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Rechtsprechung

Aktenzeichen: 2 Ausl. 147/17 OLG Hamm

Leitsatz: Die Auslieferung eines Verfolgten aus der Bundesrepublik Deutschland in die Türkei zur Strafverfolgung oder Strafvollstreckung ist derzeit nicht generell unzulässig. Die aktuellen politischen und sozialen Umstände und Entwicklungen in der Türkei und deren Auswirkungen auf die Rechtsstaatlichkeit und die Haftbedingungen können aber insbesondere im Hinblick auf die Haftbedingungen ein Auslieferungshindernis im Sinne des § 73 IRG begründen.

Senat: 2

Gegenstand: Auslieferungssache

Stichworte: Auslieferung, Türkei, Strafverfolgung, Haftbedingungen

Normen: IRG 73

Beschluss:

Auslieferungssache
In pp.
hat der 2. Strafsenat des OLG Hamm am 11.12.2107 beschlossen:

Gründe:

I.

Die türkischen Behörden ersuchen auf der Grundlage des nationalen Haftbefehls des Gerichts in Ankara vom 20.04.2015 (Az. 2015/1515 ESAS) um die Auslieferung des Verfolgten wegen der Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung und haben ihn insoweit über Interpol im Wege einer Red Notice zur Festnahme ausgeschrieben.

In dem nationalen Haftbefehl des Gerichts in Ankara vom 20.04.2015 wird dem Verfolgten im Wesentlichen Folgendes zur Last gelegt:

Der Verfolgte sei Mitglied der bewaffneten Terrororganisation X. Nachdem er diese Organisation zunächst aus den Niederlanden heraus unterstützt habe, sei er nach seiner Heirat nach Deutschland gezogen und habe von dort weiterhin die Organisation unterstützt, indem er zunächst Geld im Namen der Organisation eingenommen habe. Zudem habe der Verfolgte durch Erpressungstaten und den Handel mit Betäubungsmitteln weitere Geldmittel für die Organisation aufgetrieben.

Der Verfolgte war am 04.08.2017 festgenommen worden und befand sich seit diesem Tage aufgrund der Festhalteanordnung des Amtsgerichts Dortmund vom selben Tag in Auslieferungshaft in der Justizvollzugsanstalt Dortmund bis zum 17.08.2017.

Im Rahmen seiner richterlichen Anhörung beim Amtsgericht Dortmund vom 04.08.2017 hat der Verfolgte nach der Bekanntgabe der Interpol Red Notice-Ausschreibung angegeben, staatenlos zu sein. Zu seinen persönlichen Verhältnissen und sozialen Bindungen in der Bundesrepublik Deutschland hat der Verfolgte angegeben, dass er verheiratet sei und drei Kinder habe. Er lebe mit seiner Frau zusammen. Er hätte früher gearbeitet, jetzt bekomme er Geld vom Arbeitsamt. Er sei seit 2004 in Deutschland. Seine Kinder seien 10, 9 und ein Jahr alt. Die älteren Kinder gingen zur Schule, seine Frau sei PTA, zurzeit aber in Elternzeit. Er habe die Türkei aus politischen Gründen verlassen und in den Niederlanden Asyl beantragt. Ihm sei auch Asyl gewährt worden. Er sei aus der Türkei ausgebürgert worden. Weiter hat der Verfolgte ausgeführt, dass er seinen Asylstatus in Deutschland anerkennen lassen habe, und hat insoweit im Rahmen der richterlichen Anhörung eine Reihe Unterlagen überreicht. Zu den ihm zur Last gelegten Tatvorwürfen hat der Verfolgte angegeben, dass diese nicht zutreffend seien. Der in der Interpol Red Notice-Ausschreibung benannte Zeuge sei ein bekannter Spitzel der türkischen Republik. Weiter hat der Verfolgte Einwendungen gegen seine Auslieferung erhoben.

Auf Anfrage der Generalstaatsanwaltschaft Hamm vom 04.08.2017 hat die Ausländerbehörde der Stadt Z mit Schreiben vom 09.08.2017 mitgeteilt, dass sich der Verfolgte nach einer Familienzusammenführung mit seiner Ehefrau seit dem 30.05.2005 in Deutschland aufhalte. Von den Niederlanden sei der Verfolgte als Flüchtling nach dem Genfer Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt worden. Im Jahr 2008 sei ihm ein Reiseausweis nach dem Genfer Abkommen ausgestellt worden, da die Zuständigkeit auf Deutschland übergegangen sei. Am 13.08.2008 sei ihm eine Niederlassungserlaubnis gemäß § 28 Abs. 2 AufenthG (familiäre Lebensgemeinschaft mit deutschen Staatsangehörigen) erteilt worden.

Ergänzend dazu hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mit Schreiben vom 11.08.2017 auf Anfrage der Generalstaatsanwaltschaft Hamm vom 09.08.2017 mitgeteilt, dass eine Überprüfung der asylrechtlichen Begünstigung des Ausländers ergeben habe, dass die Voraussetzungen für einen Widerruf oder eine Rücknahme der Flüchtlingseigenschaft nicht vorlägen.

Mit Antragsschrift vom 11.08.2017 hatte die Generalstaatsanwaltschaft Hamm beantragt, gegen den Verfolgten die vorläufige Auslieferungshaft anzuordnen.

Mit Beschluss vom 17.08.2017 hat der Senat den Antrag der Generalstaatsanwaltschaft Hamm vom 11.08.2017 auf Anordnung der vorläufigen Auslieferungshaft gegen den Verfolgten abgelehnt, die Festhalteanordnung des Amtsgerichts Dortmund vom 04.08.2017 aufgehoben und durch alleinige Entscheidung des mitunterzeichnenden Senatsvorsitzenden die sofortige Haftentlassung des Verfolgten in der vorliegenden Sache angeordnet. Zur Begründung hat der Senat - zusammengefasst - ausgeführt, dass die Auslieferung des Verfolgten aus Deutschland in die Türkei zur Strafverfolgung von vornherein unzulässig im Sinne des § 15 Abs. 2 IRG sei. Es bestünden konkrete Anhaltspunkte dafür, dass die Einhaltung von rechtsstaatlichen Prinzipien und Grundsätzen sowie die Gewährung von rechtsstaatlichen Verfahrensrechten in dem gegen den Verfolgten in der Türkei geführten Strafverfahren nicht gewährleistet seien. Weiter würde einer Auslieferung des Verfolgten auch entgegenstehen, dass ihm in der Türkei nach dem seinerzeitigen Kenntnisstand eine politische Verfolgung im Sinne des § 6 Abs. 2 IRG bzw. im Sinne des Art. 3 Abs. 2 EuAlÜbK drohe. Ferner stehe der Auslieferung auch entgegen, dass nach dem seinerzeitigen Kenntnisstand konkrete Anhaltspunkte dafür bestünden, dass dem Verfolgten im Falle seiner Auslieferung in die Türkei in der dortigen Untersuchungs- oder Strafhaft Folter oder eine sonst menschenunwürdige Behandlung drohe. Wegen der Einzelheiten und der weiteren Begründung wird auf den Senatsbeschluss vom 17.08.2017 (Bl. 88 ff. d. A.) Bezug genommen.

Der Verfolgte ist daraufhin noch am 17.08.2017 aus der Auslieferungshaft entlassen worden.

Mit Verbalnote vom 17.08.2017 hat das Auswärtige Amt den türkischen Behörden unter anderem mitgeteilt, dass der Verfolgte aufgrund des dortigen Festnahmeersuchens am 04.08.2017 (vorläufig) festgenommen worden sei, und die türkischen Behörden insoweit um die fristgerechte Übersendung der Auslieferungsunterlagen im Original auf diplomatischem Wege gebeten.

In der Folgezeit haben die türkischen Behörden dem Auswärtigen Amt mit Verbalnote vom 30.08.2017 zugesichert, dass der Verfolgte nach seiner Auslieferung für die Dauer seiner Inhaftierung in einer Strafvollzugsanstalt inhaftiert werde, die den Anforderungen nach Art. 3 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) vom 04.11.1950 und den in den europäischen Strafvollzugsgrundsätzen des Ministerkomitees des Europarates festgelegten und empfohlenen Mindeststandards entspricht und er keiner Folter oder unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK unterworfen werde. Weiter werde der für den Ort der Inhaftierung zuständigen deutschen Auslandsvertretung die Möglichkeit eingeräumt, den Verfolgten durch einen Mitarbeiter zu besuchen und sich vor Ort über die bestehenden Verhältnisse zu informieren. Ferner haben die türkischen Behörden zugesichert, dass EMRKStandards und eine richterliche Anhörung unmittelbar nach Eintreffen des Verfolgten in der Türkei gewährleistet seien.

Weiter haben die türkischen Behörden mit weiterer Verbalnote vom 25.09.2017 dem Auswärtigen Amt auf dem diplomatischen Geschäfts Weg die Auslieferungsunterlagen übersandt.

Mit Antragsschrift vom 04.12.2017 hat die Generalstaatsanwaltschaft Hamm beantragt, die Auslieferung des Verfolgten aus Deutschland in die Türkei zur Strafverfolgung wegen der in dem Haftbefehl des Gerichts in Ankara vom 20.04.2015 (Az. 2015/1515 ESAS) bezeichneten Tat für unzulässig zu erklären.

II.

Auf den Antrag der Generalstaatsanwaltschaft Hamm vom 04.12.2017 war die Auslieferung des Verfolgten aus Deutschland in die Türkei zur Strafverfolgung wegen der ihm in dem Haftbefehl des Gerichts in Ankara vom 20.04.2015 (Az. 2015/1515 ESAS) zur Last gelegten Straftat gemäß § 29 Abs. 1 IRG für unzulässig zu erklären.

Die Auslieferung des Verfolgten aus Deutschland in die Türkei zur Strafverfolgung ist wegen eines Verstoßes gegen die übergeordneten Wertungen des in § 73 IRG niedergelegten allgemeinen ordre public unzulässig.

Der Auslieferungsverkehr mit der Türkei findet grundsätzlich nach dem Europäischen Auslieferungsübereinkommen vom 13.12.1957 (EuAlÜbK) i.V. m. dem 2. Zusatzprotokoll vom 17.03.1978 zu dem vorbezeichneten Übereinkommen statt.

Der Senat ist - in Übereinstimmung mit dem Oberlandesgericht Köln (vgl. Beschluss vom 01.02.2017, Az. 6 Ausl A 70/16 - 58), dem Oberlandesgericht Frankfurt am Main (vgl. Beschluss vom 12.05.2017, Az. 2 Ausl A 76/15), dem Kammergericht Berlin (vgl. Beschluss vom 17.01.2017, Az. (4) 151 AuslA 11/16 (10/17)) und dem Oberlandesgericht München (vgl. Beschluss vom 16.08.2016, Az. 1 AR 252/16) - auch nicht der Auffassung, dass die Auslieferung eines Verfolgten aus der Bundesrepublik Deutschland in die Türkei zur Strafverfolgung oder Strafvollstreckung derzeit generell unzulässig ist (Beschlüsse des Senats vom 12.06.2017, Az. Az. III - 2 Ausl. 94/17, und vom 08.06.2017, Az. III - 2 Ausl. 133/16).

Die aktuellen politischen und sozialen Umstände und Entwicklungen in der Türkei seit der Verhängung des Ausnahmezustandes im Juli 2016 und deren Auswirkungen auf die Rechtsstaatlichkeit und die Haftbedingungen dort können zwar insbesondere im Hinblick auf die Haftbedingungen ein Auslieferungshindernis im Sinne des § 73 IRG begründen, ein diesbezügliches mögliches Auslieferungshindernis kann jedoch aus Sicht des Senats dadurch ausgeräumt werden, dass die türkischen Behörden eine völkerrechtlich verbindliche Zusicherung in Bezug auf das in Rede stehende Auslieferungshindernis abgeben. Im Auslieferungsverkehr zwischen Deutschland und anderen Staaten ist dem ersuchenden Staat im Hinblick auf die Einhaltung der Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit und des Menschenrechtsschutzes grundsätzlich Vertrauen entgegenzubringen (BVerfG, Beschluss vom 09.03.2016, Az. 2 BvR 348/16; Beschluss vom 15.12.2015, Az. 2 BvR 2735/14; Beschluss vom 05.11.2003, Az. 2 BvR 1243/03), wobei die von einem ersuchenden Staat im Auslieferungsverkehr abgegebenen völkerrechtlich verbindlichen Zusicherungen aufgrund des gegenseitigen Vertrauens grundsätzlich auch geeignet sind, etwaige Bedenken hinsichtlich der Zulässigkeit der Auslieferung auszuräumen, sofern nicht im Einzelfall zu erwarten ist, dass die Zusicherung nicht eingehalten wird (vgl. BVerfG, Beschluss vom 09.03.2016, Az. 2 BvR 348/16; Beschluss vom 09.04.2015, Az. 2 BvR 221/15; Beschluss vom 01.12.2003, Az. 2 BvR 879/03; Beschluss vom 23.02.1983, Az. 1 BvR 1019/82).

Aufgrund des Schreibens des Bundesamtes für Justiz vom 24.02.2017 über die Auswirkungen des Ausnahmezustandes in der Türkei auf die Rechtsstaatlichkeit und die dortigen Haftbedingungen, wonach die von den türkischen Behörden abgegebenen Zusicherungen nach dem derzeitigen Kenntnisstand belastbar seien und bei Bedarf auch überprüft werden können, sieht der Senat derzeit auch weiterhin keinen Anlass, daran zu zweifeln, dass die von den türkischen Behörden im abgegebenen Zusicherungen auch tatsächlich beachtet und eingehalten werden sowie bei Bedarf auch überprüft werden können.

Im vorliegenden Fall stehen der Auslieferung des Verfolgten in die Türkei wegen der aktuellen politischen und sozialen Umstände und Entwicklungen in der Türkei seit der Verhängung des Ausnahmezustandes im Juli 2016 und deren Auswirkungen auf die Rechtsstaatlichkeit und die Haftbedingungen aber Auslieferungshindernisse im Sinne des § 73 IRG entgegen.

Nach § 73 IRG ist die Leistung von Rechtshilfe unzulässig, wenn sie wesentlichen Grundsätze der deutschen Rechtsordnung widersprechen oder gegen grundrechtlich geschützte Rechtspositionen des Verurteilten verstoßen würde, sowie wenn die Erledigung der Rechtshilfe zu den in Art. 6 des Vertrages über die Europäische Union enthaltenen Grundsätzen im Widerspruch stünde (vgl. Beschlüsse des Senats vom 11.04.2017, Az. III - 2 Ausl. 50/17, und vom 31.01.2017, Az. III - 2 Ausl 217/16; OLG Celle, Beschluss vom 22.12.2016, Az. 1 AR (Ausl) 59/16).

Ein Verstoß gegen grundrechtsgleiche und rechtsstaatliche Garantien kann wegen der grundsätzlichen, im vertraglichen Bereich bestehenden Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland zur Auslieferung sowie der Achtung und dem Respekt vor fremden Rechtsordnungen nur beschränkt auf eine Verletzung ihres Kernbereiches zu einem Auslieferungshindernis führen, wobei hierfür maßgeblich ist, ob die Auslieferung und ihr zugrundeliegende Akte gegen den nach Art. 25 GG völkerrechtlich verbindlichen Mindeststandard sowie gegen unabdingbare verfassungsrechtliche Grundsätzen der öffentlichen Ordnung verstoßen würden (vgl. Beschlüsse des Senats vom 17.08.2017, Az. III - 2 Ausl. 102/17, vom 14.07.2016, Az. III - 2 Ausl. 93/16, und vom 10.09.2013, Az. 2 Ausl. 95/11). Damit ist eine Auslieferung unzulässig, wenn diese fundamentalen Grundsätzen der deutschen Rechtsordnung oder dem völkerrechtlich verbindlichen Mindeststandard auf dem Gebiet der Menschenrechte widerspricht (vgl. BVerfG, NJW 1975, 1; OLG Hamm, StV 2008, 648; OLG Karlsruhe, NStZ 2005, 351; OLG Düsseldorf, NJW 1990, 1429).

Unter Berücksichtigung dieser Maßstäbe ist die Auslieferung des Verfolgten aus Deutschland in die Türkei zur Strafverfolgung unzulässig. Es bestehen konkrete Anhaltspunkte dafür, dass die Einhaltung von rechtsstaatlichen Prinzipien und Grundsätzen sowie die Gewährung von rechtsstaatlichen Verfahrensrechten in dem gegen den Verfolgten in der Türkei geführten Strafverfahren nicht gewährleistet sind.

Aus dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Türkei vom 19.02.2017 ergibt sich - zusammengefasst - zunächst, dass in der Türkei bei Strafverfahren mit politischen Tatvorwürfen bzw. Terrorismusbezug - anders als bei Fällen von allgemeiner Kriminalität - rechtsstaatliche und unabhängige Verfahren kaum bzw. zumindest nicht durchgängig gewährleistet sind.

Zudem sind ausweislich des Schreibens des Bundesamtes für Justiz vom 24.02.2017 über die Auswirkungen des Ausnahmezustandes in der Türkei auf die Rechtsstaatlichkeit und die dortigen Haftbedingungen in der Türkei seit der Verhängung des Ausnahmezustandes im Juli 2016 eine Reihe von Notstandsregelungen und Dekreten erlassen worden, durch welche die in der Türkei im allgemeinen geltenden strafprozessualen Regelungen für Straftaten aus den Bereichen des Staatsschutzes und der politischen Taten sowie des Terrorismus modifiziert und die rechtsstaatlichen Prinzipien und Grundsätze sowie die Gewährung von rechtsstaatlichen Verfahrensrechten der Beschuldigten erheblich eingeschränkt worden sind.

So sind z.B. nach Art. 6 des Dekrets 667 die zulässige Dauer des Polizeigewahrsams ohne eine richterliche Entscheidung auf 30 Tage verlängert worden. Bislang war bei einem Verdacht terroristischer oder organisierter Kriminalität ein Polizeigewahrsam von max. 4 Tagen zulässig. Darüber hinaus können die Vernehmungen des jeweiligen Beschuldigten nunmehr auch durch die Polizei selbst erfolgen. Weiter besteht nunmehr die Möglichkeit der Einschränkung oder der vollständigen Untersagung der Kommunikation zwischen einem Verteidiger und einem Untersuchungshäftling bei einem Verdacht der Übermittlung von Nachrichten, Aufträgen oder Weisungen Dritter. Auf Anordnung des Staatsanwalts können zudem die Gespräche mit technischen Geräten aufgezeichnet werden oder müssen im Beisein einer Aufsichtsperson geführt werden, wobei die Schwelle, bei der von diesen Befugnissen Gebrauch gemacht wird, von den türkischen Ermittlungsbehörden eher niedrig angesetzt wird. Weiter ist auch die Beschlagnahme von Unterlagen, Akten und Gesprächsnotizen erlaubt. Alternativ können die Besuchszeiten eingeschränkt werden. Ferner ist eine Beschränkung der Besuchserlaubnis auf nahe Angehörige sowie eine Einschränkung des telefonischen Kontakts auf 10 Minuten alle zwei Wochen möglich. Unter bestimmten Voraussetzungen ist sogar der Ausschluss eines Verteidigers von der Verteidigung bzw. ein Verbot der Verteidigung durch einen bestimmten Rechtsanwalt möglich. Weiter können Einwände sowie Anträge auf Überprüfung der Untersuchungshaft und Haftentlassung allein nach Aktenlage und ohne eine Anhörung des Beschuldigten entschieden werden, wohingegen nach den in der Türkei allgemein geltenden strafprozessualen Regelungen bei der Überprüfung der Untersuchungshaft oder bei Entscheidungen über Haftentlassungsanträgen eine Anhörung des Beschuldigten grundsätzlich erforderlich ist.

Zudem können nach Art. 3 des Dekrets 668 Haftbefehle bei Gefahr in Verzug nunmehr auch von einem Staatsanwalt erlassen werden, wohingegen nach den allgemeinen geltenden strafprozessualen Regelungen ein Haftbefehl nur von einem Richter auf Antrag eines Staatsanwaltes erlassen werden kann. Im Falle der Festnahme eines Verdächtigen aufgrund eines bestehenden Haftbefehls kann dieser ebenfalls für maximal 30 Tage in Polizeigewahrsam genommen werden, wohingegen die allgemeinen strafprozessualen Regelungen eine Vorführung vor den Haftrichter innerhalb von 24 Stunden vorsehen. Weiter kann das Recht auf Einsicht des Verteidigers in die Verfahrensakten sowie zur Anfertigung von Kopien aus der Akte bei Verdacht auf Verdunkelungsgefahr durch einen Staatsanwalt unterbunden werden. Eine solche Einschränkung der Akteneinsicht findet sich zwar auch in den allgemeinen strafprozessualen Regelungen für eine Reihe von anderen Straftaten, jedoch ist hierfür danach ein richterlicher Beschluss erforderlich. Auch der Zugang zu einem Verteidiger kann im Polizeigewahrsam durch einen Beschluss des Staatsanwaltes für fünf Tage verwehrt werden.

Vor diesem Hintergrund bestehen im vorliegenden Fall konkrete Anhaltspunkte dafür, dass im Falle der Auslieferung des Verfolgten in die Türkei die Einhaltung von rechtsstaatlichen Prinzipien und Grundsätzen sowie die Gewährung von rechtsstaatlichen Verfahrensrechten in dem gegen ihn dort den geführten Strafverfahren nicht gewährleistet sind, da dem Verfolgten in dem dem Auslieferungsersuchen der türkischen Behörden zu Grunde liegenden Haftbefehl des Gerichts in Ankara vom 20.04.2015 auch Straftaten aus dem Bereich des Staatsschutzes bzw. der politischen Straftaten sowie des Terrorismus zur Last gelegt werden, welche zudem als Katalogstraftaten der oben genannten Notstandsregelungen ausdrücklich in deren Anwendungsbereich fallen. Die fehlende Gewährung eines rechtsstaatlichen Verfahrens widerspricht aber den fundamentalen Grundsätzen der deutschen Rechtsordnung und dem völkerrechtlich verbindlichen Mindeststandard auf dem Gebiet der Menschenrechte im oben genannten Sinne und stellt insoweit ein Auslieferungshindernis nach § 73 IRG dar.

Weiter steht der Auslieferung des Verfolgten auch entgegen, dass ihm in der Türkei nach dem jetzigen Kenntnisstand offenbar eine politische Verfolgung im Sinne des § 6 Abs. 2 IRG bzw. im Sinne des Art. 3 Abs. 2 EuAlÜbk droht. Ein gewichtiges Indiz hierfür ist, dass der Verfolgte ausweislich des Schreibens der Ausländerbehörde der Stadt Z vom 09.08.2017 sowie der Mitteilung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 11.08.2017 in den Niederlanden als Flüchtling nach dem Genfer Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt worden ist, auch wenn die näheren Anerkennungsgründe in den Niederlanden sowie die näheren Hintergründe der (politischen) Aktivitäten des Verfolgten in der Türkei nicht bekannt sind. Die Anerkennung als politischer Flüchtling durch einen anderen Vertragsstaat der Genfer Flüchtlingskonvention bewirken für die im Auslieferungsverfahren zuständigen Stellen zwar keine rechtliche Bindung, die Anerkennung muss jedoch als gewichtiges Beweisanzeichen für eine tatsächlich zu befürchtende politische Verfolgung berücksichtigt werden (vgl. BVerfG, Beschluss vom 14.11.1979, Az. 1 BvR 654/799). Weiter sei der Verfolgte ausweislich des Schreibens der Ausländerbehörde der Stadt Z vom 09.08.2017 sowie der Mitteilung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 11.08.2017 dann im Jahr 2005 im Rahmen der Familienzusammenführung mit seiner Ehefrau nach Deutschland eingereist, wo ihm im Jahr 2008 erstmals ein Reiseausweis nach dem Genfer Abkommen ausgestellt und ihm eine Niederlassungserlaubnis nach dem Aufenthaltsgesetz erteilt wurde. Zudem hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in dem Schreiben vom 11.08.2017 mitgeteilt, dass eine Überprüfung der asylrechtlichen Begünstigungen des Verfolgten ergeben habe, dass die Voraussetzungen für einen Widerruf oder eine Rücknahme der Flüchtlingseigenschaft nicht vorlägen.

Schließlich steht der Auslieferung auch entgegen, dass da nach dem derzeitigen Kenntnisstand konkrete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass dem Verfolgten im Falle seiner Auslieferung in die Türkei in der dortigen Untersuchungs- oder Strafhaft Folter oder eine sonst menschenunwürdige Behandlung droht (BVerfG NStZ 2001, 100; Beschluss des Senats vom 14.08.2008, Az. (2) 4 Ausl. A 98/06 (227 u. 228/08)). Dafür reicht es nicht bereits aus, dass eine menschenrechtswidrige Behandlung aufgrund früher bekannt gewordener Vorfälle nicht ausgeschlossen werden kann. Vielmehr muss unter Berücksichtigung des wachsenden Interesses der Nationen, flüchtige Tatverdächtige der Heimatjustiz zu übergeben, ein echtes Risiko unmenschlicher und erniedrigender Behandlung und Bestrafung bestehen (Beschluss des Senats vom 14.08.2008, Az. (2) 4 Ausl. A 98/06 (227 u. 228/08)). So verhält es sich auch hier. Ausweislich des Lageberichts des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Türkei vom 19.02.2017 herrscht dort zwar auch weiterhin eine Null-Toleranz-Politik gegenüber Folter des Staates. Es gebe auch keine offizielle Abweichung von dieser Null-Toleranz-Politik oder gar für eine systematische Folter durch den Staat bzw. die Strafverfolgungsbehörden. Dennoch gelte es als gesichert, dass es in unmittelbarer zeitlicher Nähe zu dem Putschversuch im Juli 2016 zu Misshandlungen bei der Festnahme von Verdächtigen und von sich in Gewahrsam befindlichen Personen gekommen ist, denen politische Straftaten oder Terrorismusdelikte zu Last gelegt werden. Auch aus dem Schreiben des Bundesamtes für Justiz vom 24.02.2017 geht hervor, dass in der Türkei in Judikative, Exekutive und Legislative auch weiterhin eine klare Positionierung gegen jede Art von Folter existiere. Gleichzeitig gebe es aber eine große Diskrepanz zwischen der Null-Toleranz-Politik und der Situation vor Ort, gerade auf Polizei- -und Gendarmeriestationen. Vor diesem Hintergrund muss davon ausgegangen werden, dass Personen wie der Verfolgte, die im Verdacht einer politischen Straftat oder des Terrorismus stehen, gerade in der Zeit zwischen einer Festnahme durch die Polizei und der Einschaltung eines Haftrichters oder eines Verteidigers der erhöhten Gefahr ausgesetzt sind, von den polizeilichen Ermittlungsbehörden misshandelt oder gar gefoltert zu werden. In dem dem Auslieferungsersuchen zu Grunde liegenden Haftbefehl des Gerichts in Ankara vom 20.04.2015 wird dem Verfolgten unter anderem seine Mitgliedschaft in der X sowie deren Unterstützung zur Last gelegt, wobei es sich bei der X aus Sicht der türkischen Behörden um eine bewaffnete Terrororganisation handelt.

Auch die von den türkischen Behörden übersandten Auslieferungsunterlagen und die von den türkischen Behörden abgegebenen Zusicherungen geben keine Veranlassung zu einer anderen Bewertung. Die allgemein gehaltenen Zusicherungen sind nicht geeignet, die aus den oben näher erläuterten Gründen bestehende Gefahr eines Verstoßes gegen die übergeordneten Wertungen des in § 73 IRG niedergelegten allgemeinen ordre public auszuräumen. Die von den türkischen Behörden abgegebenen Zusicherungen sind insbesondere nicht dazu geeignet, die Gefahr der dem Verfolgten im Falle seiner Auslieferung in der Türkei drohenden politischen Verfolgung im Sinne des § 6 Abs. 2 IRG bzw. im Sinne des Art. 3 Abs. 2 EuAlÜbK auszuräumen.

Es besteht keine Veranlassung zur Einholung weiterer bzw. ergänzender Zusicherungen von den türkischen Behörden, da nicht ersichtlich ist, dass die oben im Einzelnen erläuterten Gefahr der dem Verfolgten im Falle seiner Auslieferung in der Türkei drohenden politischen Verfolgung durch die Abgabe einer Zusicherung ausgeräumt werden kann.




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