Aktenzeichen: 1 Ss 406/06 OLG Hamm |
Leitsatz: Die Verhaftung eines Angeklagten stellt einen von seinem Willen unabhängigen Umstand dar, der von ihm nicht beeinflussbar und daher keine Eigenmächtigkeit i.S.v. § 231 Abs. 2 StPO darstellt. |
Senat: 1 |
Gegenstand: Revision |
Stichworte: Eigenmacht; Begriff; Verhaftung des Angeklagten in anderer Sache |
Normen: StPO 231 |
Beschluss: Strafsache gegen J.B. wegen Betruges Auf die Revision des Angeklagten gegen das Urteil der 3. kleinen Strafkammer des Landgerichts Siegen vom 30. Mai 2006 hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 26. 09. 2006 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht, die Richterin am Oberlandesgericht und den Richter am Landgericht nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft gemäß § 349 Abs. 4 StPO einstimmig beschlossen: Das angefochtene Urteil wird mit den zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben. Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an eine andere kleine Strafkammer des Landgerichts Siegen zurückverwiesen. G r ü n d e : I. Der Angeklagte ist durch Urteil des Amtsgerichts Siegen vom 21. Juni 2005 wegen Computerbetruges in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Monaten verurteilt worden. Die gegen dieses Urteil gerichtete Berufung des Angeklagten hat das Landgericht Siegen mit dem angefochtenen Urteil vom 30. Mai 2006 verworfen. Nach den Urteilsfeststellungen verschaffte sich der Angeklagte unter nicht aufzuklärenden Umständen am 13. November 2003 die Benutzerdaten der Geschädigten Münker bezüglich einer Kundenkarte der Firma "D.", die einen bargeldlosen Einkauf ermöglichte, wobei die Beträge der Einkäufe sodann per Einzugsermächtigung vom Girokonto des Karteninhabers abgebucht wurden. Unter Verwendung dieser Benutzerdaten und unter falscher Namensangabe habe der Angeklagte per Internet durch elektronischen Einkauf bei der Firma "D." hochwertige Parfums erworben. Die Geldbeträge seien dem Girokonto der Geschädigten belastet worden. Darüber hinaus ist den Feststellungen zu entnehmen, dass, nachdem der Angeklagte am 15. Mai 2006 an der Berufungshauptverhandlung teilgenommen hatte, er am 19. Mai 2006 in Frankreich verhaftet worden ist. Ihm werde zur Last gelegt, an diesem Tag einen Betrug begangen zu haben. Gegen dieses Urteil hat der Angeklagte durch Schriftsatz seines Verteidigers vom 31. Mai 2006, eingegangen beim Landgericht Siegen am 1. Juni 2006, Revision eingelegt. Nach Zustellung des Urteils am 26. Juni 2006 hat der Prozessbevollmächtigte des Angeklagten mit am 27. Juni 2006 eingegangenem Schriftsatz die Revision begründet. Er rügt die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Im Rahmen der formellen Rüge hat er ausgeführt, die Berufungskammer habe in Abwesenheit des Angeklagten verhandelt. Sie habe sein Fehlen als nicht entschuldigt angesehen. Dieser Punkt bedürfe der Überprüfung. Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, das angefochtene Urteil mit den zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben. II. Die form- und fristgerecht eingelegte Revision des Angeklagten hat mit der Verfahrensrüge auch Erfolg. Zu Recht macht der Beschwerdeführer eine Verletzung von § 338 Nr. 5 StPO i.V.m. § 231 Abs. 2 StPO geltend. Der Rüge liegt folgender prozessualer Sachverhalt zugrunde: In der Hauptverhandlung vor der 3. kleinen Strafkammer des Landgerichts Siegen vom 15. Mai 2006 war der Angeklagte anwesend. Die Sitzung wurde sodann unterbrochen und es wurde ein Fortsetzungstermin für den 30. Mai 2006 anberaumt. Alle Verfahrensbeteiligten wurden mündlich geladen. Zum Fortsetzungstermin am 30. Mai 2006 war der Angeklagte nicht erschienen. Laut Hauptverhandlungsprotokoll erklärte der Verteidiger, sein Büro habe den Anruf eines Herrn A. bekommen, dass der Angeklagte am vergangenen Wochenende in Frankreich verhaftet worden sei. Der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft erklärte, auf Bitten des Gerichts habe er sich mit der Polizei in Siegen in Verbindung gesetzt, um abzuklären, ob der Angeklagte sich in Frankreich aufhalte. Die Ermittlungen hätten ergeben, dass der Angeklagte am 19. Mai 2006 in Frankreich wegen eines aktuellen Betruges verhaftet worden sei. Es wurde sodann das Telefax des gemeinsamen Zentrums der deutsch-französischen Polizei- und Zollzusammenarbeit vom 30. Mai 2006 verlesen. Aus diesem Fax vom 30. Mai 2006 ergibt sich, dass der Angeklagte wegen Betruges festgenommen worden ist. Ob er sich in einem längerfristigen Gewahrsam oder in Haft befinde, lasse sich in dieser Zeitspanne nicht feststellen. Das Landgericht hat sodann die Beweisaufnahme fortgesetzt und schließlich geschlossen. Der Verteidiger und der Vertreter der Staatsanwaltschaft hielten ihre Schlussvorträge. Nach Beratung wurde anschließend das Urteil verkündet. Aus einem weiteren Telefax des gemeinsamen Zentrums der deutsch-französischen Polizei- und Zollzusammenarbeit vom 31. Mai 2006 ergibt sich, dass der Angeklagte sich vom 21. Mai 2006 bis voraussichtlich 20. September 2006 in Frankreich in Haft befindet. Danach hat die Hauptverhandlung am 30. Mai 2006 ohne den Angeklagten stattgefunden. Diese Verfahrensweise war rechtsfehlerhaft. Das Landgericht durfte nicht in Abwesenheit des Angeklagten weiterverhandeln. Der Angeklagte ist nach § 231 Abs. 1 StPO grundsätzlich zur ununterbrochenen Anwesenheit während der gesamten Hauptverhandlung verpflichtet. Verstößt er gegen diese Verpflichtung, indem er sich aus der Hauptverhandlung entfernt oder bei der Fortsetzung einer unterbrochenen Hauptverhandlung ausbleibt, so kann diese nach § 231 Abs. 2 StPO in seiner Abwesenheit zu Ende geführt werden, wenn er über die Anklageschrift vernommen worden war und das Gericht seine weitere Anwesenheit nicht für erforderlich erachtet. Über den Wortlaut dieser Vorschrift hinaus ist Voraussetzung allerdings, dass sich der Angeklagte eigenmächtig entfernt oder eigenmächtig ausbleibt, d.h. ohne Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgründe wissentlich seiner Anwesenheitspflicht nicht genügt (BGH, NStZ 2003, 561; BGH NStZ 1993, 446). Dabei obliegt es nicht dem Angeklagten, glaubhaft zu machen, dass sein Ausbleiben nicht auf Eigenmächtigkeit beruht. Diese ist ihm vielmehr nachzuweisen. Es kommt auch nicht darauf an, ob das Gericht Grund zu der Annahme hatte, der Angeklagte hätte die Fortsetzung der Hauptverhandlung vorsätzlich nicht wahrgenommen, sondern allein darauf, ob eine solche Eigenmächtigkeit i.S.v. § 231 Abs. 2 StPO tatsächlich vorlag. Das Revisionsgericht prüft dabei selbständig ggf. im Wege des Freibeweises nach, ob die Eigenmächtigkeit auch zum Zeitpunkt des Revisionsverfahrens nachgewiesen ist, ohne an die Feststellungen des Tatrichters gebunden zu sein (BGH NStZ 1997, 295; OLG Hamm, Beschluss vom 22. Dezember 2004 - 3 Ss 403/04 -). Eine solche Eigenmächtigkeit i.S.v. § 231 Abs. 2 StPO lag hier nicht vor. Die Verhaftung des Angeklagten stellt einen von seinem Willen unabhängigen Umstand dar, der von ihm nicht beeinflussbar war. Da von einem Angeklagten nicht verlangt werden kann, dass er den Fortgang des gegen ihn gerichteten Verfahrens mitbetreibt, kommt es auch nicht darauf an, ob der Angeklagte bei seiner Verhaftung etwa auf den bevorstehenden Verhandlungstermin aufmerksam gemacht hat (BGH VRS 36, 212). Insoweit kann vorliegend dem Angeklagten nicht angelastet werden, dass er - über den offenbar mittelbar erfolgten Hinweis an den Pflichtverteidiger hinaus - dem Gericht gegenüber seine Verhaftung in anderer Sache im Ausland nicht rechtzeitig vor dem Fortsetzungstermin mitgeteilt hat. Die Tatsache der Verhaftung, und somit der fehlenden Eigenmächtigkeit des Angeklagten, ergab sich bereits aus dem Telefax vom 30. Mai 2006. Danach war zwar nicht feststellbar, ob der Angeklagte in Frankreich in Gewahrsam oder in Haft genommen war, es war jedoch erkennbar, dass sich dieser nicht auf freiem Fuß befand. Aber selbst wenn das Tatgericht aufgrund des Telefaxes vom 30. Mai 2006 sich nicht hinreichend sicher von der fehlenden Eigenmächtigkeit des Angeklagten zu überzeugen vermochte, ist dies ohne Bedeutung. Jedenfalls aufgrund des Telefaxes vom 31. Mai 2006 steht freibeweislich fest, dass der Angeklagte sich seit dem 21. Mai 2006 bis voraussichtlich zum 20. September 2006 in Frankreich in Haft befand. Da das Revisionsgericht selbstständig, ggf. im Wege des Freibeweises, nachprüft, ob die Eigenmächtigkeit noch im Zeitpunkt des Revisionsverfahrens nachgewiesen ist, ohne an die Feststellungen des Tatrichters gebunden zu sein, ist festzustellen, dass sich der Angeklagte im Zeitpunkt der Fortsetzungshauptverhandlung am 30. Mai 2006 in Frankreich in Untersuchungshaft in anderer Sache befand und es somit an einer Eigenmächtigkeit des Ausbleibens fehlt. Da die Voraussetzungen des § 231 Abs. 2 StPO nicht vorliegen, durfte die Hauptverhandlung nicht in Abwesenheit des Angeklagten fortgesetzt und beendet werden. Der unbedingte Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO führt zur Aufhebung des Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an eine andere kleine Strafkammer des Landgerichts Siegen, ohne dass auf die Sachrüge einzugehen ist. |
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