abs. 2 Verfahrensverzögerung 6; BGH, Beschluss vom 17. August 2001 — 2 StR 267/01; Senat, BeckRS 2009, 19904; Fischer, StGB, 59. Aufl. [2012], § 46 Rdn. 123 f m.w.N). Ließ die Terminslage der Strafkammer eine zeitnähere Bearbeitung und Terminierung nicht zu, so hätte sie auf Maßnahmen der Justizverwaltung zur Entlastung oder Umverteilung der Geschäfte drängen müssen (Senat, BeckRS 2009, 19904 m.w.N.). Ist das nicht geschehen oder hat die Justizverwaltung hierauf nicht entsprechend reagiert (oder konnte hierauf eventuell mangels hinreichender Personalausstattung nicht reagieren), so wären dies gleichwohl Umstände, die die Verzögerung in die Verantwortung der Strafverfolgungsbehörden fallen ließen. Die Überlastung der Gerichte fällt — anders als unvorhersehbare Zufälle oder schicksalhafte Ereignisse — in den Veranwortungsbereich der staatlich verfassten Gemeinschaft (BVerfG, NJW 2006, 668, 671) und darf sich nicht nachteilig für den Beschuldigten in einem Strafverfahren auswirken.

2. Mit der Aufhebung des Haftbefehls sind die durch den Beschluss des Amtsgerichts X. vom 30. März 2011 (4.5 Gs 94/11), dessen Aufhebung der Vorsitzende der 2. Strafkammer des Landgerichts X. mit Beschluss vom 31. Januar 2012 abgelehnt hat, auf der Grundlage von § 119 StPO getroffenen Anordnungen über die Ausgestaltung der Untersuchungshaft gegenstandslos.
3. Die Kosten- und Auslagenentscheidung erfolgt in entsprechender Anwendung des § 467 Abs. 1 StPO.



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