Diese Homepage verwendet Cookies, um Inhalte und Anzeigen zu personalisieren, Funktionen für soziale Medien anbieten zu können und die Zugriffe auf die Website zu analysieren. Außerdem gebe ich Informationen zu Ihrer Nutzung meiner Website an meine Partner für soziale Medien, Werbung und Analysen weiter.

OK Details ansehen Datenschutzerklärung

Rechtsprechung

Aktenzeichen: 2 Ws 33/15 OLG Hamm

Leitsatz: 1. Nach Verbüßung von Zweidrittel (mindestens 6 Monate) einer das gesetzliche Höchstmaß deutlich unterschreitenden Jugendstrafe kann die Aussetzung der Vollstreckung des Restes der Jugendstrafe nach § 88 JGG nicht wegen der Schwere der Schuld, sondern nur bei fehlender positiver Sozialprognose abgelehnt werden.

Senat: 2

Gegenstand: Revision Rechtsbeschwerde Beschwerde Haftprüfung durch das OLG Pauschgebühr Justizverwaltungssache Antrag auf gerichtliche Entscheidung

Stichworte: Jugendstrafe, Reststrafenaussetzung, Schwere der Schuld

Normen: JGG 88; JGG 85; JGG 7, StGB 57

Beschluss:

Strafsache
In pp.
hat der 2. Strafsenat des OLG Hamm am 05.02.2015 beschlossen:

Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Behandlung und Entscheidung - auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens - an die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Hagen zurückverwiesen.

Gründe:
I. Der heute 45-jährige Verurteilte ist durch Urteil der 2. großen Strafkammer - Jugendkammer - des Landgerichts Arnsberg vom 22.06.2010 wegen Mordes zu einer Jugendstrafe von 6 Jahren und 6 Monaten verurteilt.

Nach den Urteilsfeststellungen verschaffte sich der zur Tatzeit 18-jährige Verurteilte am 28.05.1987 im Anschluss an eine Aufstiegsfeier des örtlichen Fußballvereins Zutritt zu der Wohnung der ihm bekannten 26-jährigen Geschädigten. Dort kam es zu einer heftigen handgreiflichen Auseinandersetzung, bei der der Verurteilte der Geschädigten u. a. Schläge gegen den Kopf versetzte, da sie sich gegen den von ihm erstrebten Geschlechtsverkehr massiv zur Wehr setzte. Als die Geschädigte einen Schrei ausstieß, würgte der Verurteilte sie bis zur Bewusstlosigkeit, um sie „zum Schweigen zu bringen.“ Im Anschluss fasste er den Entschluss, sie zu töten, „um den Versuch der Vergewaltigung und die vorausgegangene gefährliche Körperverletzung zu verdecken“. Hierzu nahm er aus der Küche ein Messer mit einer Klingenlänge von ca. 12 cm und stach damit 74 Mal auf die bewusstlos und entkleidet auf dem Bett liegende Geschädigte ein. Die Geschädigte verstarb binnen Kürze an den ihr zugefügten Verletzungen. Der Verurteilte befand sich bei Begehung der Tat aufgrund zuvor konsumierten Alkohols in einem enthemmten Zustand, der seine Einsichts- und Steuerungsfähigkeit erheblich verminderte.

Die zunächst zur Täterschaft ergebnislos geführten Ermittlungen wurden im Jahr 2007 mit der Durchführung molekulargenetischer Untersuchungen wieder aufgenommen und führten schließlich dazu, dass gegen den Verurteilten am 10.02.2009 durch das Amtsgericht Arnsberg ein Haftbefehl erlassen wurde, der vom 11.02.2009 bis zu seiner Außervollzugsetzung am 16.03.2010 in der JVA I vollstreckt wurde.

Der Verurteilte ging - von vorübergehenden Unterbrechungen durch Wehrdienst und Arbeitslosigkeit abgesehen - seit 1988 durchgängig einer geregelten Beschäftigung, zunächst als Metallschleifer, seit 2003 bis zu seiner Festnahme als Verkäufer in einem Baumarkt nach. Nach der Trennung von seiner ersten Ehefrau - aus der Ehe ging eine Tochter hervor - heiratete der Verurteilte 2006 erneut und bewohnte gemeinsam mit seiner Frau und vier Kindern aus deren früherer Ehe ein Einfamilienhaus in T. Er ist weder vor noch nach der Tat anderweitig strafrechtlich in Erscheinung getreten.

Die Jugendkammer hat „schädliche Neigungen“ des zum Zeitpunkt des Urteils 41-jährigen Verurteilten im Sinne des § 17 Abs. 2, 1. Var. JGG angesichts der 23 Jahre zurückliegenden Tat sowie des Umstandes, das der Verurteilte weder vor noch nach der Tat strafrechtlich in Erscheinung getreten war, nicht festzustellen vermocht. Sie hat die Verhängung von Jugendstrafe jedoch wegen der Schwere der Schuld gemäß § 17 Abs. 2, 2. Var. JGG als erforderlich angesehen.

Der Verurteilte verbüßte die Jugendstrafe seit dem 23.09.2011 zunächst in der JVA C-T, im Anschluss ab dem 30.09.2011 in der JVA I1; seit dem 10.02.2012 befindet er sich in Strafhaft in der JVA T.

Das Amtsgericht - Jugendrichter - Soest hat als gemäß §§ 82 Abs. 1, 84, 85 JGG zuständiger Vollstreckungsleiter mit Beschluss vom 01.09.2011 (Az. 24 VRJs 72/11) angeordnet, dass der Verurteilte zur Verbüßung der Jugendstrafe in den Normalvollzug für Erwachsene zu überführen ist. Mit Beschluss vom selben Tage hat das Amtsgericht Soest die Strafvollstreckung zudem gemäß § 85 Abs. 6 S. 1 JGG auf die Staatsanwaltschaft Arnsberg übertragen.

In Vorbereitung der Prüfung einer bedingten Entlassung des Verurteilten zu dem auf den 16.12.2014 berechneten „2/3-Termin“ hat der Leiter der JVA T unter dem 24.09.2014 eine Stellungnahme abgegeben, in der „eine Strafaussetzung zur Bewährung gemäß § 57 Abs. 1 StGB derzeit nur unter den Voraussetzungen engmaschiger Bewährungsauflagen und der Bestellung eines Bewährungshelfers befürwortet“ wird. In der darin wiedergegebenen Stellungnahme des zuständigen psychologischen Dienstes heißt es u. a.:

„Herr B. war bis März 2013 Tatleugner. Seine Bereitschaft, über die nun fast 30 Jahre zurückliegende Tat zu gestehen, änderte sich, als seine jetzige Ehefrau sich scheiden lassen wollte. Im Verlaufe der Gespräche gelang es ihm besser, sich zu öffnen und über seinen Alkoholkonsum und seine Lebensführung zum Zeitpunkt des Anlassdeliktes zu sprechen, was für ihn sehr schambesetzt und persönlichkeitsfremd ist. Bezüglich des Anlassdeliktes imponierte er trotz intensiver Aufarbeitung immer noch mit Ratlosigkeit. Herr B. vermittelte den Eindruck, wenig Verantwortungsgefühl zu übernehmen oder Einblick in die zugrunde liegende Motivation sowohl für die sexuelle Motivation als auch bezüglich der Mordhandlung zu haben. (…) Betrachtet man die Tatvorgeschichte, so ist zu sagen, dass Herr B. jedoch auf der Aufstiegsfeier bereits die sexuelle Vorstellung entwickelte, mit Frau S. zu schlafen, da sie auch seinem präferierten Frauenbild entsprach. So hoffte er aufgrund seiner narzisstischen Tendenzen und einer sexuellen Vorerfahrung, dass er sein Ziel erreichen wird. (…) Aufgrund seiner oben beschriebenen narzisstischen Persönlichkeitsakzentuierung ist zu vermuten, das Herr B. auch durch die zusätzliche alkoholische Enthemmung sich im Kontakt mit dem Opfer gekränkt gefühlt hat. Sowohl das Nachtatverhalten als auch die Aufrechterhaltung der langjährigen Leugnungshaltung sind wie bei einem Narzissten typisch auf die Unfähigkeit, ein schlechtes Gewissen zu haben, auf die fehlende Empathie und auf strenge und perfektionistische Ansprüche gegenüber dem eigenen Selbst zurückzuführen. (…) Obwohl man hypothetisch von einer günstigen Legalprognose ausgehen kann, konnte Herr B. bisher nicht in vollzugsöffnenden Maßnahmen erprobt werden. Im Falle einer bedingten Entlassung sollte als Auflage eine Psychotherapie zur weiteren Be- und Verarbeitung seiner Delinquenz erteilt werden.“

Die Staatsanwaltschaft Arnsberg hat mit Verfügung vom 02.10.2014 beantragt, über den Verurteilten ein Gutachten gemäß § 454 Abs. 2 Nr. 2 StPO einzuholen.

Der Verurteilte ist durch die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Hagen am 27.11.2014 persönlich angehört worden.

Mit Beschluss vom 01.12.2014 - dem Verurteilten am 08.12.2014 zugestellt - hat die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Hagen die Aussetzung der Vollstreckung der Restjugendstrafe zur Bewährung abgelehnt. Zur Begründung hat das Landgericht u. a. ausgeführt, dass für die nach Maßgabe des § 88 JGG zu treffende Entscheidung „einzig und allein die schwere Schuld und deren angemessener Ausgleich die maßgeblichen Gesichtspunkte sein“ könnten. Die sich im Ergebnis stellende Frage, „ob eine Haftdauer von 4 Jahren und 4 Monaten für die schwere Straftat des Betroffenen einen angemessenen Schuldausgleich“ darstelle, müsse „ohne weiteres verneint werden.“

Gegen diesen Beschluss hat der Verurteilte mit Schreiben vom 11.12.2014 - beim Landgericht Hagen am selben Tage per Fax eingegangen - sofortige Beschwerde eingelegt.

Die Generalstaatsanwaltschaft Hamm hat mit Zuschrift vom 22.01.2015 beantragt, die sofortige Beschwerde als unbegründet zu verwerfen.

II.
Die gemäß § 85 Abs. 6 S. 2 JGG, § 88 JGG, § 454 Abs. 3 S. 1 StPO statthafte und in zulässiger Weise eingelegte sofortige Beschwerde hat auch in der Sache - zumindest vorläufigen - Erfolg.

1. Die sofortige Beschwerde des Verurteilten ist begründet. Die gemäß § 85 Abs. 6 S. 2 JGG in Verbindung mit §§ 454, 462a Abs. 1 StPO zur Entscheidung über die Aussetzung der weiteren Vollstreckung zuständige Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Hagen ist von einem rechtsfehlerhaften Beurteilungsmaßstab ausgegangen, indem sie sich (allein) aufgrund der Schwere der Schuld des Angeklagten an einer Aussetzung des Restes der Jugendstrafe zur Bewährung gehindert gesehen hat.

a) Die Strafvollstreckungskammer ist dabei im Ansatz zutreffend davon ausgegangen, dass sich die Aussetzung des Restes einer Jugendstrafe auch dann nach § 88 JGG und nicht nach § 57 StGB richtet, wenn die Jugendstrafe - wie hier - nach den Vorschriften des Erwachsenenvollzugs vollstreckt wird und die Vollstreckung gemäß § 85 Abs. 6 S. 1 JGG an die Staatsanwaltschaft abgegeben wurde (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 02.02.1996, 3 Ws 40-41/96, juris; OLG Bamberg, Beschluss vom 25.10.2005, Ws 768/05, juris; OLG Dresden, Beschluss vom 14.10.1999, 2 Ws 596/99, juris; OLG Frankfurt, Beschluss vom 21.12.1998, 3 Ws 1070/98, juris; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 11.03.2008, 2 Ws 374/07, juris; OLG Stuttgart, Beschluss vom 15.11.2010, 5 Ws 200/10, juris; Thüringer Oberlandesgericht, Beschluss vom 03. Januar 2012, 1 Ws 566/11, juris m. w. N.; Diemer/Schatz/Sonnen, JGG, 6. Auflage, § 85 Rn. 16; Eisenberg, JGG, 17. Aufl., § 85 Rn. 22).

Der Senat hält insoweit nach erneuter Prüfung und unter Berücksichtigung der Argumentation der gegenteiligen Auffassung, die in solchen Fällen von einer Anwendbarkeit des § 57 StGB ausgeht (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 25.4.1995, 1 Ws 332-333/95, juris; OLG München, Beschluss vom 12.11.2008, 2 Ws 986-988/08, juris; OLG Nürnberg, Beschluss vom 17.11.2009, 2 Ws 410/09, juris), an seiner bislang vertretenen Ansicht, die der herrschenden Meinung entspricht, fest (vgl. OLG Hamm, NStZ-RR 2000, 92, 93). Die gegenteilige Auffassung würde bei der hier vorliegenden Verfahrenskonstellation - von der im Erwachsenvollzug vollstreckten Jugendstrafe sind bereits zwei Drittel der Strafe verbüßt - auch zu keinem anderen Ergebnis führen, da die Voraussetzungen nach § 57 Abs. 1 StGB und § 88 Abs. 1 JGG weitgehend angeglichen sind und es nach beiden Vorschriften nach Erreichen des Zweidrittelzeitpunktes bei zutreffender Auslegung des § 88 JGG dann allein auf eine positive Prognoseentscheidung unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit ankommt (vgl. OLG Hamm, a. a. O.).

b) Im Rahmen der damit hier gemäß § 88 Abs. 1 JGG zu treffenden Entscheidung nach Erreichen des Zweidritteltermins ist der Gesichtspunkt der „Schwere der Schuld“ nicht geeignet, eine Aussetzung des Restes der Jugendstrafe zur Bewährung zu verweigern. Die gegenteilige Auffassung, wonach der Gesichtspunkt der Schwere der Schuld - über den Wortlaut der Vorschrift hinausgehend - auch Eingang in die gemäß § 88 Abs. 1 JGG erforderlichen Ermessenserwägungen findet (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 15.12.2000, 6 Ws 1/2000, juris m. w. N.), wird von dem Senat, jedenfalls nach Verbüßung von 2/3 der Jugendstrafe, nicht geteilt.

Nach der gegenteiligen Auffassung behalten die für die Bemessung der Strafe maßgeblichen Kriterien in Fällen, in denen die Jugendstrafe gemäß § 17 JGG allein wegen der Schwere der individuellen Schuld des Verurteilten verhängt wurde, ihre Bedeutung auch, wenn in solchen Fällen über eine etwaige vorzeitige Entlassung zur Bewährung nach § 88 JGG zu entscheiden ist (OLG Düsseldorf, a. a. O.). Maßstab müsse auch hier die Schwere der Schuld und die Abwägung sein, ob durch die Dauer des Vollzuges dem „Grundsatz der tatvergeltenden Sühne“ und dem „Gesichtspunkt des gerechten Schuldausgleichs“ Rechnung getragen werde. Denn es sei widersprüchlich, dem Gesichtspunkt der Schwere der Schuld bei der Verhängung und Bemessung der Jugendstrafe eine den Erziehungsgedanken ergänzende, teilweise gar zurückdrängende eigenständige Bedeutung beizumessen, diesen jedoch dann, wenn es um die Dauer des sodann gebotenen Vollzuges und um den angemessenen Zeitpunkt der Entlassung gehe, außer Betracht zu lassen. Dem Jugendrichter sei bei seiner Entscheidung nach § 88 JGG ein Ermessen eingeräumt, in dessen Rahmen er neben der Mindestverbüßungsdauer (§ 88 Abs. 2 JGG) und der Sozialprognose auch weitere Gesichtspunkte - so z. B. auch die Schwere der Schuld - berücksichtigen könne (OLG Düsseldorf, a. a. O.). Dieser Ansicht vermag der Senat, jedenfalls soweit es Entscheidungen nach § 88 JGG nach Verbüßung von zwei Drittel der Jugendstrafe betrifft, nicht zu folgen:

Die Berücksichtigung der Schwere der Schuld - etwa im Sinne eines „extremen Falls besonders schwerer Schuld“ (vgl. OLG Düsseldorf, a. a. O.) - im Rahmen der Strafvollstreckung - begegnet mit Blick auf das Rechtsstaatsprinzip sowie das Freiheitsgrundrecht des Verurteilten aus Art. 2 Abs. 2 GG bereits verfassungsrechtlichen Bedenken (vgl. BVerfG NStZ 1994, 53; NJW 1992, 2947 zu § 57 a StGB). Die Feststellung und Gewichtung der Schuldschwere obliegt primär dem Erkenntnisverfahren und dem Tatgericht, welches vorliegend zwar wegen der Schwere der Schuld i. S. v. § 17 Abs. 2 JGG eine Jugendstrafe verhängt, bei deren Bemessung aber unter Berücksichtigung aller Umstände und des „Erfordernisses eines gerechten Schuldausgleichs und der gerechten Sühne“ auf eine deutlich unter der Höchstgrenze der §§ 18, 105 Abs. 3 JGG liegende Jugendstrafe von 6 Jahren und 6 Monaten erkannt hat. Die Aspekte von Generalprävention, Schuldausgleich, Vergeltung und Sühne haben - im Jugendstrafrecht ohnehin stark eingeschränkt und von dem Sonderfall des § 57a Abs. 1 Nr. 2 StGB im Erwachsenenstrafrecht abgesehen - ihren Standort bei der Sanktionsandrohung sowie der Sanktionsverhängung und sind damit für die Ebene des Sanktionsvollzugs „verbraucht“ (vgl. Diemer/Schatz/Sonnen, JGG, 6. Auflage, § 88 Rn. 15; Eisenberg, JGG, 17. Aufl., § 88 Rn. 19).

Die Einbeziehung des Gesichtspunktes der Schwere der Schuld in die Entscheidung nach § 88 Abs. 1 JGG würde nach Erreichen des Zweidritteltermins darüber hinaus auch zu einer nicht gerechtfertigten Schlechterstellung des nach Jugendrecht Verurteilten gegenüber einem nach allgemeinem Strafrecht zu einer zeitigen Freiheitsstrafe verurteilten Straftäter führen, da im Rahmen der nach § 57 Abs. 1 StGB zu treffenden Abwägung der Gesichtspunkt der Schwere der Schuld keine eigenständige Rolle spielt (vgl. BVerfG, NStZ 1994, 53; Fischer, StGB, 61. Aufl., § 57 Rn. 12b m. w. N.). Käme dem Aspekt der Schwere der Schuld mit Blick auf die nach § 88 Abs. 1 JGG zu treffende Entscheidung ein eigenständiges Gewicht zu, würde die durch die Anwendung des materiellen Jugendstrafrechts erstrebte Privilegierung in ihr Gegenteil verkehrt (vgl. Diemer/Schatz/Sonnen, JGG, 6. Auflage, § 88 Rn. 12).

Die vom Senat vertretene Ansicht steht auch nicht im Widerspruch zu dem Umstand, dass dem Gesichtspunkt der Schwere der Schuld gemäß § 17 Abs. 2 JGG bei der Verhängung und Bemessung der Jugendstrafe eine den Erziehungsgedanken ergänzende, teilweise gar zurückdrängende eigenständige Bedeutung beigemessen werden kann. Sie ist vielmehr Folge der im Hinblick auf die Strafzwecke auch im Jugendstrafrecht gebotenen Trennung zwischen Sanktionsandrohung, -verhängung und -vollzug (vgl. Diemer/Schatz/Sonnen, JGG, 6. Auflage, § 88 Rn.12).

2. Der angefochtene Beschluss leidet - legt man den vom Senat aufgezeigten, zutreffenden Prüfungsmaßstab für die hier nach 2/3-Verbüßung der verhängten Jugendstrafe gemäß § 88 JGG zu treffende Entscheidung zugrunde - an einem erheblichen Verfahrensfehler, der zur Aufhebung des Beschlusses und zur Zurückverweisung der Sache führt, da die Strafvollstreckungskammer - aus dortiger Sicht folgerichtig - von der gebotenen Einholung eines Sachverständigengutachtens gemäß § 454 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 StPO abgesehen hat.

Soweit die Vorschrift des § 454 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StPO bei verhängter Jugendstrafe und Abgabe der Vollstreckung an die Staatsanwaltschaft in der obergerichtlichen Rechtsprechung vereinzelt für nicht anwendbar gehalten wird (so OLG Frankfurt a. M., NStZ-RR 1999, 91), folgt der Senat dem nicht. Der Wortlaut des § 85 Abs. 6 Satz 2 JGG sieht im Fall der Abgabe der Vollstreckung an die Staatsanwaltschaft die Anwendung der Vollstreckungsregelungen der Strafprozessordnung ohne Einschränkung vor (h. M., vgl. u. a. OLG Celle, Beschluss vom 06. Mai 2008 - 1 Ws 206/08 -, juris; OLG Dresden, NStZ-RR 2010, 156).

Die Voraussetzungen des § 454 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 StPO liegen vor, da nach Aktenlage eine Aussetzung der Vollstreckung des Restes der Jugendstrafe von mehr als zwei Jahren wegen Mordes nach § 88 Abs. 1 JGG in Betracht kommt. Von der Einholung des Sachverständigengutachtens kann auch nicht deshalb abgesehen werden, weil auszuschließen ist, dass Gründe der öffentlichen Sicherheit einer vorzeitigen Entlassung des Verurteilten entgegen stehen. Angesichts der gravierenden Anlasstat, der durch den psychologischen Dienst der JVA T angedeuteten narzisstischen Persönlichkeitsakzentuierung bei dem Angeklagten und deren Auswirkungen sowie der aus Sicht der Vollzugsanstalt noch nicht abgeschlossenen „Be- und Verarbeitung seiner Delinquenz“ kann nicht ausgeschlossen werden, dass von dem Verurteilten noch eine Gefahr für die Allgemeinheit ausgeht.

Der aufgezeigte Verfahrensfehler führt entgegen § 309 Abs. 2 StPO zur Zurückverweisung der Sache an die Strafvollstreckungskammer (vgl. OLG Köln, NStZ-RR 2000, 317; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 57. Aufl., § 454 StPO, Rn. 47), durch die das einzuholende Gutachten gem. § 454 Abs. 2 StPO in Auftrag zu geben und eine - je nach Erklärungen gemäß § 454 Abs. 2 S. 4 StPO - etwaige mündliche Anhörung des Sachverständigen vorzunehmen sein wird, wobei im Hinblick auf die Notwendigkeit der psychiatrischen Begutachtung des Verurteilten zur Frage der Gefahrenprognose die Bestellung eines Pflichtverteidigers in entsprechender Anwendung des § 140 Abs. 2 StPO erforderlich erscheint.


zur Startseite "Rechtsprechung"

zum Suchformular

Die Nutzung von Burhoff-Online ist kostenlos. Der Betrieb der Homepage verursacht aber für Wartungs-, Verbesserungsarbeiten und Speicherplatz laufende Kosten.

Wenn Sie daher Burhoff-Online freundlicherweise durch einen kleinen Obolus unterstützen wollen, haben Sie hier eine "Spendenmöglichkeit".