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Rechtsprechung

Aktenzeichen: 4 Ws 301/06 (4 OBL 46/06) OLG Hamm

Leitsatz: Kann mit einem Urteil innerhalb eines Zeitraumes, der den Maßstäben des § 121 Abs. 1 StPO gerecht wird, nicht gerechnet werden und sind zudem noch rechtzeitige entlastende Maßnahmen nicht getroffen worden, ist die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus nicht gerechtfertigt.

Senat: 4

Gegenstand: Haftprüfung durch das OLG

Stichworte: Haftprüfung; OLG; wichtiger Grund; Überlastung; Entlastungsmaßnahmen; Zeitpunkt;

Normen: StPO 121; StPO 122

Beschluss:

Strafsache
gegen R.W.
wegen Betruges, (hier: Haftprüfung durch das Oberlandesgericht).

Auf die Vorlage der (Zweit-)Akten zur Entscheidung nach den §§ 121, 122 StPO hat der 4. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 29. 06. 2006 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht, den Richter am Oberlandesgericht und
den Richter am Amtsgericht nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft, des Angeklagten und seines Verteidigers beschlossen:

Der Haftbefehl der 8. Strafkammer des Landgerichts Münster vom 6. Juni 2006 - 8 KLs 45 Js 1861/05 (19/06) - wird aufgehoben.

Gründe:
I.
Dem Angeklagten, der sich nach seiner vorläufigen Festnahme am 23. Dezember 2005 seitdem in Untersuchungshaft befindet, wird mit dem neu gefassten Haftbefehl des Landgerichts Münster vom 6. Juni 2006 zur Last gelegt, sich in mehreren Fällen des Betruges, des Missbrauchs eines akademischen Titels und der Bestechlichkeit schuldig gemacht zu haben. Der Betrugsschaden wird mit über 1.200.000,- DM beziffert. Die mit dem Haftbefehl im Wesentlichen übereinstimmende Anklage der Staatsanwaltschaft Münster vom 5. Mai 2006 ist mit geringfügigen Änderungen durch Beschluss des Landgerichts Münster vom 8. Juni 2006 zur Hauptverhandlung zugelassen worden. Wegen der Tatvorwürfe im Einzelnen und des Ergebnisses der durchgeführten Ermittlungen wird auf den Inhalt der Anklageschrift und des vorgenannten Haftbefehls Bezug genommen.

Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus anzuordnen.

II.
Der Haftbefehl des Landgerichts Münster vom 6. Juni 2006 unterliegt der Aufhebung, weil die Voraussetzungen, unter denen Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus gemäß § 121 Abs. 1 StPO angeordnet werden kann, nicht vorliegen.

Zwar ist der Angeklagte der ihm zur Last gelegten Taten dringend verdächtig. Auch die Annahme des Haftgrundes der Fluchtgefahr begegnet keinen Bedenken.

Gleichwohl kann der an sich gerechtfertigte Haftbefehl keinen Bestand haben, da das Verfahren nicht die in Haftsachen gebotene, auf den Freiheitsanspruch gemäß Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG und Art. 5 Abs. 3 S. 2 MRK beruhende Beschleunigung erfährt.

Das Bundesverfassungsgericht hat in ständiger Rechtsprechung betont, dass der Freiheitsanspruch des noch nicht verurteilten Beschuldigten bzw. Angeklagten den vom Standpunkt der Strafverfolgungsorgane aus erforderlichen und zweckmäßigen Freiheitsbeschränkungen stets als Korrektiv entgegen zu halten ist und sich sein Gewicht gegenüber dem Strafverfolgungsinteresse mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft vergrößert (vgl. die Nachweise bei Meyer-Goßner, StPO, 48. Aufl.,
§ 121 Rdnr. 1). Dem trägt die Vorschrift des § 121 Abs. 1 StPO Rechnung, wonach der Vollzug der Untersuchungshaft vor Ergehen eines Urteils wegen derselben Tat über sechs Monate hinaus nur aufrechterhalten werden darf, wenn die besondere Schwierigkeit oder der besondere Umfang der Ermittlungen oder ein anderer wichtiger Grund das Urteil noch nicht zulassen und die Fortdauer der Haft rechtfertigen. Die Bestimmung des § 121 Abs. 1 StPO lässt also nur in begrenztem Umfange eine Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus zu und ist eng auszulegen (vgl. BVerfGE 20, 45, 50; 36, 264, 271). Dem Beschleunigungsgebot in Haftsachen wird daher nur dann Genüge getan, wenn die Strafverfolgungsbehörden und das mit der Sache befasste Gericht alle zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um die Ermittlungen so schnell wie möglich abzuschließen und ein Urteil herbeizuführen.

Diesen Erfordernissen wird der Verfahrensgang vorliegend nicht gerecht.

Zwar sind die Ermittlungen in Anbetracht ihres Umfanges zügig durchgeführt und mit der Erhebung der Anklage am 5. Mai 2006 in angemessener Zeit ohne erkennbare Verzögerungen zum Abschluss gebracht worden. Auch die weitere Sachbehandlung durch das Landgericht bis zur Eröffnung des Verfahrens ist nicht zu beanstanden. Es ist aber nicht absehbar, wann mit der Durchführung der Hauptverhandlung und einem Urteil gerechnet werden kann. Der Vorsitzende der Strafkammer hat in einem Vermerk vom 8. Juni 2006 mitgeteilt, dass die Durchführung der Hauptverhandlung derzeit nicht möglich ist. Die Kammer verhandele zurzeit mit allen Berufsrichtern drei parallel laufende Haftsachen. Diese Hauptverhandlungen seien teilweise bis zum 13. Juli 2006 terminiert, wobei nicht absehbar sei, ob die Hauptverhandlung in der vorgesehenen Zeit beendet werden könne. Am 12. Juli 2006 beginne die Hauptverhandlung in einer weiteren Haftsache mit Fortsetzungsterminen bis zum 28. August 2006. Während des Jahresurlaubs des Vorsitzenden beginne ferner unter dem Vorsitz des Stellvertretenden Vorsitzenden am 15. Juli 2006 die Hauptverhandlung in einer weiteren Haftsache mit Fortsetzungsterminen am 24. und 26. Juli 2006.
Der Präsident und das Präsidium des Landgerichts Münster seien über die Terminssituation in der 8. Strafkammer informiert worden. Dem Senat ist aus einem früheren Haftprüfungsverfahren (4 Ws 200/06 - 4 OBL 27/06) bekannt, dass der Vorsitzende die Überlastung seiner Strafkammer dem Präsidenten und dem Präsidium des Landgerichts bereits am 1. März 2006 angezeigt hat. Die Einleitung entlastender Maßnahmen ist bislang an der ebenfalls starken Belastung der anderen Strafkammern des Landgerichts gescheitert. Nach alledem steht für den Senat fest, dass ein Urteil im hier betroffenen Verfahren innerhalb eines Zeitraumes, der den Maßstäben des § 121 Abs. 1 StPO gerecht wird, nicht zu erwarten ist. Die mitgeteilte Überlastung der zuständigen Strafkammer ist nicht bloß kurz, sondern offenbar langfristig und damit kein wichtiger Grund i.S.d. § 121 Abs. 1 StPO, der die Anordnung der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus rechtfertigen könnte (vgl. Senatsbeschluss vom 15. Dezember 2005 - 4 OBL 74/05 -; Meyer-Goßner, a.a.O., Rdnr. 22 m.w.N.). Rechtzeitige gerichtsorganisatorische Maßnahmen, wobei unter Umständen auch auf Richter außerhalb der Strafgerichtsbarkeit zurückzugreifen ist (vgl. BVerfGE 36, 264, 273), sind versäumt worden. Auch wenn die Überlastung auf einem Geschäftsanfall beruhen sollte, der selbst bei Ausschöpfung aller gerichtsorganisatorischer Mittel und Möglichkeiten nicht innerhalb einer angemessenen Frist zu bewältigen ist, gelten die in § 121 Abs. 1 StPO festgelegten Grundsätze. Der Staat hat, will er nicht aus fiskalischen Gründen die Freilassung unter Umständen auch gefährlicher Gewalttäter in Kauf nehmen - die Art und Schwere des Delikts führt im Rahmen des § 121 Abs. 1 StPO nicht zu einem anderen Beurteilungsmaßstab -, seine Gerichte personell so auszustatten, dass anstehende Verfahren in einer dem Freiheitsanspruch des Gefangenen Rechnung tragenden Frist abgeschlossen werden können (vgl. BVerfGE 36, 264, 273 - 275; OLG Celle, StV 2002, 150).

Der Senat ist daher nach alledem von Gesetzes wegen gehalten, den Haftbefehl des Landgerichts Münster vom 6. Juni 2006 aufzuheben, wobei darauf hinzuweisen ist, dass bei unveränderter Überlastung der Strafkammer(n) trotz an sich gebotener Haftanordnung mit weiteren Entlassungen von Untersuchungsgefangenen gerechnet werden muss.



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