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Rechtsprechung

Aktenzeichen: 3 Ws 225/07 OLG Hamm

Leitsatz: Die Fürsorgepflicht des Gerichts gebietet in den Fällen, in denen der Angeklagte zwar aus Nachlässigkeit der Berufungshauptverhandlung ferngeblieben ist, aufgrund der Umstände aber feststeht, dass er sich dem Verfahren nicht entziehen, sondern sich ihm stellen will, jedenfalls dann ein über die allgemein übliche Wartezeit von 15 Minuten hinausgehendes Zuwarten, wenn dadurch weitere Belange des Berufungsgerichts, insbesondere die ordnungsgemäße Verhandlung der weiteren anstehenden Verfahren nicht beeinträchtigt werden


Senat: 3

Gegenstand: Revision

Stichworte: Berufungsverwerfung: Ausbleiben des Angeklagten; Verschulden; Fürsorgepflicht des Gerichts

Normen: StPO 329

Beschluss:

Strafsache
gegen A.K.
wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz, (hier: sofortige Beschwerde des Angeklagten gegen die Ablehnung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungshauptverhandlung).

Auf die sofortige Beschwerde des Angeklagten vom 22.02.2007 gegen den Beschluss der VII. kleinen Strafkammer des Landgerichts Bielefeld vom 15.02.2007 hat der 3. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 07. 05. 2007 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht, die Richterin am Oberlandesgericht und
die Richterin am Oberlandesgericht nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft und des Angeklagten bzw. seines Verteidigers beschlossen:

Der Beschluss der VII. kleinen Strafkammer des Landgerichts Bielefeld vom 15.02.2007 wird aufgehoben.

Dem Angeklagten wird auf seine Kosten (§ 473 Abs. 7 StPO i.V.m. § 349 Abs. 2 StPO) Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungshauptverhandlung gewährt.

Gründe:
I.
Das Amtsgericht Herford hat den Angeklagten am 22.08.2006 wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge unter Einbeziehung der Freiheitsstrafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Bad Oeynhausen vom 28.03.2006 (43 Js 1975/05 - 5 Ds 837/05) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und fünf Monaten verurteilt.

Gegen dieses Urteil hat der Angeklagte mit am 24.08.2006 bei dem Amtsgericht eingegangenem Schreiben seines Verteidigers vom 23.08.2006 Berufung eingelegt und mit weiterem Schreiben des Verteidigers vom 16.10.2006 die Berufung auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt.

Der Vorsitzende der Berufungskammer hat daraufhin mit Verfügung vom 17.10.2006 Termin zur Hauptverhandlung vor der VII. Strafkammer anberaumt auf den 29.11.2006, 09.00 Uhr. Zu dem Termin hat er die Ladung des Angeklagten und seines Verteidigers verfügt. Der Bewährungshelfer des Angeklagten erhielt Terminsnachricht. Zeugen wurden nicht geladen. Die Ladung, aus der sich insbesondere auch die genaue Anschrift des Landgerichts Bielefeld als Berufungsgericht ergibt, wurde dem Angeklagten am 20.10.2006 zugestellt.

Zu der Berufungshauptverhandlung am 29.11.2006 erschien der Angeklagte nicht. In der Akte befindet sich ein Vermerk, wonach ein Mitarbeiter des Amtsgerichts Herford der Geschäftsstelle der Berufungskammer um 09.10 Uhr am Terminstage telefonisch mitteilte, dass der Angeklagte dort (AG Herford) soeben erschienen sei, da er davon ausgegangen sei, der heutige Termin finde beim Amtsgericht statt. Gemäß telefonischer Rücksprache mit dem Vorsitzenden wurde der Angeklagte unter Hinweis auf § 329 StPO abbestellt.

Im Hauptverhandlungsprotokoll heißt es insoweit:

„Der Angeklagte war um 09.15 Uhr nicht erschienen.
Er hatte auf der Geschäftsstelle angerufen und mitgeteilt, dass er versehentlich zum Amtsgericht nach Herford gefahren sei.
Der Verteidiger erklärte, er habe gestern noch mit seinem Mandanten gesprochen und ihn ausdrücklich gefragt, ob er denn wisse, wo das Landgericht Bielefeld sei.“

Das Landgericht hat daraufhin die Berufung des Angeklagten gemäß § 329 Abs. 1 StPO u. a. mit der Begründung verworfen, dass der Angeklagte versehentlich zum falschen Gericht gefahren sei, stelle keine ausreichende Entschuldigung dar.

Mit am 04.12.2006 bei dem Landgericht eingegangenem Schreiben des Verteidigers hat der Angeklagte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungshauptverhandlung beantragt. Gleichzeitig hat er für den Fall der Verwerfung des Antrags auf Wiedereinsetzung Revision eingelegt.

Zur Begründung hat der Angeklagte ausgeführt, er habe sich lediglich irrtümlich zum Amtsgericht Herford begeben, da er davon ausgegangen sei, die Berufungshauptverhandlung finde ebenfalls vor diesem Gericht statt. Er habe aber nach wie vor erhebliches Interesse an der Durchführung der Berufung und habe dies auch durch sein Erscheinen bei dem Amtsgericht in Herford gezeigt. Um ihm ein faires Verfahren zu bieten, wäre es ohne weiteres möglich gewesen, die Hauptverhandlung auszusetzen und neuen Verhandlungstermin zu bestimmen oder am selben Tage die Hauptverhandlung zu einem späteren Zeitpunkt fortzusetzen. Die nächste Verhandlung am Terminstage sei erst auf 11.00 Uhr angesetzt worden. Angesichts der geringen Entfernung des Amtsgerichts Herford zum Landgericht Bielefeld von rund 16 Kilometern hätte der Angeklagte die Anreise in einem Zeitrahmen von 30 bis 40 Minuten bewerkstelligen können. Die Hauptverhandlung hätte vor diesem Hintergrund sogar noch vor 11.00 Uhr begonnen werden können, jedenfalls aber nach der auf 11.00 Uhr angesetzten Verhandlung durchgeführt werden können.

Das Landgericht hat nach Anhörung der Staatsanwaltschaft Bielefeld mit Beschluss vom 15.02.2007 das Wiedereinsetzungsgesuch verworfen. Zur Begründung hat es insbesondere ausgeführt, dass eine Verhandlung am selben Tage nicht zumutbar gewesen sei, da weitere Termine um 11.00 Uhr und um 13.30 Uhr angestanden hätten. Daher liege ein deutliches Verschulden des Angeklagten vor.

Gegen den seinem Verteidiger am 20.02.2007 zugestellten Beschluss wendet sich der Angeklagte mit seiner am 22.02.2007 bei den Bielefelder Justizbehörden eingegangenen sofortigen Beschwerde. Zur Begründung wiederholt er sein Vorbringen aus dem Wiedereinsetzungsantrag und betont erneut, dass der vorliegende Fall sich von denjenigen Fällen deutlich unterscheide, in denen der Angeklagte aus Desinteresse nicht zum Berufungshauptverhandlungstermin erscheine.

II.
Die gemäß § 329 Abs. 3 StPO i.V.m. § 46 Abs. 3 StPO statthafte sofortige Beschwerde ist zulässig und begründet. Dem Angeklagten war unter Aufhebung des angefochtenen Beschlusses Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungshauptverhandlung gemäß § 329 Abs. 2 StPO i.V.m. § 44 StPO zu gewähren, da er ohne Verschulden gehindert war, an der Berufungshauptverhandlung teilzunehmen. Trotz seiner Nachlässigkeit bei der Verwechslung des Berufungsgerichts mit dem Gericht des ersten Rechtszuges trifft den Angeklagten an der Versäumung der Berufungshauptverhandlung keine Schuld, weil die Berufungskammer die sich aus dem Grundsatz des fairen Verfahrens ergebende Fürsorgepflicht gegenüber dem Angeklagten hier dadurch verletzt hat, dass der Kammervorsitzende, nachdem der Angeklagte um 09.10 Uhr telefonisch mitgeteilt hatte, dass er sich versehentlich beim Amtsgericht Herford eingefunden habe, den Angeklagten unter Hinweis auf die Verwerfung der Berufung nach § 329 StPO ablud, statt ihm Gelegenheit zu geben, auf schnellstem Wege das Berufungsgericht aufzusuchen. Die Fahrtstrecke zwischen dem Amtsgericht Herford und dem Landgericht in Bielefeld beträgt senatsbekannt etwa 30 bis 40 Minuten. Der Angeklagte hätte daher am Terminstage bis etwa gegen 10.00 Uhr vormittags beim Landgericht in Bielefeld eintreffen können, wenn ihm anlässlich seines Telefonats um 09.10 Uhr des Terminstages mitgeteilt worden wäre, er solle sich auf dem schnellsten Weg zum Landgericht Bielefeld begeben. Eine Verhandlung der Berufung gegen 10.00 Uhr wäre nach der Terminsplanung der Kammer auch ohne weiteres möglich gewesen. Es hätte dann noch eine Stunde für die Durchführung der Berufungshauptverhandlung zur Verfügung gestanden, da die nächste Sache erst für 11.00 Uhr terminiert war. Dieser Zeitraum hätte voraussichtlich für die Durchführung der Berufungshauptverhandlung auch ausgereicht, da die Berufung auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt war und keine Zeugen geladen waren. Die Anhörung des Angeklagten zu seinen persönlichen Verhältnissen sowie die Anhörung des Bewährungshelfers hätten aber ohne weiteres innerhalb des vorgegebenen Zeitrahmens von einer Stunde durchgeführt werden können.

Bei dieser Sachlage verstieß die oben geschilderte Vorgehensweise der Berufungskammer gegen die sich aus dem fairen Verfahren ableitende Fürsorgepflicht des Gerichts (vgl. dazu OLG Zweibrücken, Beschluss vom 18.01.2007 - 1 Ss 188/06, beckRS 2007, 01449; KG, NStZ-RR 2002, 218, 219; OLG Koblenz, Beschluss vom 01.09.2003, 2 Ss 208/03, beckRS 2003, 30326960; Berliner Verfassungsgerichtshof, NJW-RR 2000, 1851; OLG Hamm, NStZ-RR 1997, 368, 369). Die Fürsorgepflicht des Gerichts bietet nämlich in den Fällen, in denen der Angeklagte zwar aus Nachlässigkeit der Berufungshauptverhandlung ferngeblieben ist, aufgrund der Umstände aber feststeht, dass er sich dem Verfahren nicht entziehen, sondern sich ihm stellen will, jedenfalls dann ein über die allgemein übliche Wartezeit von 15 Minuten hinausgehendes Zuwarten, wenn dadurch weitere Belange des Berufungsgerichts, insbesondere die ordnungsgemäße Verhandlung der weiteren anstehenden Verfahren nicht beeinträchtigt werden (OLG Zweibrücken, a.a.O.; OLG Hamm, a.a.O., 369; KG, a.a.O., 219; Berliner Verfassungsgerichtshof, a.a.O., 1451; OLG Koblenz, a.a.O.).

Dem Angeklagten war daher gemäß § 329 Abs. 3 StPO i.V.m. § 44 StPO Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungshauptverhandlung zu gewähren (OLG Hamm, a.a.O., S. 369). Der Angeklagte war im Wiedereinsetzungsverfahren mit seinem Entschuldigungsvorbringen auch nicht ausgeschlossen. Das Landgericht hat nämlich die Tatsachen, die vom Angeklagten als Entschuldigung für sein Nichterscheinen vorgebracht werden, im Berufungsurteil nur verkürzt gewürdigt. Es hat sich darauf beschränkt, die Nachlässigkeit des Angeklagten, die fraglos in dem Verwechseln des Gerichts liegt, herauszuarbeiten. Den Gesichtspunkt der Fürsorgepflicht hat das Landgericht dagegen erkennbar übersehen, obwohl ihm die zugrunde liegenden Tatsachen bekannt waren. In diesen Fällen ist nach der obergerichtlichen Rechtsprechung die Wiederholung des Entschuldigungsvorbringens im Wiedereinsetzungsverfahren zulässig (OLG Hamm, a.a.O., S. 369 m.w.N.).



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