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Rechtsprechung

Aktenzeichen: 2 Ws 88/07 OLG Hamm

Leitsatz: Das Beschleunigungsgebot erfordert es, dass ein Mitglied des erkennenden Gerichts, das zugleich auch Beisitzer in einer Strafvollstreckungskammer ist, dort anstehende Anhörungstermine aufhebt bzw. verlegt, um eine laufende Hauptverhandlung fortzuführen.

Senat: 2

Gegenstand: Beschwerde

Stichworte: Beschleunigungsgebot; Aussetzung; Hauptverhandlung; Justizfehler;

Normen: StPO 121

Beschluss:

Strafsache
gegen J.H.
wegen schwerer räuberischer Erpressung, (hier: Haftbeschwerde).

Auf die (Haft-) Beschwerde des Angeklagten vom 15. März 2007 gegen den Beschluss des Landgerichts Bochum – große auswärtige Strafkammer Recklinghausen – vom 30. November 2006 in Verbindung mit dem Haftbefehl vom 06. März 2006 hat der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 29. 03. 2007 durch den Richter am Oberlandesgericht, den Richter am Oberlandesgericht und die Richterin am Oberlandesgericht nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft beschlossen:

Der Haftbefehl des Landgerichts Bochum vom 06. März 2006 (21 KLs 10 Js 407/05 I 8/06) wird aufgehoben.

Die Landeskasse trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem Angeklagten im Beschwerdeverfahren entstandenen notwendigen Auslagen.

Gründe:
I.
Das Landgericht Bochum hat in dieser Sache gegen den Angeklagten durch Haftbefehl vom 06. März 2006 (AZ: 21 KLs 10 Js 407/05 I 8/06) die Untersuchungshaft angeordnet, die auf den Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO gestützt worden ist. Die Staatsanwaltschaft Bochum hatte zuvor unter dem 21. Februar 2006 gegen den Beschwerdeführer wegen schwerer räuberischer Erpressung Anklage erhoben, die die zuständige Strafkammer durch Eröffnungsbeschluss vom 30. November 2006 zur Hauptverhandlung zugelassen hat. In diesem Beschluss ist zudem die „Fortdauer der Untersuchungshaft“ angeordnet worden. Eine weitere Entscheidung über die Aufrechterhaltung der Haftanordnung ist seitdem – mit Ausnahme der jetzigen Nichtabhilfeentscheidung vom 20. März 2007 – nicht ergangen.

Dem Angeklagten wird zur Last gelegt, in den Abendstunden des 08. November 2001 die Spielhalle „S.“ in Recklinghausen überfallen und die Spielhallenaufsicht unter Vorhalt eines Messers mit einer 20 cm langen Klinge zur Herausgabe des Wechselgeldes und des in einem Tresor befindlichen Bargeldes gezwungen sowie unter Ausnutzung der Zwangslage des Opfers aus einer Ledertasche weitere 1.000,00 DM entnommen zu haben. Die Tatbeute soll etwa 2.000,00 DM betragen haben.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Haftbefehl und die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Bochum Bezug genommen.

Der vielfach vorbestrafte Angeklagte befindet sich seit dem 03. März 2005 für andere Strafverfahren ununterbrochen in Untersuchungs- oder Strafhaft. So hat ihn das Amtsgericht Hameln durch – sogleich rechtskräftiges – Urteil vom 29. März 2004 (AZ: 10 Ds 2011 Js 89565/03 (32/04)) wegen Diebstahls und Computerbetruges zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und zwei Monaten mit Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt. Die Bewährung wurde zwischenzeitlich widerrufen. Durch – ebenfalls sogleich rechtskräftiges – Urteil vom 30. Mai 2005 (AZ: 10 Ls 1543 Js 90910/04 (1/05)) hat es ihn u. a. wegen Diebstahls und vorsätzlicher Körperverletzung mit einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren belegt, die der Angeklagte unter Anrechnung von Untersuchungshaft seit dem 03. März 2005 verbüßt. Das Ende der Strafzeiten ist auf den 01. Februar 2008 notiert. Für das vorliegende Verfahren ist aufgrund des Haftbefehls Überhaft notiert, die ab dem 02. Februar 2008 zu vollziehen wäre.

Mit Verfügung vom 30. November 2006 hat der Vorsitzende der zuständigen Strafkammer Termin zur Hauptverhandlung mit zunächst einem Fortsetzungstermin anberaumt. Mit Beschluss vom 14. Februar 2007 hat das Landgericht am vierten Hauptverhandlungstag das Verfahren ausgesetzt, weil der Angeklagte versehentlich nicht aus der Justizvollzugsanstalt Sehnde (bei Hannover) vorgeführt worden war und innerhalb der gesetzlichen Frist eine Fortsetzung der Hauptverhandlung wegen anderweitiger dienstlicher Verhinderung der Beisitzerin nicht möglich gewesen sein soll. Daraufhin ist die Hauptverhandlung ausgesetzt worden, wobei ein neuer Termin von Amts wegen bestimmt werden sollte.

Der Angeklagte hat gegen den bestehenden Haftbefehl mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 15. März 2007 unter näherer Begründung Beschwerde eingelegt, der das Landgericht durch Beschluss vom 20. März 2007 nicht abgeholfen und sie dem Senat zur Entscheidung vorgelegt hat.

II.
Die Haftbeschwerde ist gemäß § 310 Abs. 1 StPO zulässig und hat im Ergebnis auch in der Sache Erfolg.

1. Zwar ist weiterhin von einem dringenden Tatverdacht auszugehen, zumal die Beurteilung des – von dem Angeklagten bzw. seinem Verteidiger angezweifelten – dringenden Tatverdachts, die das erkennende Gericht während laufender Hauptverhandlung vornimmt, im Haftbeschwerdeverfahren ohnehin nur in eingeschränktem Umfang der Nachprüfung durch das Beschwerdegericht unterliegt. Allein das Gericht, vor dem die Beweisaufnahme stattfindet, ist in der Lage, deren Ergebnisse aus eigener Anschauung festzustellen und zu würdigen sowie auf dieser Grundlage zu bewerten, ob der dringende Tatverdacht nach dem erreichten Verfahrensstand noch fortbesteht oder dies nicht der Fall ist. Das Beschwerdegericht hat demgegenüber keine eigenen unmittelbaren Kenntnisse über den Verlauf der Beweisaufnahme (vgl. BGH StV 2004, 142 m.w.N.; StV 1991, 525). Zwar ist die Hauptverhandlung zur Zeit ausgesetzt, die Strafkammer hat aber in ihrem Nichtabhilfebeschluss vom 20. März 2007, auf den zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen wird, die für ihre Entscheidung maßgeblichen Gründe näher dargelegt. Die Bewertung der Strafkammer betreffend den dringenden Tatverdacht ist danach - worauf es allein entscheidend ankommt - jedenfalls nicht unvertretbar (vgl. BGH a.a.O.).

2. Auch besteht weiterhin der Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO.
Diese ist immer dann anzunehmen, wenn die Würdigung der Umstände des Falles es wahrscheinlicher macht, dass ein Angeklagter sich dem Strafverfahren entzieht als dass er sich ihm zur Verfügung halten werde (vgl. KK-Boujong, StPO, 5. Aufl., § 112 Rdnr. 15; Meyer-Goßner, StPO, 49. Aufl., § 112 Rdnr. 17). Die im Strafverfahren zu erwartenden Rechtsfolgen sind dabei zu berücksichtigen. Ist mit der Verhängung einer hohen Strafe zu rechnen, so sind die Anforderungen an das Hinzutreten weiterer Umstände umso niedriger anzusetzen (vgl. KK-Boujong, a.a.O., Rdnr. 18 mit weiteren Nachweisen).
Davon ist hier auszugehen, da der geschiedene Angeklagte über keine ausreichenden sozialen Bindungen verfügt. Bei einer Gesamtbetrachtung der Lebensumstände des Angeklagten erscheint es dem Senat deshalb wahrscheinlicher, dass er sich bei einer Entlassung aus der jetzigen Haft dem Verfahren entzieht als dass er sich den Strafverfolgungsbehörden zur Verfügung hält.

Auch wenn die Tat bereits mehrere Jahre zurückliegt, hat der Angeklagte eine mehrjährige Strafe zu erwarten, wobei die späte Anklageerhebung darauf zurückzuführen ist, dass erst Mitte 2005 aufgrund eines DNA-Abgleichs die Person des Angeklagten als Tatverdächtiger identifiziert werden konnte.

Die Fluchtgefahr wird auch nicht dadurch ausgeräumt, dass sich der Angeklagte derzeit zur Verbüßung anderer Strafen in Strafhaft befindet und das Strafende auf den 01. Februar 2008 notiert ist. Es ist im konkreten Fall zwar nicht damit zu rechnen, dass der Angeklagte in absehbarer Zeit vorzeitig entlassen und ein Strafrest zur Bewährung ausgesetzt wird. Gleichwohl ist damit der Haftgrund der Fluchtgefahr aber nicht entfallen, worauf die Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Stellungnahme zutreffend hingewiesen hat (vgl. Beschluss des erkennenden Senats vom 22. Mai 2003 in 2 Ws 116/03 = StraFo 2003, 273 m. w. Nachw.; OLG Koblenz MDR 1969, 950; OLG Hamm NJW 1971, 1956; OLG Karlsruhe Justiz 1972, 321; OLG Düsseldorf NJW 1982, 1826; OLG Köln NStZ 1991, 605 mit ablehnender Anmerkung Möller NStZ 1991, 606, die sich zur Begründung ihrer gegenteiligen Auffassung auf die Entscheidungsbefugnisse des Anstaltsleiters nach dem Strafvollzugsgesetz beruft ; KK-Boujong, StPO, 5. Aufl., § 112 Rdnr. 15, 57; Lemke in Heidelberger Kommentar zur StPO, 3. Aufl., § 112 Rdnr. 17; Meyer-Goßner, a.a.O., § 112 Rdnr. 17; Löwe-Rosenberg-Dünnebier, StPO, 25. Aufl., § 112 Rdnr. 88; Paeffgen NStZ 1992, 482).

3. Gleichwohl ist aufgrund der Besonderheiten des vorliegenden Falles die Aufrechterhaltung der Haftanordnung und die daraus folgende Überhaftnotierung unverhältnismäßig, weil der Beschleunigungsgrundsatz nicht hinreichend beachtet worden ist. Diesem vor allem in Haftsachen geltenden Grundsatz hat auch das Bundesverfassungsgericht gerade in seiner jüngsten Rechtsprechung besonderes Gewicht beigemessen (vgl. vor allem BVerfG NJW 2005, 2612; 2005, 3485; 2006, 668; 2006, 672; 2006, 677; 2006, 1336; StV 2006, 251 jeweils m. w. Nachw.). Der Beschleunigungsgrundsatz gilt nicht nur, wenn die Untersuchungshaft vollzogen wird, sondern auch, wenn der Haftbefehl außer Vollzug gesetzt ist oder er, wie im vorliegenden Fall, wegen Überhaftnotierung derzeit - noch - nicht vollzogen wird, weil damit auch Einschränkungen der Freiheit verbunden sind.

Noch nicht zu beanstanden ist allerdings die Verfahrensweise bis zum Beginn der Hauptverhandlung, auch wenn die Tatzeit bereits im November 2001 lag. Denn erst Mitte 2005 konnten die am Tatort aufgefundenen Spuren aufgrund der anderweitig ermittelten DNA-Analyse dem Angeklagten zugeordnet werden. Es wurde nach Durchführung weiterer kriminalpolizeilicher Ermittlungen sodann im November 2005 seitens der Staatsanwaltschaft ein Gutachten zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Angeklagten in Auftrag gegeben, das der psychiatrische Sachverständige zeitnah unter dem 05. Februar 2006 erstellt hat. Unter dem 21. Februar 2006 hat die Staatsanwaltschaft Bochum daraufhin Anklage vor dem Landgericht Bochum – große auswärtige Strafkammer Recklinghausen – erhoben, die dem Angeklagten mit Verfügung des Vorsitzenden der Strafkammer vom 01. März 2006 zugestellt worden ist. Im April 2006 fand ein Verteidigerwechsel statt, worauf entsprechend dem Antrag des jetzigen Verteidigers ein Identitätsgutachten eines rechtsmedizinischen Sachverständigen aus Düsseldorf eingeholt wurde, das – nach zwischenzeitlicher Verlegung des Angeklagten in die Justizvollzugsanstalt Düsseldorf – Ende November 2006 vorlag. Bereits durch Beschluss vom 30. November 2006 hat die Strafkammer sodann das Hauptverfahren eröffnet und Termin zur Hauptverhandlung auf den 09. Januar 2007 mit zunächst nur einem für erforderlich erachteten Fortsetzungstermin bestimmt. Während der laufenden Hauptverhandlung wurde der rechtsmedizinische Sachverständige aufgrund neuer Erkenntnisse um eine ergänzende gutachterliche Stellungnahme gebeten, die inzwischen unter dem 13. März 2007 zu den Akten gelangt ist.

Letztlich nicht mehr hinnehmbar sind jedoch die Umstände, unter denen die Hauptverhandlung am 14. Februar 2007 ausgesetzt worden ist, zudem mit ungewissem Neubeginn.
Dass nämlich der auch während der Hauptverhandlung weiterhin in der Justizvollzugsanstalt Sehnde inhaftierte Angeklagte zu dem Fortsetzungstermin am 14. Februar 2007 nicht vorgeführt worden und daher nicht erschienen ist, liegt im Verantwortungsbereich der Justiz bzw. ist dieser zuzurechnen. Dem Schreiben des Leiters der Justizvollzugsanstalt Sehnde vom 12. März 2007 an den Verteidiger des Angeklagten ist zu entnehmen, dass ausschließlich ein dortiges Verwaltungs-versehen hierfür ursächlich war und im Ergebnis zu einer zeitlich nicht absehbaren Verzögerung des Verfahrens geführt hat. Warum die Strafkammer dann aber nicht den von ihr benannten „Durchlauftermin“ am 16. Februar 2007 und sodann den an sich möglichen Fortsetzungstermin am 06. März 2007 wahrgenommen hat, um die Hauptverhandlung fortzusetzen, ist nicht nachvollziehbar. Notfalls hätten die zur Begründung der Verhinderung aufgeführten anderweitigen Anhörungstermine der Beisitzerin in der Strafvollstreckungskammer aufgehoben bzw. verlegt werden müssen, zumal es sich insoweit um eine Zweitzuweisung handelt. Hierzu hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 29. November 2005 – 2 BvR 1737/05 – entschieden, dass eine Strafsache binnen angemessener Frist zum Abschluss gebracht werden muss und der Abbruch einer Hauptverhandlung notfalls durch einen „überobligationsmäßigen Einsatz der Richterbank“, der hier - soweit nach Aktenlage ersichtlich - nicht einmal nötig gewesen wäre, zu vermeiden ist (BVerfG, NJW 2006, 668, 671). Da nach einem Aktenvermerk des Vorsitzenden mit dem Neubeginn der Hauptverhandlung aufgrund der Belastung der Strafkammer mit anderen Haftsachen frühestens im September 2007 zu rechnen ist, führt die gebotene Abwägung zwischen dem Interesse der Rechtspflege an der Aufrechterhaltung des Haftbefehls und dem Freiheitsrecht des Angeklagten zur Aufhebung des nunmehr länger als ein Jahr bestehenden Haftbefehls.

III.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 467 StPO.



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