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Rechtsprechung

Aktenzeichen: III-1 Ws 604/12 OLG Hamm

Leitsatz: Auch eine bereits mehr als fünf Jahre zurück liegende Totschlagstat kann für den Erlass eines Haftbefehls nach § 112a Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StPO herangezogen werden.



Senat: 1

Gegenstand: Beschwerde

Stichworte: Haftbefehl, Wiederholungsgefahr, Katalogtat, Totschlag

Normen: StPO 112a

Beschluss:

Strafsache
In pp.
hat der 1. Strafsenat des OLG Hamm am 20.11.2012 beschlossen:

Der Nichtabhilfebeschluss des Landgerichts Dortmund vom 15.10.2012 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Behandlung und Entscheidung (auch ggf. über die Kosten des Beschwerdeverfahrens) an die 31. Strafkammer (Jugendkammer) des Landgerichts Dortmund zurückgegeben.

Gründe
I.

Der Angeklagte befindet sich seit dem 27.11.2011 aufgrund des Haftbefehls des Amtsgerichts Dortmund vom gleichen Tage (712 Gs 261/11) in Untersuchungshaft. In dem Haftbefehl wird dem Angeklagten folgendes zur Last gelegt:
4
„Am 26.11.2011 wurden auf dem E Weihnachtsmarkt die Jugendlichen X. und Y. niedergeschlagen. 6-7 Personen haben anschließend gemeinsam auf beide am Boden liegenden Jugendlichen eingetreten und diese auch mit Flaschen geschlagen. Die Täter flüchteten. In unmittelbarer zeitlicher und örtlicher Nähe zum Tatgeschehen stießen die beiden Mitarbeiter eines für den Weihnachtsmarkt zuständigen Sicherheitsunternehmens, der Zeuge und spätere Geschädigte C sowie der Zeuge H, auf eine Gruppe von fünf Personen, über die Passanten riefen, das seien die Täter der Schlägerei. Drei Männer und eine Frau aus der Gruppe wurden vom Zeugen H festgehalten und leisteten hiergegen keinen Widerstand. Der Beschuldigte L flüchtete und wurde von dem Zeugen C und einem Passanten, dem Zeugen T, verfolgt. Hierbei schlug der L dem Zeugen C mehrfach in das Gesicht, und zwar unter Verwendung eines in der Faust gehaltenen spitzen Gegenstandes. Der Zeuge C erlitt eine blutende Wunde im Bereich der Nasenwurzel. Mittels des Einsatzes von Reizgas konnte er den Beschuldigten L dann kampfunfähig machen.

Vergehen, strafbar gem. §§ 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB.

Der Beschuldigte ist der Tat dringend verdächtig aufgrund der Aussage des Zeugen C. Dieser hat den Beschuldigten zwar auf einem Lichtbild nicht wiedererkannt, er hat jedoch angegeben, die Person die ihn angegriffen habe mit Pfefferspray kampfunfähig gemacht zu haben. Der Beschuldigte hat nach seiner Festnahme im Gewahrsam ungefragt geäußert, ihm sei Reizgas ins Gesicht gesprüht worden. Da nach Aussage des Zeugen C lediglich gegen die ihn angreifende Person Reizgas eingesetzt worden ist, steht fest, dass der Beschuldigte derjenige ist, der den Angriff ausgeführt hat.“

Als Haftgrund wird die Fluchtgefahr genannt (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO).

Unter dem 19.01.2012 hat die Staatsanwaltschaft Dortmund Anklage zum Amtsge-richt – Jugendschöffengericht – Dortmund erhoben. Die Anklage, die auch weitere Personen betrifft, lautet:

„ (…)
werden angeklagt,
am 26.11.2011 in E
die Angeschuldigten K und U als Heranwachsende
I. die Angeschuldigten L, K, H und M
gemeinschaftlich handelnd mittels eines gefährlichen Werkzeugs andere Personen in einer das Leben gefährdenden Art und Weise körperlich misshandelt und an der Ge-sundheit geschädigt zu haben
II. der Angeschuldigten L in zwei weiteren Fällen und der Angeschuldigte K in einem weiteren Fall
andere Personen körperlich misshandelt und an der Gesundheft geschädigt zu haben, wobei der Angeschuldigte L in einem Fall ein gefährliches Werkzeug ver-wendete
III. die Angeschuldigten L und K jeweils durch eine weitere Handlung andere Personen beleidigt zu haben
und der Angeschuldigte L dazu tateinheitlich andere Menschen mit der Begehung eines gegen sie gerichteten Verbrechens bedroht zu haben

Den Angeschuldigten wird Folgendes zur Last gelegt:

1. Am 26.11.2011 gegen 19.00 Uhr besuchten die Zeugen Z. und I den E Weihnachtsmarkt In Höhe der Weihnachtsmarktstände 250 und 261 gingen sie am dortigen Met-Stand an einer Personengruppe vorbei, der unter anderem die Angeschuldigten K und L angehörten. Als die Zeugin I zu dieser Personengruppe blickte, spuckte ihr der Angeschuldigte K ohne Anlass in das Gesicht, um so seine Missachtung gegenüber der Zeugin zu bekunden. Im Anschluss hieran geriet der Angeschuldigte L mit den Zeugen in eine verbale Auseinandersetzung.

2. An demselben Tag besuchten auch die Zeugen X. und Y. gegen 22.30 Uhr den E Weihnachtsmarkt Auf dem X-Platz gingen sie an dem Angeschuldigten L vorbei, der mit seiner Frau, der Zeugin P, vor dem Restaurant „PP“ stand und sich stritt. Die Ju-gendlichen schauten kurz zu dem sich streitenden Paar und wurden von dem Angeschuldigten mit den Worten „Was guckt ihr Bastarde?“ angesprochen. Nach einer kurzen verbalen Auseinandersetzung stürmte der Angeschuldigte auf die Zeugen zu und schlug zunächst den Zeugen X. mit der geballten Faust mehrfach ins Gesicht woraufhin dieser zu Boden fiel. Als der Zeuge Y. helfend eingreifen und den Angeschuldigten von dem Zeugen X. wegziehen wollte, schlug ihm eine unbekannt gebliebene Person aus der Gruppe der Angeschuldigten mit einer Flasche auf den Kopf, woraufhin der Zeuge Y. zu Boden fiel. Anschließend kamen unter anderem die Mitangeschuldigten U, K und M hinzu und traten und schlugen gemeinsam mit dem Angeschuldigten L auf die am Boden liegenden Jugendlichen ein. Als es den Jugendlichen gelang aufzustehen und Richtung Kirche zu flüchten, wurden sie von einer unbekannt gebliebenen Person aus der Gruppe zunächst verfolgt. Diese Person erfasste den Zeugen X. an den Schultern, drehte ihn um und gab ihm einen Kopfstoß auf die Nase. Dem Zeugen X. gelang es, diese Person wegzustoßen. Anschließend flüchteten die Angeschuldigten L, U, M, K und die gesondert verfolgte O in Richtung L-Straße.

Der Zeuge Y. erlitt unter anderem eine Kopfplatzwunde, Gesichtsprellungen eine Platzwunde an der Unterlippe und eine Nasenbeinfraktur. Der Zeuge X. erlitt unter anderem eine Nasenprellung.

3. Direkt im Anschluss an das vorgenannte Tatgeschehen trafen zwei Mitarbeiter ei-nes für den Weihnachtsmarkt zuständigen Sicherheitsunternehmens, der Zeuge C und der Zeuge H, auf der L-Straße auf die flüchtende Gruppe, wobei Passanten riefen, das seien die Täter der Schlägerei. Die Angeschuldigten K, U M und die gesondert verfolgte O wurden daraufhin von dem Zeugen H angehalten. Der Angeschuldigte L flüchtete und wurde von dem Zeugen C verfolgt, wobei der Zeuge C den Angeschuldigten L mehrmals zum Stehenbleiben aufforderte. Nachdem der Zeuge C den Angeschuldigten L eingeholt und sich vor ihn gestellt hatte, schlug der Angeschuldigte L dem Zeugen C unvermittelt mehrfach mit der Faust in das Gesicht, und zwar unter Verwendung eines in der Faust gehaltenen Schlüssels. Aufgrund dieses Schlages fiel der Zeuge kurz zu Boden. Als der Zeuge T und eine unbekannte Person helfend eingreifen wollten, konnte der Angeschuldigte L zunächst flüchten.

Der Zeuge C erlitt eine blutende Wunde auf der Nase.

4. Sodann lief der Zeuge T, der die Auseinandersetzung zwischen dem Zeugen C und dem Angeschuldigten beobachtet hatte, hinter dem Angeschuldigten L her. Der Angeschuldigte L blieb plötzlich stehen, schlug dem Zeugen T mit seiner rechten Faust in das Gesicht und traf ihn an der rechten Stirnseite Anschließend ergriff der Zeuge T den Arm des Angeschuldigten L und konnte diesen zu Boden bringen.

Durch den Schlag des Angeschuldigten erlitt der Zeuge T zumindest Schmerzen.

5. Als die Polizei vor Ort eintraf, versuchte der Angeschuldigte K zunächst zu flüchten Der Zeuge H verfolgte ihn, konnte den Angeschuldigten zu Boden bringen und bis zum Eintreffen der Polizei festhalten. Hierbei setzte sich der Angeschuldigte zu Wehr, indem er den Zeugen trat und diesen beschimpfte. Der Zeuge erlitt zumindest Schmerzen.

6. Im Rahmen seiner Festnahme vor dem Geschäft „***“, M-Straße in E, durch die Polizeibeamten PHK Y und PK‘in A bezeichnete der Angeschuldigte L die Zeugen C und T „dreckige Juden“ und drohte ihnen mit den Worten „ihr scheiß Juden, ich leg euch alle um“. Hierdurch wollte er seine Missachtung gegenüber den Zeugen äußern.

Vergehen nach §§ 185, 194 Abs. 1 S. 1, 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2, Nr. 4, Nr. 5, 230 Abs. 1 S. 1, 241 Abs. 1, 52, 53 StGB, §§ 1, 105 ff. JGG.“

Das Jugendschöffengericht hat das Verfahren wegen des besonderen Umfangs der Sache gem. § 41 Abs. 1 Nr. 2 JGG zwecks Verfahrensübernahme der Jugendkam-mer des Landgerichts Dortmund vorgelegt. Diese hat es mit Beschluss vom 05.03.2012 übernommen, das Hauptverfahren gegen die Angeklagten eröffnet und angeordnet, dass die Untersuchungshaft (u.a.) gegen den Angeklagten L „aus den Gründen ihrer Anordnung“ fortdauert. Eine Anpassung des Haftbefehls an die Anklage fand nicht statt.

Die Hauptverhandlung begann am 15.05.2012 und dauert derzeit an.

Mit dem angefochtenen Beschluss hat die Strafkammer den Haftbefehl unter Aufla-gen (insbesondere: Meldeauflage 2x/Woche) außer Vollzug gesetzt. Zur Begründung führt sie aus, dass dem Haftgrund der Fluchtgefahr hinreichend durch die erteilten Auflagen begegnet werden könne. Verdunkelungsgefahr bestehe nicht. Ebenfalls wird eine Wiederholungsgefahr i.S.v. § 112a Abs. 1 StPO verneint. Zur Begründung führt die Kammer aus: Der Angeklagte habe im vorliegenden Verfahren keine Strafe zu erwarten, die unter Berücksichtigung der bereits erlittenen Untersuchungshaft die Annahme einer Fluchtgefahr rechtfertige. Auch unter Berücksichtigung drohender Bewährungswiderrufe in zwei weiteren Verfahren habe er eine künftige Gesamtvoll-streckung von mehr als drei Jahren kaum zu erwarten. Er habe zudem feste familiäre Bindungen, zwar nicht zu seiner Ehefrau, von der er sich getrennt habe, wohl aber zu seiner Mutter, die regelmäßig zu den Hauptverhandlungsterminen erscheine und sich um ihn kümmere. Wiederholungsgefahr bestehe nicht. Zwar sei der Angeklagte im Jahre 2005 wegen Totschlags zu einer Jugendstrafe verurteilt worden. Hierbei handele es sich aber um eine anders geartete Tat als die hier relevante Katalogtat (i.S.v. § 112a Abs. 1 Nr. 2 StPO) des § 224 StGB. Außerdem liege die frühere Tat so lange zurück, dass sie – trotz Streichung der Fünfjahresfrist aus § 112a StPO – nur ausnahmsweise berücksichtigt werden könnte; ein solcher Ausnahmefall liege aber nicht vor. Im vorliegenden Verfahren sei nur die Verurteilung wegen einer gefährlichen Körperverletzung zu erwarten.

Hiergegen wendet sich die Staatsanwaltschaft mit der Beschwerde. Die Verletzung des Zeugen C mittels eines Schlüssels sei eine gefährliche Körperverletzung. Der – mittels Messerstichen begangene - Totschlag, wegen dem der Angeklagte im Jahre 2005 verurteilt worden sei, sei durchaus im Rahmen der Prüfung einer Wiederholungstat zu berücksichtigen, da eine gefährliche Körperverletzung notwen-diges Durchgangsstadium zur Tötung gewesen sei. Die Tat liege auch nicht so lange zurück, dass die jetzt vorgeworfene Tat als Ersttat einzustufen sei, denn der Ange-klagte habe sich nach seiner vorzeitigen Entlassung nicht straffrei geführt, sondern sei am 08.11.2011 wegen Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe (unter Strafaus-setzung zur Bewährung) verurteilt worden. Zudem sei bei der Jugendkammer ein weiteres Verfahren gegen den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung (155 Js 54/11) angeklagt worden, bei der Jugendkammer Bochum sei ebenfalls ein Verfahren wegen gefährlicher Körperverletzung anhängig (33 Js 219/11). Das ag-gressive Auftreten des Angeklagten in einem Neonazi-Umfeld, Verübung neuer Straftaten während der Bewährungszeit etc. seien geeignet, die Rechtssicherheit schwerwiegend zu beeinträchtigen.

Der Angeklagte meint, es liege keine Wiederholungsgefahr vor. Die Vereinigung „X“ sei verboten worden, das entsprechende politische Umfeld daher weggefallen. Er sei von E weggezogen. Die erlittene Untersuchungshaft habe ihn schwer belastet.

Die Kammer hat mit Beschluss vom 15.10.2012 der Beschwerde nicht abgeholfen. Zur Begründung führt sie u.a. aus: Es liege keine schwerwiegend beeinträchtigende Straftat vor. Der Verletzte habe nur eine kleine Schnittwunde erlitten. Die Taten, die den weiteren Anklagen zu Grunde liegen, könnten nicht für die Begründung einer Wiederholungstat herangezogen werden, weil zumindest dringender Tatverdacht erforderlich sei, welcher in beiden Verfahren nicht bestehe. Außerdem sei weitere Untersuchungshaft unverhältnismäßig, da der Angeklagte keine Strafe zu erwarten habe, die die Untersuchungshaft von 10 Monaten signifikant um das Doppelte über-steige.

Der Generalstaatsanwalt in Hamm hat beantragt, den angefochtenen Beschluss auf-zuheben und die Untersuchungshaft wegen des Haftgrundes der Wiederholungsge-fahr anzuordnen.

Dazu führt der Angeklagte aus, dass unsicher sei, ob die Tat z.N. des Zeugen C überhaupt eine gefährliche Körperverletzung sei, da nicht sicher festgestellt werden könne, dass er den Schlüssel nicht lediglich in der geschlossenen Faust gehabt habe. Er sei durch die bisherige Untersuchungshaft beeindruckt. Die Staatsanwalt-schaft habe lediglich eine Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren in ihrem Schluss-vortrag gefordert.

II.
Die statthafte (§ 304 StPO) und zulässige Beschwerde der Staatsanwaltschaft führt zur Aufhebung des Nichtabhilfebeschlusses und zur Zurückgabe der Sache an das Landgericht Dortmund.

1. Der Nichtabhilfebeschluss war aufzuheben und die Sache zur erneuten Entschei-dung hierüber an die Strafkammer zurückzugeben, da der Senat sich derzeit zu einer abschließenden Entscheidung nicht in der Lage sieht. Nach § 309 Abs. 2 StPO hat das Beschwerdegericht grundsätzlich die in der Sache erforderliche Entscheidung selbst zu erlassen, wenn es die Beschwerde für begründet erachtet. Im vorliegenden Fall hätte der Senat dazu erforderlichenfalls einen Haftbefehl selbst zu erlassen (vgl. OLG Stuttgart NJW 1982, 1296). Eine Prüfung der Voraussetzungen eines Haftbefehls nach dem aktuellen Stand des Verfahrens ist dem Senat jedoch in mehrfacher Hinsicht nicht möglich.

Nach Aktenlage besteht zwar dringender Tatverdacht (§ 112 Abs. 1 StPO), dass der Angeklagte den Zeugen C mittels eines Schlüssels im Gesicht verletzt – also eine gefährliche Körperverletzung i.S.v. § 224 StGB begangen hat. Diesen dringenden Tatverdacht scheint auch die Strafkammer in Übereinstimmung mit der Staats-anwaltschaft zu bejahen. Mangels jeglicher Angaben zu den Erkenntnissen aus der Hauptverhandlung ist eine Prüfung der Richtigkeit dieser Annahme dem Senat aber nicht möglich. Dazu ist er aber verpflichtet. Zwar unterliegt die Beurteilung des drin-genden Tatverdachts, die das erkennende Gericht während laufender Hauptver-handlung vornimmt, im Beschwerdeverfahren nur in eingeschränktem Umfang der Nachprüfung durch das Beschwerdegericht, denn allein das Gericht vor dem die Be-weisaufnahme stattfindet, ist in der Lage, deren Ergebnisse aus eigener Anschauung festzustellen und zu würdigen, sowie auf dieser Grundlage zu bewerten, ob der drin-gende Tatverdacht nach dem erreichten Verfahrensstand noch fortbesteht oder nicht (BGH, Beschl. v. 08.10.2012 – StB 9/12 = BeckRS 2012, 21858). Andererseits muss das Beschwerdegericht aber in die Lage versetzt werden, seine Entscheidung über ein Rechtsmittel auf eine hinreichend tragfähige sachliche Grundlage zu stellen, da-mit den erhöhten Anforderungen an die Begründungstiefe von Haftfortdauerent-scheidungen (vgl. nur: BVerfG, Beschl. v. 24.08.2010 – 2 BvR 1113/10 = BeckRS 2010, 53051) Rechnung getragen werden kann. Eine umfassende Darstellung der erhobenen Beweise ist dazu allerdings nicht erforderlich, sondern nur eine vorläufige Wertung, orientiert an dem Maßstab des dringenden Tatverdachts (BGH, Beschl. v. 08.10.2012 – StB 9/12 = BeckRS 2012, 21858; OLG Hamm NStZ 2008, 649; OLG Hamm, Beschl. v. 05.07.2012 – 3 WS 159/12 = BeckRS 2012, 16358 – jew. n.w.N.). Dies fehlt hier hinsichtlich der Tat z.N. des Zeugen C.

Gleiches gilt für die Verneinung des Haftgrundes der Wiederholungsgefahr nach § 112a Abs. 1 Nr. 2 StPO. Eine wiederholte Begehung liegt vor, wenn der Beschuldigte mindestens zweimal durch rechtlich selbständige Handlungen (§ 53 StGB) dasselbe Strafgesetz verletzt hat (OLG Hamm, Beschl. v. 25.02.2012 – 2 Ws 18/10 = BeckRS 2010, 06464). Gegenstand der Anklage im vorliegenden Verfahren ist eine weitere gefährliche Körperverletzung z.N. des Zeugen Y. (gemeinschaftlich, lebensgefährdende Behandlung). Die Strafkammer hält hier (möglicherweise in Über-einstimmung mit der Staatsanwaltschaft) offenbar eine Verurteilung für unwahr-scheinlich, verneint also letztlich auch den dringenden Tatverdacht, ohne dies zu be-gründen. Der Umstand, dass die Staatsanwaltschaft in ihrem Schlussvortrag eine Gesamtfreiheitsstrafe beantragt hat, könnte wiederum dagegen sprechen, dass sie eine Verurteilung in dieser Sache für unwahrscheinlich hält.

2. Für die erneute Entscheidung weist der Senat auf Folgendes hin:

a) Ob ein dringender Tatverdacht bzgl. einer wiederholten Begehung von Straftaten nach § 224 StGB besteht, ist von der Strafkammer eigenverantwortlich zu prüfen. Eine wiederholte Begehung kann auch dann vorliegen, wenn das Verfahren nur eine Anlasstat zum Gegenstand hat oder (wie hier offenbar nach Auffassung der Kam-mer) nur noch bzgl. einer Anlasstat dringender Tatverdacht besteht, der Beschuldigte aber mindestens wegen einer weiteren Tat verurteilt worden ist oder unter dringendem Tatverdacht verfolgt wird (vgl. OLG Karlsruhe NStZ-RR 2006, 210; Hilger in: LR-StPO, 26. Aufl., § 112a Rdn. 30; Graf-Krauß, StPO, 2. Aufl., § 112a Rdn. 3).

aa) Der Senat sieht keine Bedenken, zur Begründung der wiederholten Tatbegehung die Totschlagstat, die der Verurteilung vom 17.11.2005 zu Grunde lag, heranzuzie-hen. § 212 StGB ist zwar keine Katalogtat nach § 112a Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StPO, nach dessen Wortlaut es sich bei der begangenen anderen Tat, die zur Begründung der wiederholten Begehung herangezogen wird, um Katalogtaten und dasselbe verletzte Strafgesetz handeln muss, wobei allerdings (jedenfalls) geringfügige Abweichungen in der rechtlichen Beurteilung ohne Bedeutung sind und die Qualifikation dem Grunddelikt gleichsteht (Graf-Krauß, StPO, 2. Aufl., § 112a Rdn. 3; Meyer-Goßner, StPO, 55. Aufl. § 112a Rdn. 8; Hilger in: LR-StPO, 26. Aufl., § 112a Rdn. 27; Heidel-berger Kommentar-Posthoff, 5. Aufl., § 112a Rdn. 12). In dem vom Angeklagten sei-nerzeit begangenen Totschlag ist jedoch eine gefährliche Körperverletzung enthalten gewesen, die lediglich im Konkurrenzwege hinter das vollendete Körperverletzungs-delikt zurücktritt und deswegen nicht im Urteilstenor erscheint. Die Körperverletzung ist nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung notwendiges Durchgangssta-dium für die Tötung und deshalb auch von dem Tötungswillen notwendig mit um-fasst. Der Tötungsvorsatz ist stets mit dem Körperverletzungsvorsatz verbunden (BGH NJW 1961, 1779 = BGHSt 16, 122; BGH NJW 1967, 1918 = BGHSt 21, 265; BGH NJW 1999, 69, 70 = BGHSt 44, 196). Daraus folgt, dass der Angeklagte seinerzeit durchaus eine Tat begangen hat, die die Tatbestandsmerkmale der gefährlichen Körperverletzung vollständig erfüllt hat (nach Feststellungen im Urteil vom 17.11.2005 stach der Angeklagte dem – äußerlich der linken Szene zuzuordnenden – Opfer mit einem Messer mit einer Klingenlänge von 15 cm mit Wucht in die Brust, so dass es später seinen Verletzungen erlag). Der Gesetzgeber wollte mit § 112a StPO den Opferschutz stärken (BT-Drs. 16/12098 S. 19) und nicht etwa dadurch schwächen, dass der weniger gefährliche Täter (der, der „nur“ seine Opfer verletzt hat) leichter in Sicherungshaft gelangen kann, als der gefährlichere Täter (der sogar jemanden bereits getötet und nicht „nur“ verletzt hat).

Es gibt auch keinen rechtlichen Grund, diese Vortat wegen des Zeitablaufs von mehr als 6 Jahren zwischen den beiden Taten nicht heranzuziehen. Die frühere Fünfjah-resfrist ist – wie die Kammer zutreffend ausführt – weggefallen. Die Fundstellen, auf die sich die Kammer beruft, um gleichwohl ihre Ansicht, dass lange zurückliegende Taten nur in einem – hier nicht vorliegenden – Ausnahmefall herangezogen werden dürften, tragen ihre Ansicht nicht. Sie (Hilger in: LR-StPO, 26. Aufl., § 112a Rdn. 37; Graf-Krauß, StPO, 2. Aufl., § 112a Rdn. 7) stehen im Zusammenhang mit der Prog-nose der Begehung erheblicher weiterer gleicher Taten (§ 112a Abs. 1 S. 1 2. Hälfte StPO) und nicht im Zusammenhang mit den Voraussetzungen des § 112a Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StPO).

bb) Hinsichtlich der beiden weiteren anhängigen Verfahren ist es nach Auffassung des Senats nicht angängig, den dringenden Verdacht einer wiederholten Begehung allein unter Hinweis auf einen fehlenden Haftbefehl im Bochumer Verfahren bzw. einen fehlenden Haftantrag im weiteren Dortmunder Verfahren zu verneinen. Die in der Literatur anzutreffende Formulierung „unter dringendem Tatverdacht verfolgt wird“ legt zwar nahe, dass es auf die jeweilige Wertung der Beteiligten in den ande-ren Verfahren ankommt. Dies wiederspräche jedoch dem Gesetz. Zuständig für den Erlass eines Haftbefehls und damit auch für die Prüfung der Frage seines weiteren Fortbestehens ist nach Erhebung der öffentliche Klage das Gericht, das mit der Sa-che befasst ist (§ 125 Abs. 2 StPO), hier also die Strafkammer. Das Prüfungsprogramm ergibt sich aus den jeweiligen Normen. Im Rahmen des Haftgrundes der Wiederholungsgefahr ist dabei zu prüfen, ob der Angeklagte „dringend verdächtig ist. (…) wiederholt (…) eine die Rechtsordnung schwerwiegend beeinträchtigende“ Katalogtat begangen zu haben. Die Gesetzesformulierung „dringend verdächtig“ bezieht sich also auch auf das Merkmal „wiederholt“. Auch heißt es in § 112a Abs. 1 S. 2 StPO, dass „in die Beurteilung des dringenden Verdachts einer Tatbegehung im Sinne des Satzes 1 Nummer 2“ auch solche Taten einzubeziehen seien, „die Gegenstand anderer, auch rechtskräftig abgeschlossener, Verfahren sind oder waren“. Diese Beurteilung obliegt aber dem mit der Haftfrage befassten Gericht (s.o.). So lange also über die Begehung der anderen Straftat nicht (rechtskräftig) entschieden ist, muss das mit der Haftfrage befasste Gericht auch prüfen, ob dringender Tatverdacht bzgl. der anderen Katalogtat besteht. Auch die Gesetzesmaterialien geben dafür, dass es etwa auf die Bewertung der in dem anderen Verfahren maßgeblichen Beteiligten ankäme, nichts her. In der Gesetzesbegründung heißt es lediglich, dass der Beschuldigte wegen der anderen Tat bereits rechtskräftig verurteilt sein oder unter dringendem Tatverdacht stehen muss (BT-Drs. 16/12098 S. 19). Dass auch der Gesetzgeber wohl zu Grunde legt, dass das das mit der Haftfrage befasste Gericht auch den dringenden Tatverdacht bzgl. verfahrensfremder Katalogtaten prüft, ergibt sich zudem daraus, dass auch Taten, bzgl. derer das Verfahren z.B. nach § 154 StPO eingestellt worden ist, herangezogen werden können (BT-Drs. 16/12098 S. 19). Bei diesen ist naturgemäß häufig nie ein dringender oder hinreichender Tatverdacht überhaupt nur geprüft worden, so dass zwangsläufig – wenn sie verwendet werden sollen – eine eigenständige Prüfung erforderlich ist.

Da in beiden anderen Verfahren bereits öffentliche Klage erhoben wurde, besagt der Umstand, dass dort ein Haftantrag nicht gestellt wurde zudem überhaupt nichts über das Nichtvorliegen des dringenden Tatverdachts aus, denn in diesem Verfahrenssta-dium ist ein Antrag der Staatsanwaltschaft keine Anordnungsvoraussetzung mehr (vgl. nur: Graf-Krauß, StPO, 2. Aufl. § 126 Rdn. 3).

b) Die dem Angeklagten vorgeworfene Tat zum Nachteil des Zeugen C ist, wenn insoweit ein dringender Tatverdacht besteht, auch eine die Rechtsordnung schwerwiegend beeinträchtigende Tat. Hierbei muss es sich, da die Katalogtaten ohnehin schon schwerwiegende Taten sind, um solche handeln, die einen über-durchschnittlichen Schweregrad aufweisen (OLG Hamm NStZ-RR 2010, 292; OLG Karlsruhe NStZ-RR 2006, 210), wobei Beurteilungsmaßstab hierfür insbesondere der Unrechtsgehalt der Tat ist (BVerfG NJW 1973, 1363, 1365). Der Unrechtsgehalt der Tat zum Nachteil des Zeugen C ist – dringenden Tatverdacht diesbezüglich vorausgesetzt – zweifelsohne hoch. Zum einen soll der Zeuge C nicht nur in seinem körperlichen Wohlbefinden beeinträchtigt, sondern auch an der Gesundheit verletzt worden sein. Der Schlag mit einem Gegenstand in das Gesicht weist zudem eine erhöhte kriminelle Energie auf, sind doch im Gesicht empfindliche und wichtige Organe (Augen) und andere leicht verletzbare Körperteile (Zähne), deren Beschädi-gung durch einen solchen Schlag mit einem Gegenstand wie einem Schlüssel in Kauf genommen wird. Der Unrechtsgehalt ist auch deswegen hoch, weil der Angeklagte die Tat (hinreichenden Tatverdacht vorausgesetzt) in laufender Bewährungszeit begangen hat und schon wegen Gewalttaten vorbestraft war. Eine solche Tat, wie auch die vorangegangene Totschlagstat sind Taten, die das Gefühl des Vertrauens in Sicherheit und Rechtsfrieden in weiten Teilen der Bevölkerung beeinträchtigen können. Angesichts dieser Umstände hätte der Angeklagte hierfür auch eine Frei-heitsstrafe von deutlich mehr als einem Jahr zu erwarten.

c) Bei der Beurteilung der Wiederholungsgefahr wird die Strafkammer weiter die bis-herigen Verurteilungen wegen Gewaltdelikten, ihre Umstände (Bewährungsversagen) und ihre Frequenz, die Äußerung des Angeklagten im Hinblick auf die Bekanntgabe seiner Ehefrau, dass sie einen neuen Lebensgefährten habe („Gut, dass Du es mir noch während meiner Inhaftierung gesagt hast. Hätte ich es draußen erfahren, hätte ich ihn abgestochen.“) sowie seine aktuellen Lebensumstände nach der Haft-entlassung zu berücksichtigen haben.

d) Bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit wird die Strafkammer nicht - wie bis-her – nur auf die Frage abstellen können, ob die zu erwartende Strafe die bisher er-littene Untersuchungshaft von 10 Monaten „signifikant um mehr als das Doppelte“ übersteigt. Zwar ist auch die Sicherungshaft an den Grundsatz der Verhältnismäßig-keit gebunden. Zu berücksichtigen ist aber, dass es hier um die Verhinderung schwerwiegender Straftaten bis zur Verurteilung geht. Dass muss auch Einfluss auf die Beurteilung der Angemessenheit haben. Diese sieht der Senat, da hier eine Strafrestaussetzung zur Bewährung nach 2/3 der ggf. zu verhängenden und in dem Fall verbüßten Strafe (und erst recht nach der Hälfte), angesichts des kriminellen Vorlebens und eines etwaigen Bewährungsversagens unwahrscheinlich ist, erst bei einer Dauer als gefährdet an, die im Bereich der zu erwartenden Strafe liegt (sofern nicht weitere berücksichtigungsfähige Umstände hinzutreten). § 122a StPO steht hier nicht entgegen, da der Haftbefehl bisher allein auf Fluchtgefahr gestützt ist und der Fristablauf während der Hauptverhandlung ruht (Graf-Krauß, StPO, 2. Aufl., § 112a Rdn. 2).

III.
Eine Kostenentscheidung war nicht veranlasst, da der Senat keine Verfahrensab-schließende Entscheidung treffen konnte (§ 464 StPO). Sollte die Strafkammer der Beschwerde nunmehr abhelfen, so müsste sie bzgl. des Beschwerdeverfahrens eine Kosten- und Auslagenentscheidung treffen.



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