Aktenzeichen: 1 Vollz(Ws) 150/16 OLG Hamm
Leitsatz: Zur Begründung der Ablehnung einer Gewährung vollzugsöffnender Maßnahmen im Sinne des § 53 StVollzG bedarf es der positiven Feststellung des Vorliegens einer Flucht- und/oder Missbrauchsgefahr. Die alleinige Bezugnahme auf die mangelnde Aufarbeitung der der schwerwiegenden Straftat des Betroffenen zu Grunde liegenden Gewalttätigkeit ist dazu nicht ausreichend.
Senat: 1
Gegenstand: Beschwerde
Stichworte: Versagung von Vollzugslockerungen, Anforderungen
Normen: StVollzG 119
Beschluss:
Strafvollzugssache
In pp.
hat der 1. Strafsenat des OLG Hamm am 09.06.2016 beschlossen:
Die Rechtsbeschwerde wird zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zugelassen.
Der angefochtene Beschluss wird mit Ausnahme der Festsetzung des Geschäftswertes aufgehoben.
Der Bescheid des Leiters der JVA S vom 22. September 2015 betreffend die Nichtgewährung einer Ausführung wird aufgehoben. Die Vollzugsbehörde wird angewiesen, den Betroffenen unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Senats neu zu bescheiden.
Die Kosten des Verfahrens einschließlich der notwendigen Auslagen des Betroffenen hat die Landeskasse zu tragen.
Gründe
I.
Der Antragsteller verbüßt auf Grundlage eines Urteils des Landgerichts Bonn vom 15. September 2008 in der JVA S eine neunjährige Freiheitsstrafe wegen versuchten Mordes zum Nachteil seiner Ehefrau, welche er unter Einsatz eines Messers zu töten versucht hatte; das Strafende ist auf den 04. März 2017 notiert.
Nach den Feststellungen des angefochtenen Beschlusses beantragte der Betroffene am 02. Juni 2015 eine Ausführung. Dieser Antrag wurde am 14. September 2015 abgelehnt. Zur Begründung wurde in einem an die Prozessbevollmächtigte des Betroffenen gerichteten Schreiben vom 22. September 2015 des Leiters der Vollzugsanstalt ausgeführt, dass der Antragsteller seine der Tat zugrundeliegende Gewalttätigkeit bislang nicht aufgearbeitet habe. Für eine Ausführung gemäß § 53 Abs. 3 StVollzG erfülle der Antragsteller zudem wegen der Dauer der von ihm zu verbüßten Strafe nicht die tatbestandlichen Voraussetzungen.
Gegen diese Entscheidung richtete sich der Antrag auf gerichtliche Entscheidung vom 06. Oktober 2015
Dem ist die JVA mit der Begründung entgegengetreten, trotz des beanstandungsfreien Verzugsverhaltens des Betroffenen sei wegen der fehlenden Tataufarbeitung eine Missbrauchsgefahr gegeben, welche der Gewährung vollzugsöffnender Maßnahmen entgegenstehe. Zudem bestehe auch eine Fluchtgefahr, weil gegen den Betroffenen eine vollziehbare Abschiebeverfügung vorliege und dieser geäußert habe, nicht in sein Heimatland zurückkehren zu wollen.
Durch den angefochtenen Beschluss hat das Landgericht den Antrag auf gerichtliche Entscheidung zurückgewiesen:
Der Antragsgegner habe vorliegend seine ablehnende Entscheidung hinsichtlich der Gewährung einer Ausführung mit "dem nicht kalkulierbaren Missbrauchsrisiko" begründet, welches aufgrund des Umstandes bestehe, dass der Betroffene bislang nicht in ausreichender Form Verantwortung für seine Tat übernommen und sich nicht mit seinem Gewaltpotenzial auseinandergesetzt habe. Überdies liege auch ein "nicht kalkulierbareres Fluchtrisiko" im Hinblick auf die bestehende Abschiebungsverfügung vor. Es sei nicht zu beanstanden, dass die Vollzugsanstalt aufgrund dieser Abwägung den Ausführungsantrag abgelehnt habe, es sei "nicht ausgeschlossen, dass er sich seiner Abschiebung entziehen und eine Ausführung zur Flucht nutzen könnte".
Hiergegen wendet sich der Betroffene mit seiner Rechtsbeschwerde, mit der er die unrichtige Anwendung des § 53 StVollzG NW rügt.
Das Justizministerium Nordrhein-Westfalen hat beantragt, die Rechtsbeschwerde als unzulässig zu verwerfen.
II.
Das Rechtsmittel hat Erfolg.
Die auch im Übrigen zulässige Rechtsbeschwerde war auf die Sachrüge zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zuzulassen.
Zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfolgt die Zulassung der Rechtsbeschwerde, wenn vermieden werden soll, dass schwer erträgliche Unterschiede in der Rechtsprechung entstehen oder fortbestehen, wobei es darauf ankommt, welche Bedeutung die angefochtene Entscheidung für die Rechtsprechung im Ganzen hat.
Vorliegend hat die Justizvollzugsanstalt und ihr nachfolgend die Strafvollstreckungskammer die vollständige Verweigerung von Lockerungen für den Betroffenen im Hinblick auf eine Missbrauchsgefahr letztlich ausschließlich bzw. zumindest vornehmlich damit begründet, dass eine hinreichende Tataufarbeitung nicht erfolgt und - so der angefochtene Beschluss - eine nicht kalkulierbare Missbrauchsgefahr gegeben sei. Ebenso liege ein "nicht kalkulierbares Fluchtrisiko" im Hinblick auf die bestehende Abschiebungsverfügung vor, es sei "nicht ausgeschlossen, dass er sich seiner Abschiebung entziehen und eine Ausführung zur Flucht nutzen könnte"..
Diese Begründung der angefochtenen Entscheidung steht im Widerspruch zur ständigen Senatsrechtsprechung und birgt angesichts der erheblichen Bedeutung der Sache für den Betroffenen dementsprechend die Gefahr schwer erträglicher Abweichungen innerhalb der Rechtsprechung.
Nach der gefestigten Entsprechung des Senats bedarf es für die Annahme einer Missbrauchsgefahr im Sinne des § 53 StVollzG NW deren positiver Feststellung (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 29. September 2015 - III-1 Vollz (Ws) 411/15, [...]). Im Rahmen einer weiteren Entscheidung vom 16. Juli 2015 (III - 1 Vollz(Ws) 247/15) hat der Senat u.a. folgendes ausgeführt:
"Zudem muss eine Missbrauchsgefahr positiv festgestellt werden, so dass es nicht genügt, wenn sie nicht sicher auszuschließen ist; fehlende Mitarbeit an der Behandlung reicht für sich allein zur positiven Feststellung der Missbrauchsgefahr grundsätzlich ebenso wenig aus wie das Fehlen einer günstigen Sozialprognose (OLG Brandenburg, Beschl. v. 25.09.2013 - 2 Ws (Vollz) 148/13, BeckRS 2014, 07702, m.w.N.). Soweit der angefochtene Beschluss ausführt, es sei nicht "einschätzbar, ob eine Missbrauchsgefahr zu befürchten ist", deutet dies darauf hin, dass dieser Maßstab verkannt worden ist."
Gleiches gilt nach der Rechtsprechung des Senats für die Beurteilung des Vorliegens einer Fluchtgefahr, welche zur Verweigerung von Lockerungen ebenfalls positiv festzustellen ist; ein insoweit etwaig bestehendes "non liquet" reicht dafür nicht aus (OLG Hamm, Beschluss vom 04. November 2014 - III-1 Vollz (Ws) 475/14, [juris]).
Die vorliegend getroffene Bewertung der Strafvollstreckungskammer, die Versagung von Lockerungen sei gerechtfertigt, weil das Missbrauchs- und Fluchtrisiko "nicht kalkulierbar" sei, weicht von dieser Rechtsprechung maßgeblich ab, da eine positive Feststellung von Missbrauchs- und Fluchtgefahr als entbehrlich angesehen wird. Der angefochtene Beschluss war dementsprechend aufzuheben.
Gleichzeitig erweist sich auch der angefochtene Bescheid der Justizvollzugsanstalt S vom 22. September 2015 als rechtsfehlerhaft und unterliegt mithin der Aufhebung durch den Senat. Nach dem Inhalt dieses dem Antrag auf gerichtliche Entscheidung beigefügten und mithin dem Senat unabhängig von den Feststellungen des angefochtenen Beschlusses zur Überprüfung im Rechtsbeschwerdeverfahren zugänglichen Bescheid hat die Justizvollzugsanstalt die Ablehnung von Lockerungen allein mit der mangelnden Aufarbeitung der der schwerwiegenden Straftat des Betroffenen zu Grunde liegenden Gewalttätigkeit begründet, woraus sich "auch in absehbarer Zeit keine Anschlussperspektive für vollzugsöffnende Maßnahmen wie Ausgang oder Langzeitausgang bzw. für eine entsprechende Lockerungsplanung" ergebe. Diese Begründung der JVA S lässt über die Frage hinreichender Tataufarbeitung hinausgehend jegliche Auseinandersetzung mit weiteren Umständen vermissen, welche im Rahmen der Lockerungsprüfung in die Erwägungen mit einzubeziehen sind (vgl. dazu u.a. Senat, Beschluss vom 14. Dezember 2004 - 1 Vollz (Ws) 153/04 -, [juris]; Beschluss vom 27. November 2008, III-1 Vollz (WS) 1007/08 - [juris]) und zudem geeignet sein müssten, die für die Verweigerung vollzugsöffnender Maßnahmen gemäß § 53 StVollzG NW erforderliche Annahme einer Flucht- und/oder Missbrauchsgefahr positiv zu begründen.
Dies gilt zumal dann, wenn - wie vorliegend - ausschließlich unselbstständige Lockerungen begehrt werden. Hierzu hat der Senat mit Beschluss vom 25. Februar 2016 (III - 1 Vollz (Ws) 28/16 OLG Hamm) folgendes ausgeführt:
"Für das weitere Verfahren weist der Senat darauf hin, dass die Versagung von Lockerungen in der Vollzugsplanfortschreibung nur dann frei von Ermessensfehlern und verhältnismäßig ist, wenn die Gründe hierfür nicht pauschal, sondern lockerungsbezogen abgefasst sind (vgl. BVerfG, Beschluss vom 04.05.2015 - 2 BvR 1753/14 -, [juris]; OLG Koblenz, Beschluss vom 31.01.2014 - 2 Ws 689/13 (Vollz), BeckRS 19279, jeweils m.w.N.). Die Kammer wird zu prüfen haben, ob die Vollzugsbehörde auch nachvollziehbare Ausführungen dazu gemacht hat, inwiefern negative Umstände in der Persönlichkeit und Entwicklung des Betroffenen jegliche Lockerungsformen, also auch Begleitausgänge bis zu 24 Stunden im Sinne des § 53 Abs. 2 Nr. 1 StVollzG NRW, ausschließen. Denn die bei dieser Lockerungsform vorgesehene Aufsicht einer begleitenden Person hat gerade den Sinn, Flucht- und Missbrauchsgefahren entgegenzuwirken (vgl. OLG Koblenz a.a.O. unter Verweis auf: BVerfG, 2 BvR 865/11 vom 20.06.2012, NStZ-RR 2012, 387 für Ausführungen nach § 11 Abs. 1 Nr. 2 StVollzG)."
Es bedurfte vorliegend keiner Entscheidung, ob es sich bei den in dem angefochtenen Beschluss mitgeteilten (über den Inhalt des angefochtenen Bescheids hinausgehenden) weiteren Erwägungen der Vollzugsanstalt, welche im Rahmen des Antrages auf gerichtliche Entscheidung vorgebracht worden sind, um ein unzulässiges und mithin nicht zu berücksichtigendes Nachschieben von Gründen gehandelt hat, da diese - wie bereits oben aufgezeigt - angesichts der erfolgten Verkennung der Notwendigkeit einer positiven Feststellung von Missbrauchs- und/oder Fluchtgefahr ebenfalls nicht geeignet sind, die erfolgte vollständige Versagung von Lockerungen rechtsfehlerfrei zu begründen.
Da mithin im vorliegenden Fall Entscheidungsreife im Sinne des § 119 Abs. 4 S. 2 StVollzG gegeben war, bedurfte es keiner Zurückverweisung der Sache an die Strafvollstreckungskammer. Vielmehr war insoweit über den angefochtenen Beschluss hinausgehend der angegriffene Bescheid unmittelbar aufzuheben und die Justizvollzugsanstalt zur Neubescheidung zu verpflichten.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 121 Abs. 4 StVollzG i.V.m. § 467 Abs. 1 StPO
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