Aktenzeichen: 1 Vollz (Ws) 276/17 OLG Hamm
Leitsatz: Die gerichtliche Überprüfung der maßgeblich auf den Verdacht einer erneuten Straftat gestützten Ablehnung vollzugsöffnender Maßnahmen (hier: begleitetem Ausgang) erstreckt sich in tatsächlicher Hinsicht grundsätzlich allein darauf, ob die Vollzugsbehörde ihrer Entscheidung einen vollständig und zutreffend ermittelten Sachverhalt zugrunde gelegt hat. Letzteres erfordert jedoch grundsätzlich, dass die Vollzugsbehörde zumindest den Gegenstand des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens und dessen aktuellen Stand aufklärt.
Senat: 1
Gegenstand: Beschwerde
Stichworte: Strafvollzug; gerichtliche Überprüfung der Ablehnung vollzugsöffnender Maßnahmen
Normen: StVollzG NRW 53
Beschluss:
Strafvollstreckungssache
In pp.
hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 20.07.2017 beschlossen:
Die Rechtsbeschwerde wird zugelassen.
Der angefochtene Beschluss wird mit Ausnahme der Festsetzung des Gegenstandswertes aufgehoben.
Der Bescheid des Leiters der JVA S vom 26.01.2017 betreffend die Ablehnung eines begleiteten Ausgangs wird aufgehoben. Die Vollzugsbehörde wird angewiesen, den Betroffenen unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Senats neu zu bescheiden.
Die Kosten des Verfahrens einschließlich der notwendigen Auslagen des Betroffenen hat die Landeskasse zu tragen.
Gründe:
I.
Der Betroffene verbüßt wegen Betäubungsmitteldelikten eine Gesamtfreiheitsstrafe von 14 Jahren. Von dieser Strafe sind seit dem 23.09.2016 zwei Drittel verbüßt; das Strafende ist auf den 25.05.2021 notiert.
Am 14.06.2016 beantragte der Betroffene die Gewährung eines Begleitausgangs, der - nachdem eine erste ablehnende Entscheidung des Antragsgegners von der Strafvollstreckungskammer am 22.11.2016 aufgehoben worden war - von dem Antragsgegner mit schriftlichem Bescheid vom 26.01.2017 wegen Flucht- und Missbrauchsgefahr erneut abgelehnt wurde. Zur Begründung, die vom Betroffenen mit der Antragsschrift vom 31.01.2017 vorgelegt und daher vom Senat von Amts wegen zur Kenntnis genommen wurde sowie in zusammengefasster Form auch in dem vorliegend angefochtenen Beschluss wiedergegeben wird, hat der Antragsgegner nach verschiedenen für die Gewährung dieser Lockerung sprechenden Aspekten insbesondere ausgeführt:
Dem steht gegenüber:
Bei der Staatsanwaltschaft Aachen besteht noch ein offenes Verfahren zum Az. 901 Js 126/14. Auf hiesige Nachfrage teilte die StA Aachen mit Schreiben vom 12.08.2016 mit: Diesseits bestehen nicht unerhebliche Bedenken gegen Lockerungen. Der Verurteilte zeigt sich weiterhin - auch in dem laufenden Strafverfahren - völlig uneinsichtig. Es sind in vorliegender Sache von fast 5 Jahre zu vollstrecken, ohne dass nach hiesiger Einschätzung Aussicht auf eine bedingte Entlassung besteht. Lt. Schreiben der StA Aachen vom 03.03.2016 ist in dieser Sache die Hauptverhandlung ab dem 08.04.2016 terminiert.
Ferner hat der Antragsgegner - zusammengefasst - auf die noch ausstehende abschließende Entscheidung im ausländerrechtlichen Verfahren des Betroffenen sowie auf die mangels Einsicht in sein strafbares Verhalten weiterhin fehlende Aufarbeitung der Taten abgestellt und schließlich ausgeführt, dass unter Abwägung aller Umstände und der auch bei einer zu der Frage einer vorzeitigen Entlassung erfolgten sachverständigen Begutachtung bestätigten deutlichen Persönlichkeitsakzentuierung des Betroffenen mit paranoiden, narzisstischen und dissozialen Strukturanteilen sowie seiner völlig fehlenden Einsicht in sein strafbares Verhalten eine Flucht- und Missbrauchsgefahr bestehe.
Den gegen diesen Bescheid eingelegten Antrag des Betroffenen auf gerichtliche Entscheidung hat die Strafvollstreckungskammer mit dem angefochtenen Beschluss als unbegründet zurückgewiesen. Der Vollzugsbehörde stehe bei der Einschätzung des Bestehens von Flucht- oder Missbrauchsgefahr im Sinne des § 53 Abs. 1 StVollzG NRW ein Beurteilungsspielraum zu, dessen Einhaltung gerichtlich nur dahin zu überprüfen sei, ob die Vollzugsbehörde von einem zutreffend und vollständig ermittelten Sachverhalt ausgegangen sei, man den richtigen Begriff der Versagungsgründe zugrunde gelegt habe und ob die Beurteilung des Gefangenen vertretbar sei. Diesen Anforderungen werde - wie in dem angefochtenen Beschluss näher ausgeführt wird - die aufgrund von Flucht- und Missbrauchsgefahr gestützte Ablehnung des beantragten Begleitausgangs durch den Antragsgegner gerecht.
Gegen den Beschluss wendet sich der Betroffene mit der Rechtsbeschwerde, mit der er beantragt, den angefochtenen Beschluss aufzuheben und den Antragsgegner zur Bewilligung eines Begleitausgangs zu verpflichten oder - hilfsweise - das Verfahren zur erneuten Entscheidung an das Landgericht Bonn zurückzuverweisen.
Das Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen hält die Rechtsbeschwerde mangels Zulassungsgrundes für unzulässig.
II.
1. Die form- und fristgerecht eingelegte Rechtsbeschwerde war gemäß § 116 Abs. 1 StVollzG zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zuzulassen.
Zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfolgt die Zulassung der Rechtsbeschwerde, wenn vermieden werden soll, dass schwer erträgliche Unterschiede in der Rechtsprechung entstehen oder fortbestehen, wobei es darauf ankommt, welche Bedeutung die angefochtene Entscheidung für die Rechtsprechung im Ganzen hat.
Zwar weist die Strafvollstreckungskammer zutreffend darauf hin, dass sich die Überprüfung des der Vollzugsbehörde zustehenden Beurteilungsspielraums hinsichtlich des Bestehens von Flucht- oder Missbrauchsgefahr im Sinne des § 53 Abs. 1 StVollzG NRW nur nach den Maßstäben des § 115 Abs. 5 StVollzG richtet. Die Gerichte haben daher die Prüfung darauf zu beschränken, ob der Anstaltsleiter von einem zutreffenden und vollständig ermittelten Sachverhalt ausgegangen ist, ob er seiner Entscheidung den richtigen Begriff der Versagungsgründe zugrunde gelegt hat und ob seine Beurteilung des Gefangenen vertretbar ist.
Verkannt wurden in dem angefochtenen Beschluss indes die Anforderungen an eine - soweit dies nach den jeweiligen Umständen des Falles erforderlich ist - vollständige Ermittlung der für ihre Entscheidung maßgeblichen Tatsachen durch die Vollzugsbehörde. Diese ist grundsätzlich auch dann zur selbständigen und eigenverantwortlichen Ermittlungen der Tatsachen verpflichtet, die für eine von ihr zu treffende Entscheidung über vollzugliche Maßnahmen von Bedeutung sind, wenn gegen einen Gefangenen der Verdacht einer strafbaren Handlung entstanden ist und es der Klärung bedarf, was Gegenstand eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens ist und als wie substantiiert dieser Tatverdacht zu bewerten ist (allg. vgl. Senat, Beschluss vom 09.10.2008 - 1 Vollz (Ws) 643/08 -; bzgl. den Anforderungen bei einer Verlegung in den geschlossenen Vollzug vgl. Senat, Beschluss vom 12.01.2017 - III-1 Vollz (Ws) 527/16 -, m.w.N., jew. zit. n. juris).
Diesen Anforderungen ist der Antragsgegner bei der Ablehnung eines Begleitausgangs ersichtlich nicht gerecht geworden, indem maßgeblich auf ein gegen den Verurteilten gerichtetes laufendes Strafverfahren abgestellt wurde, ohne auch nur im Mindestmaß auf den Gegenstand dieses Verfahrens und den im Zeitpunkt der ablehnenden Entscheidung vom 31.01.2017 aktuellen Verfahrensstand einzugehen (die Mitteilung der Staatsanwaltschaft Aachen vom 29.02.2016 bezog sich auf eine ab dem 08.04.2016 terminierte Hauptverhandlung, ohne dass deren Ausgang bei der Entscheidung vom 31.01.2017 Berücksichtigung gefunden hätte), und stattdessen noch zu Lasten des Betroffenen die Einschätzung der Staatsanwaltschaft anzuführen, dass er sich in dem laufenden Strafverfahren völlig uneinsichtig zeige.
Der Umstand, dass die Strafvollstreckungskammer die insofern offensichtlich unzureichende Begründung einer Flucht- und Missbrauchsgefahr gleichwohl nicht beanstandet, sondern vielmehr ausdrücklich ausgeführt hat, dass der Antragsgegner von einem zutreffend und vollständig ermittelten Sachverhalt ausgegangen sei, birgt zumal angesichts der erheblichen Bedeutung der Sache für den Betroffenen die Gefahr einer schwer erträglichen Abweichung innerhalb der Rechtsprechung.
2. Die Rechtsbeschwerde hat aus den vorgenannten Gründen auch in der Sache Erfolg. Auf eine Zurückverweisung an die Strafvollstreckungskammer war nicht zu erkennen, da die Sache gemäß § 119 Abs. 4 S. 2 StVollzG spruchreif ist. Die unzureichende Begründung der Ablehnung eines begleiteten Ausgangs durch die Vollzugsbehörde hat zur Folge, dass über den angefochtenen Beschluss hinausgehend der angegriffene Bescheid unmittelbar aufzuheben und die Justizvollzugsanstalt zur Neubescheidung zu verpflichten war.
III.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 121 Abs. 4 StVollzG i. V. m. § 467 Abs. 1 StPO.
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