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Rechtsprechung

Aktenzeichen: 2 Ws 34/15 OLG Hamm

Leitsatz: Zum Auswahlermessen der Staatsanwaltschaft bezüglich des örtlich zuständigen Jugendgerichts im verbundenen JGG-Verfahren.

Senat: 2

Gegenstand: Beschwerde

Stichworte: Verbundenes Jugendstrafverfahren, Auswahlermessen, Staatsanwaltschaft, örtliche Zuständigkeit

Normen: JGG 42; JGG 103; StPO 7; StPO 8; StPO 13; StPO 16

Beschluss:

Strafsache
In pp.
hat der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am
24.03.2015 beschlossen

Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben und die Sache an die zuständige Jugendstrafkammer bei dem Landgericht Bochum zurückverwiesen.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die insoweit entstandenen notwendigen Auslagen der Angeschuldigten fallen der Landeskasse zur Last.

Gründe:
I.
Die Staatsanwaltschaft Bochum hat mit Anklageschrift vom 04.12.2014 gegen die Angeschuldigten Anklage u.a. wegen schweren Raubes vor der Jugendstrafkammer des Landgerichts Bochum erhoben. Den Angeschuldigten wird mit der Anklageschrift u.a. zur Last gelegt, am 05.04.2014 in C – die Angeschuldigte zu I. als Heranwachsende, die Angeschuldigten zu IV. und V. als Jugendliche und die Angeschuldigten zu II. und III. als Erwachsene – während der Fahrt mit einer Straßenbahn gemeinschaftlich auf den Geschädigten L eingeschlagen, diesen beleidigt und ihm mit Gewalt seine Geldbörse sowie aus dieser 150,00 € entwendet zu haben, nachdem der Zeuge die in der Straßenbahn pöbelnden und gegenüber älteren Fahrgästen ausfälligen Angeschuldigten zur Ruhe gemahnt hatte.

Ausweislich der Anklageschrift haben die Angeschuldigten zu I., II. IV. und V. ihren Wohnsitz in H, die Angeschuldigte zu III. in I. Der Geschädigte war in H wohnhaft, ist zwischenzeitlich jedoch nach X verzogen. Die weiteren in der Anklageschrift bezeichneten (sechs) Zeugen sind mit ladungsfähigen Anschriften in C verzeichnet.

In ihrer Abschlussverfügung vom 04.12.2014 hat die Staatsanwaltschaft Bochum folgendes vermerkt:

„Zwar wohnen die Beschuldigten in H. Die Beschuldigten W, D und Q sind Jugendliche und Heranwachsende. Es soll jedoch gegen alle Beschuldigten gemeinsam Anklage vor der Jugendkammer in Bochum erhoben werden, um eine mehrfache Vernehmung des Geschädigten und der weiteren Zeugen zu vermeiden.“

Die 3. große Strafkammer – Jugendkammer – des Landgerichts Bochum hat sich mit Beschluss vom 22.12.2014 hinsichtlich der jugendlichen bzw. heranwachsenden Angeschuldigten zu I., IV. und V. für örtlich unzuständig erklärt und das Verfahren hinsichtlich der erwachsenen Angeschuldigten zu II. und III. abgetrennt. Zur Begründung hat die Kammer u.a. ausgeführt, die von der Staatsanwaltschaft getroffene Auswahlentscheidung, die Angeschuldigten zu I., IV. und V. wegen der durch § 7 StPO begründeten Zuständigkeit bei dem Landgericht Bochum anzuklagen, sei ermessensfehlerhaft, da sie den Vorrang der besonderen Gerichtsstände des § 42 Abs. 1 Nr. 1-3 JGG vor denjenigen des allgemeinen Verfahrensrechts nicht hinreichend berücksichtige. Dieser Vorrang dürfe nur durchbrochen werden, wenn sich aus dieser Zuständigkeit erhebliche Erschwernisse für das Verfahren ergeben würden, die bei einer Zuständigkeit nach allgemeinem Verfahrensrecht nicht bestünden. Solche besonderen Erschwernisse seien vorliegend mit Blick auf das räumlich und zeitlich begrenzte Geschehen und die Notwendigkeit der Vernehmung von lediglich 7 Zeugen, die zudem in räumlicher Nähe auch zu dem Gerichtsbezirk des Landgerichts Essen wohnten, nicht erkennbar. Wegen der weiteren Einzelheiten der Begründung wird auf den angefochtenen Beschluss verwiesen.

Gegen diesen Beschluss hat die Staatsanwaltschaft Bochum mit an das Landgericht Bochum gerichteter Zuschrift vom 30.12.2014 „sofortige Beschwerde“ eingelegt, welche sie mit Schreiben vom 05.01.2015 begründet hat. Zur Begründung hat die Staatsanwaltschaft Bochum insbesondere ausgeführt, dass die Durchführung nur eines Verfahrens aus Gründen des Opferschutzes geboten sei. Die gewählte Vorgehensweise diene auch der Erforschung der Wahrheit, da die gemeinschaftliche Begehung eines Gewaltdeliktes aufzuklären sei. Die Durchführung eines einheitlichen Verfahrens sei auch im Interesse einer geordneten Rechtspflege geboten, um divergierende Entscheidungen zu vermeiden.

Die 3. große Strafkammer als Jugendkammer des Landgerichts Bochum hat das Rechtsmittel vom 30.12.2014 als (einfache) Beschwerde gegen den Beschluss vom 22.12.2014 ausgelegt und dieser mit Beschluss vom 04.01.2015 unter Bezugnahme auf die Gründe des angefochtenen Beschlusses nicht abgeholfen.

Die Generalstaatsanwaltschaft Hamm ist der Beschwerde der Staatsanwaltschaft Bochum mit Zuschrift vom 23.01.2015 beigetreten und hat unter Ergänzung und Vertiefung der Beschwerdebegründung beantragt, den angefochtenen Beschluss aufzuheben.

II.
Das als (einfache) Beschwerde gemäß § 304 Abs. 1 StPO auszulegende Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft Bochum (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 57. Aufl., § 16 Rn. 7 und § 2 Rn. 13) vom 30.12.2014 ist statthaft und auch im Übrigen zulässig erhoben.

Die gegen den Beschluss insgesamt gerichtete Beschwerde hat auch in der Sache Erfolg.

1. Das Landgericht Bochum ist für das Verfahren gegen sämtliche Angeschuldigte gemäß § 7 StPO örtlich zuständig, da die vorgeworfenen Straftaten im Landgerichtsbezirk Bochum begangen worden sein sollen.

Der Umstand, dass zum Zeitpunkt der Anklageerhebung hinsichtlich der Angeschuldigten zu I., IV. und V. (auch) der besondere Gerichtsstand des freiwilligen Aufenthaltortes gemäß § 42 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. § 108 Abs. 1 JGG sowie hinsichtlich der Angeschuldigten zu IV. und V. zusätzlich der Gerichtsstand der familiengerichtlichen Erziehungsaufgaben gemäß § 42 Abs. 1 Nr. 1 JGG im Bezirk des Landgerichts Essen begründet war, führt vorliegend nicht zu einer vorrangigen, die örtliche Zuständigkeit des Landgerichts Bochum verdrängenden Zuständigkeit eines anderen Gerichts in Bezug auf die Angeschuldigten zu I., IV. und V.. Die durch das Landgericht Bochum vertretene Rechtsansicht, insoweit sei die örtliche Unzuständigkeit auszusprechen, weil die Staatsanwaltschaft Bochum ermessensfehlerhaft den Vorrang der besonderen Gerichtsstände des § 42 Abs. 1 Nr. 1-3 JGG vor denjenigen des allgemeinen Verfahrensrechts missachtet habe, überschreitet die dem Landgericht im Rahmen des § 16 StPO zukommende, eingeschränkte Prüfungskompetenz und hält einer – nach zutreffender Ansicht am Maßstab der Willkür bei der Auswahl zwischen mehreren örtlich zuständigen Gerichten durch die Staatsanwaltschaft auszurichtenden – sachlichen Überprüfung nicht stand.

Im Einzelnen:
a) Die Strafprozessordnung stellt verschiedene mögliche Gerichtsstände nach §§ 7 ff. StPO nebeneinander zur Wahl. Das gleiche gilt für das Verhältnis zwischen den Gerichtsständen der StPO und den besonderen Gerichtsständen, zu denen § 42 JGG gehört; die darin vorgesehenen örtlichen Zuständigkeiten treten selbständig neben die allgemeinen Gerichtsstände (BGHSt 10, 323; BGH, Beschluss vom 08.04.2003 - 2 ARs 74/03, BeckRS 2003 30315105; Karlsruher-Kommentar-Scheuten, StPO, 7. Aufl., Vor §§ 7-21 Rn. 1; Diemer/Schatz/Sonnen, JGG, 6. Aufl., § 42 Rn. 1; Lange, NStZ 1995, 110). Der Staatsanwaltschaft kommt bei der Entscheidung, bei welchem von mehreren örtlich zuständigen Gerichten sie Anklage erheben will - ebenso wie bei der Entscheidung, ob sie ein Verfahren gegen mehrere Beschuldigte wegen des Sachzusammenhangs verbinden oder getrennt führen möchte – ein (Auswahl-) Ermessen zu (h.M., vgl. nur Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 57. Aufl., Vor § 7 Rn. 10 m.w.N.). Sowohl im Verhältnis der besonderen Gerichtsstände des § 42 Abs. 1 zu den Gerichtsständen des allgemeinen Verfahrensrechts als auch im Verhältnis der Gerichtsstände des § 42 Abs. 1 Nr. 1-3 JGG untereinander enthält § 42 Abs. 2 JGG lediglich eine Richtline für das Auswahlermessen der Staatsanwaltschaft, nicht aber eine durch das angegangene Gericht bei der Prüfung der eigenen Zuständigkeit gemäß § 16 StPO zu beachtende Vorrangsbestimmung (vgl. BGH, NStZ 2008, 695; Brunner/Dölling, JGG, 12. Aufl., § 42 Rn. 7). Die Ermessensentscheidung und die damit verbundene Wahl der Staatsanwaltschaft, vor welchem von mehreren Gerichten sie Anklage erheben will, ist im Rahmen des § 16 StPO durch das angegangene Gericht – sofern dort überhaupt ein gesetzlicher Gerichtsstand vorliegt – grundsätzlich nicht überprüfbar (BGH, aaO.; Brunner/Dölling, aaO.; Karlsruher-Kommentar-Scheuten, aaO., Rn. 3; Lange, NStZ 1995, 110, 111). Insbesondere ist das Gericht nicht befugt, eigene Ermessenserwägungen an die Stelle der Erwägungen der Staatsanwaltschaft zu setzen (vgl. Ostendorf-Schady, JGG, 9. Aufl., § 42 Rn. 11 m.w.N.).

Diese Grundsätze besagen andererseits nicht, dass die Staatsanwaltschaft ihrerseits die Auswahl zwischen mehreren örtlich zuständigen Gerichten gänzlich frei und ohne Rücksicht auf die durch das Gesetz zum Ausdruck kommenden Wertungen vornehmen könnte. Die Staatsanwaltschaft muss ihre Wahl vielmehr nach pflichtgemäßem Ermessen treffen und darf dabei nicht willkürlich von gesetzlich formulierten Maßstäben oder der üblichen, auf Erfahrung und Zweckmäßigkeit beruhenden Handhabung in vergleichbaren Fällen abweichen (Lange, aaO.). In diesem Zusammenhang hat sie je nach Fallkonstellation auch einen Vorrang der Gerichtsstände des § 42 JGG wegen der Besonderheiten des vom Erziehungsgedanken beherrschten, täterbezogenen Jugendstrafrechts – wie sie auch durch das Landgericht Bochum in der angefochtenen Entscheidung zutreffend ausgeführt werden – zu beachten. In den Richtlinien zu §§ 42, 108 JGG ist die Anklageerhebung gegen Minderjährige bzw. Heranwachsende demgemäß auch „grundsätzlich” bzw. „in der Regel” zum Gericht ihres Aufenthaltsortes vorgesehen.

Mit Blick auf diese Maßstäbe darf die Auswahl der Staatsanwaltschaft – schon zur Sicherung elementarer verfassungsrechtlicher Grundsätze wie dem Gebot des gesetzlichen Richters gemäß Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG und dem aus Art. 3 GG und dem Rechtsstaatsprinzip abgeleiteten Willkürverbot – nicht auf unsachlichen, sich von gesetzlichen Wertungen gänzlich entfernenden Erwägungen beruhen (vgl. OLG Hamm, NStZ-RR 1999, 16 zu §§ 7 ff. StPO; Karlsruher-Kommentar-Scheuten, aaO., Rn. 3). Das Auswahlermessen der Staatsanwaltschaft findet daher – spiegelbildlich zu einer einsetzenden Prüfungskompetenz des angegangenen Gerichts im Rahmen des § 16 StPO – seine Grenze bei einer willkürlichen Bestimmung der Zuständigkeit (so auch Thüringer Oberlandesgericht, Beschluss vom 29.01.2009, 1 Ws 30/09, juris; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 57. Aufl., Vor § 7 Rn. 10). Entsprechendes gilt für die Ermessensentscheidung der Staatsanwaltschaft, ob sie eine zusammenhängende Strafsache (§ 3 StPO) gegen Jugendliche und Erwachsene einheitlich bearbeitet und in einer gemeinsamen Anklage bei einem Gericht anhängig macht (§ 103 JGG, § 2 StPO).

b) Der weitergehenden – auch durch das Landgericht Bochum in der angefochtenen Entscheidung vertretenen – Ansicht, wonach die Entschließung der Staatsanwaltschaft (auch) einer Überprüfung der Sachlichkeit der Gründe und der Fehlerfreiheit der Ermessensausübung unterliegen soll (vgl. LG Kaiserslautern, Beschluss vom 24.05.2006, 8 Qs 12/16, juris; LG Verden, Beschluss vom 22.11.2007, 3 - 36/07, juris; Eisenberg, JGG, 17. Aufl., § 42 Rn. 16; ähnlich Ostendorf-Schady, aaO., Rn. 11: „Einhaltung der Grenzen des eingeräumten Ermessens“; Diemer/Schatz/Sonnen, aaO., Rn. 21: „Vertretbarkeit der Ermessensausübung“), vermag der Senat nicht zu folgen. Die insoweit vertretene Ansicht findet weder eine Stütze im Gesetz noch erscheint sie aus anderen Gründen rechtlich geboten.

Die nach dieser Ansicht gebotene gerichtliche Überprüfung der staatsanwaltschaftlichen Auswahlentscheidung auf Ermessensfehler (vgl. Ostendorf-Schady, aaO., Rn. 11 in Fn. 12: „entsprechend den Grundsätzen zum Ermessen im allgemeinen Verwaltungsrecht“) würde voraussetzen, dass die Staatsanwaltschaft die ihre Entscheidung tragenden Erwägungen niedergelegt und die getroffene Wahl in einem Aktenvermerk oder im Rahmen der Anklageschrift begründet, da nur so gerichtlich beurteilt werden könnte, ob beispielsweise sachfremde Erwägungen in die Entscheidung Eingang gefunden haben oder einzustellende Umstände außer Betracht geblieben sind. Eine solche Begründungspflicht – die überdies bei konsequenter Fortführung auch in anderen Fällen, in denen nach den §§ 7 ff. StPO mehrere Gerichte örtlich zuständig sind, greifen müsste – begegnet nach Auffassung des Senats aber nicht nur unter verfahrensökonomischen Gesichtspunkten erheblichen Bedenken, sondern ist auch von Gesetzes wegen nicht geboten. Aus allgemeinen rechtsstaatlichen Gesichtspunkten folgt solange keine Begründungspflicht, als die Entscheidung der Staatsanwaltschaft mit dem Gesetzeswortlaut in Einklang steht und sich nicht sachfremde Erwägungen für die getroffene Wahl aufdrängen (Thüringer Oberlandesgericht, aaO.). Dies gilt umso mehr, als auch Fälle denkbar sind, in denen schlechterdings kein sachlicher Grund vorhanden ist, der entscheidend für das eine oder gegen das andere Gericht spräche (vgl. Thüringer Oberlandesgericht, aaO., mit dem Beispiel von zwei geständigen Mittätern, deren Wohnsitze in zwei Gerichtsbezirken liegen und deren Taten sich gleichmäßig auf diese Bezirke verteilen). Eine Verpflichtung der Staatsanwaltschaft, ihre bei der Anklageerhebung getroffene Wahl zu begründen, besteht daher nach zutreffender Ansicht ebensowenig, wie das Fehlen einer Begründung die Annahme von Willkür rechtfertigt (Thüringer Oberlandesgericht, aaO.; Diemer/Schatz/Sonnen, aaO., Rn. 21).

Gegen eine weitergehende Prüfungskompetenz sprechen zudem die Gesichtspunkte des § 12 StPO und der Verfahrensförderung, die dadurch zum Ausdruck kommen, dass – nach erhobener Anklage – dem zuerst mit einer Sache befassten Gericht grundsätzlich der Vorrang zukommt. Die – bis zur Grenze der Willkür – bindende Auswahl der Staatsanwaltschaft unter mehreren zuständigen Gerichten im Rahmen der gesetzlichen Regelungen ohne die Möglichkeit der Verweisung von einem Gericht an ein anderes oder einer Kontrolle nach § 23 EGGVG soll Zuständigkeitsstreitigkeiten und damit Verfahrensverzögerungen, wie sie ansonsten vermehrt auftreten könnten, gerade vermeiden (vgl. Thüringer Oberlandesgericht, aaO.).

c) Dies zugrunde gelegt, erweist sich die Entscheidung der Staatsanwaltschaft Bochum, die Angeschuldigten gemeinsam im Gerichtsstand des Tatortes gemäß § 7 StPO bei dem Landgericht Bochum anzuklagen, jedenfalls nicht als willkürlich. Hierfür sind insbesondere die folgenden Erwägungen maßgeblich:

aa) Auch wenn sich die pflichtgemäße Ermessensentscheidung der Staatsanwaltschaft grundsätzlich sowohl an der regelmäßigen Rangfolge des § 42 Abs. 2 JGG als auch an den durch § 42 JGG zum Ausdruck kommenden gesetzlichen Wertungen auszurichten hat, ist allgemein anerkannt, dass sachliche Gründe der Staatsanwaltschaft Veranlassung geben können, von der insoweit statuierten Rangfolge abzuweichen (vgl. Eisenberg, aaO., Rn. 15). Zu solchen Gesichtspunkten zählen u.a. die Interessen von Beschuldigten, Zeugen und sonstigen Verfahrensbeteiligten sowie Gesichtspunkte der Verfahrensbeschleunigung (Eisenberg, aaO.). Insbesondere kann eine einheitliche Anklage im Gerichtsstand des § 7 StPO gegen sämtliche Tatbeteiligten zu einer konzentrierten und schnelleren Erledigung der Sache führen. Diese sachbezogene Erwägung ist auch dem Jugendstrafrecht nicht fremd, denn der Erziehungsgedanke fordert eine zeitnahe und vor allem gegenüber den verschiedenen Beschuldigten möglichst einheitliche, auf ihre jeweiligen Tatbeiträge abgestimmte Aburteilung (Lange, NStZ 1995, 110, 112). Gerade Minderjährige können empfindlich reagieren, wenn sie mit dem gleichen Sachverhalt mehrfach, teils als Angeklagte, teils als Zeugen konfrontiert werden und möglicherweise dabei auf für sie nicht mehr nachvollziehbare unterschiedliche Wertungen treffen. Zu bedenken ist ferner die Möglichkeit, daß eine Verfahrensaufspaltung die jeweilige Beweislage so ausdünnt, daß in jedem Einzelverfahren nur noch „harmlose Mitläufer” der - wie dann in der jeweiligen Verhandlung nach dem Zweifelsgrundsatz kaum zu widerlegen ist - vor allem von den anderweitig Verfolgten zu verantwortenden Tat übrig bleiben (Lange, aaO.). Für eine Verfahrenskonzentration kann auch der im Jugendstrafrecht keineswegs unbeachtliche Gesichtspunkt des Opferschutzes sprechen; den Tatopfern ist es vielfach kaum zuzumuten, in verschiedenen Verfahren (bei Vertagungen evtl. auch noch mehrfach) dem bzw. den Täter(n) gegenüberzustehen und als Zeugen von neuem alle Einzelheiten widerspruchsfrei und unangreifbar zu schildern (Lange, aaO.).

bb) Entsprechende sachbezogene Gründe können – wie von der Staatsanwaltschaft Bochum und der Generalstaatsanwaltschaft Hamm zutreffend ausgeführt – auch im vorliegenden Verfahren Geltung beanspruchen: Sowohl die in der Anklageschrift benannten Zeugen als auch die Angeschuldigte zu III. sind im Landgerichtsbezirk Bochum wohnhaft bzw. zu laden. Auch die Angeschuldigte zu IV. hat – nachdem gerichtliche Schreiben unter der in der Anklageschrift mitgeteilten Anschrift in H in den Rücklauf gelangt sind – durch ihren Verteidiger nunmehr eine ladungsfähige Anschrift in I – und damit im Landgerichtsbezirk Bochum – mitgeteilt. Unter dem Gesichtspunkt des Opferschutzes ist zudem zu berücksichtigen, dass der Geschädigte nach dem Anklagevorwurf Opfer einer gravierenden Gewalttat geworden ist, durch welche er – nahe liegend – auch psychisch erheblich belastet ist. Der Erwägung, dem Geschädigten nach Möglichkeit eine mehrfache und für ihn belastende Zeugenaussage durch eine einheitliche Verhandlung zu ersparen, kommt daher im vorliegenden Fall besonderes Gewicht zu.

Die Staatsanwaltschaft Bochum hat auch zu Recht darauf hingewiesen, dass im vorliegenden Fall die Erforschung der Wahrheit und das Interesse an einer geordneten Rechtspflege die Durchführung eines einheitlichen Verfahrens – welches im Gerichtsstand des § 7 StPO gewährleistet ist – gebieten. Auch wenn – worauf das Landgericht Bochum grundsätzlich zutreffend hinweist – vorliegend voraussichtlich nur eine überschaubare Zahl von Zeugen zu vernehmen sein wird und das Geschehen räumlich und zeitlich begrenzt ist, stellt sich die Beweislage aufgrund des Turbulenzgeschehens mit mutmaßlich fünf tatbeteiligten Personen sowie des Umstandes, dass die Angeschuldigten selbst bislang keine Angaben zur Sache gemacht haben, als durchaus komplex dar. Insbesondere erscheint bereits jetzt absehbar, dass eine Rekonstruktion des Tatgeschehens und der jeweiligen konkreten Tatbeiträge der Angeschuldigten durch die Aussagen des Geschädigten sowie der anderen „Augenzeugen“ am ehesten bei gleichzeitiger Anwesenheit – und damit der Möglichkeit direkter Konfrontation und Gegenüberstellung – sämtlicher Beteiligter in einer Hauptverhandlung gelingen kann. Bei der nach Aktenlage gemeinschaftlich begangenen Tat kann den Belangen der Angeschuldigten zudem auch bei der Strafzumessung am wirksamsten in einer gemeinsam geführten Hauptverhandlung Rechnung getragen werden, da diese die Gewähr für eine angemessene Abstufung etwaiger Rechtsfolgen bietet.

Der Senat bemerkt in diesem Zusammenhang auch, dass es wertungswidersprüchlich erschiene, die im pflichtgemäßen Ermessen der Staatsanwaltschaft Bochum stehende Entscheidung, die Verfahren gegen die Angeschuldigten aus den genannten Gründen aufgrund des persönlichen und sachlichen Zusammenhangs zur Erforschung der Wahrheit und im Interesse einer geordneten Rechtspflege gemäß § 103 Abs. 1 JGG zu verbinden (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 02.11.2010, 5 Ws 364/10, BeckRS 2011, 07224), über die Statuierung eines gerichtlich zu überprüfenden Vorrangs der besonderen Gerichtsstände gemäß § 42 JGG gegenüber dem allgemeinen Gerichtsstand nach § 7 StPO für einen Teil der Angeschuldigten zu unterlaufen.

cc) Demgegenüber kommt den in § 42 JGG zum Ausdruck gebrachten Wertungen des Gesetzgebers im vorliegenden Fall kein solches Gewicht zu, dass die Auswahl der Staatsanwaltschaft Bochum zugunsten der Jugendkammer des Landgerichts Bochum als sachfremd oder willkürlich erschiene. Dabei ist das Landgericht Bochum in dem angefochtenen Beschluss im Ansatz zutreffend davon ausgegangen, dass für die Erhebung der Anklage gegen die Angeschuldigten zu I., IV. und V. im Gerichtsstand des § 42 JGG die im JGG insgesamt zum Ausdruck gekommene Wertung des Gesetzgebers sprechen könnte, die Verfahren jeweils täterbezogen unter Vorrang des Erziehungsgedankens durchzuführen. Dabei sollen die persönlichen Bindungen des Minderjährigen und die Einheit seiner Erziehung berücksichtigt werden. Insoweit besteht grundsätzlich eine besondere Entscheidungsnähe des Richters am Wohnort bzw. des mit den familiengerichtlichen Erziehungsaufgaben befassten Richters, zumal auch die Jugendgerichtshilfe dort am besten eingesetzt werden kann (vgl. Ostendorf-Schady, aaO., Rn. 10; Lange, NStZ 1995, 110, 111 f.).

Diese jugendstrafrechtsspezifischen Erwägungen sind vorliegend aufgrund der konkreten Umstände des Falles jedoch erheblich relativiert. So hat das Landgericht Bochum in dem angefochtenen Beschluss zutreffend darauf hingewiesen, dass die Landgerichtsbezirke Bochum und Essen unmittelbar aneinander grenzen. Spürbare, den Erziehungsgedanken gefährdende Erschwernisse für die in H wohnhaften minderjährigen bzw. heranwachsenden Angeschuldigten bei einer Verhandlung vor dem Landgericht Bochum sind schon wegen der räumlichen Nähe ebensowenig ersichtlich wie Probleme bei der Einbindung der Jugendgerichtshilfe. Weshalb dem Vorrang des Erziehungsgedankens, den persönlichen Bindungen der Jugendlichen bzw. Heranwachsenden oder der Einheit ihrer Erziehung im konkreten Fall bei einer denkbaren Verhandlung vor der Jugendkammer des Landgerichts Essen eher Rechnung getragen werden könnte, erschließt sich dem Senat im konkret zu beurteilenden Fall nicht. Soweit das Landgericht Bochum die von der Staatsanwaltschaft getroffene Auswahlentscheidung in Anlehnung an § 42 Abs. 3 JGG und die hierzu vom Bundesgerichtshof ergangenen Entscheidungen (vgl. u. a. Beschluss vom 10.05.2006 – 2 ARs 176/06 – in StraFo 2006, 415) deshalb für ermessensfehlerhaft erachtet, weil erhebliche Erschwernisse für das Verfahren bei Durchführung des Hauptverfahrens gegen die Angeschuldigten zu I., IV. und V. vor dem für ihren Aufenthaltsort zuständigen Gericht nicht ersichtlich seien, merkt der Senat an, dass § 42 Abs. 3 JGG hier nicht einschlägig ist.

dd) Dass aufgrund des Sachzusammenhangs eine einheitliche Verhandlung gegen sämtliche Angeschuldigte gemäß §§ 42 Abs. 1, 103, 108 JGG, §§ 8, 13 Abs. 1 StPO auch vor der insoweit ebenfalls örtlich zuständigen Jugendkammer des Landgerichts Essen möglich gewesen wäre, rechtfertigt jedenfalls nicht die Annahme von Willkür bei der Ausübung des Auswahlermessens durch die Staatsanwaltschaft Bochum.

2. Hat das Landgericht Bochum damit in dem angefochtenen Beschluss bezüglich der Angeschuldigten zu I., IV. und V. zu Unrecht die eigene örtliche Unzuständigkeit ausgesprochen, entfällt auch die Grundlage für die Abtrennung des Verfahrens gegen die Angeschuldigten zu II. und III.

Der Senat bemerkt in diesem Zusammenhang ergänzend, dass die in dem angefochtenen Beschluss – wenn auch nicht entscheidungstragend – geäußerte Rechtsauffassung, wonach aus Sicht der Kammer die Voraussetzungen für eine Verbindung der Strafsachen gegen die Jugendlichen bzw. Heranwachsenden und Erwachsenen gemäß § 103 Abs. 1 JGG nicht erfüllt wären (S. 6, 2. Abs. des angefochtenen Beschlusses), von dem Senat aus den bereits zu Ziffer 1. c) bb) dargelegten Gründen – auf die zur Vermeidung von Wiederholungen verwiesen wird – nicht geteilt wird.

Der angefochtene Beschluss war nach alledem insgesamt aufzuheben und die Sache an die hinsichtlich sämtlicher Angeschuldigten auch örtlich zuständige Jugendstrafkammer des Landgerichts Bochum zurückzuverweisen.

3. Die Kosten und Auslagen der Angeschuldigten für das Beschwerdeverfahren waren der Landeskasse aufzuerlegen. Die Staatsanwaltschaft Bochum hat die Beschwerde nicht im Sinne des § 473 Abs. 2 StPO zugunsten oder zuungunsten der Angeschuldigten eingelegt, sondern nur, um eine mit dem Gesetz in Einklang stehende gerichtliche Entscheidung herbeizuführen (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, aaO., § 473 Rn. 17 m.w.N.).



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