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Rechtsprechung

Aktenzeichen: 3 Ss 43/08 OLG Hamm

Leitsatz: 1. Es verstößt nicht gegen das Verschlechterungsverbot, wenn das Berufungsgericht wegen einer nicht mehr möglichen nachträglichen Gesamtstrafenbildung strafmildernd einen Härteausgleich berücksichtigt, den das erstinstanzliche Gericht noch nicht in seine Strafzumessung einbezogen hatte, und dann dennoch auf eine gleichhohe Strafe wie in erster Instanz erkennt (abweichend von OLG Koblenz NStZ-RR 2004, 330 und OLG München NJW 2006, 1302).
2. Es ist bei der Vornahme des Härteausgleichs nicht erforderlich, zunächst eine fiktive Gesamtstrafe zu bilden und diese dann um die vollstreckte Strafe zu mildern, sondern es ist ausreichend, wenn der Härteausgleich als Strafmilderungsgrund (i.S.d. § 46 StGB) berücksichtigt wird.

Senat: 3

Gegenstand: Revision

Stichworte: Verfahrensverzögerung; Kompensation, Zulässigkeit;

Normen: StGB 46

Beschluss:

In pp.
Urteil
Die Revision wird auf Kosten des Angeklagten verworfen.
Gründe:
I.
Das Amtsgericht Detmold hat den vielfach – auch einschlägig – vorbestraften Angeklagten mit Urteil vom 06.08.2007 wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis zu einer Freiheitsstrafe von vier Monaten verurteilt und eine Sperrfrist nach § 69a StGB von 3 Jahren festgesetzt. Die hiergegen gerichtete Berufung des Angeklagten hat das Landgericht mit dem angefochtenen Urteil verworfen.
Nach den Feststellungen des Landgerichts befuhr der Angeklagte am 21.05.2006 mit einem PKW Opel Kadett den M-Weg in der Ortschaft T., ohne im Besitz einer Fahrerlaubnis zu sein, was er wußte.
Gegen dieses Urteil hat der Angeklagte Revision eingelegt und das Rechtsmittel mit einer Verfahrensrüge und der Sachrüge begründet. Die Generalstaatsanwaltschaft hat zunächst in Ihrer Antragsschrift vom 05.02.2008 beantragt, die Revision mit der Maßgabe zu verwerfen, dass der Angeklagte wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt wird. In der Revisionshauptverhandlung hat sie beantragt, die Revision zu verwerfen.
II.
Die form- und fristgerecht eingelegte und begründete Revision hat keinen Erfolg.
1.
Die Rüge der Verletzung des § 244 Abs. 5 StPO ist unbegründet.
Nach Vernehmung des Zeugen PK N. hat der Angeklagte in der Hauptverhandlung den Antrag gestellt, „zum Beweis für die Tatsache, dass die Örtlichkeiten die uneingeschränkte visuelle Wahrnehmungsmöglichkeit im Hinblick auf die Fahrereigenschaft des Angeklagten nicht zulassen“, die Örtlichkeiten im Rahmen eines Ortstermins in Augenschein zu nehmen. Das Landgericht hat den Antrag abgelehnt, weil der Polizeibeamte die Örtlichkeiten hinreichend genau beschrieben habe und sich heute nicht mehr feststellen lasse, ob die visuelle Wahrnehmungsmöglichkeit des Polizeibeamten etwa durch parkende Fahrzeuge zum Zeitpunkt der Tat eingeschränkt war.
Der Antrag des Angeklagten ist bereits kein Beweisantrag, da in ihm weder eine bestimmte Beweistatsache behauptet wird, noch das Beweismittel bestimmt angegeben ist. Die Behauptung, dass die Örtlichkeiten keine uneingeschränkte visuelle Wahrnehmungsmöglichkeit zuließen, ist lediglich die Behauptung des angestrebten Beweiszieles, nicht aber die Behauptung einer konkreten Tatsache (z.B. dass die Straße zwischen dem Beobachtungspunkt des Zeugen und dem Standort des Angeklagten einen starken Knick macht und/oder die Sicht durch Gebäude, Bepflanzung, etc. versperrt ist). Hinsichtlich des Beweismittels fehlt es an der genauen Angabe der Örtlichkeiten, die in Augenschein genommen werden sollen. Sollten diese aus dem bisherigen Verlauf der Hauptverhandlung für alle Beteiligten klar gewesen sein, so wären in der Revisionsbegründung jedenfalls Ausführungen hierzu erforderlich gewesen, um die Begründungsanforderungen nach § 344 Abs. 2 S. 2 StPO zu erfüllen.
Demnach musste dem Beweisbegehren allenfalls nach Maßgabe der Aufklärungspflicht nachgegangen werden. Es ist indes vom Beschwerdeführer nicht dargelegt worden, aufgrund welcher Umstände das Gericht sich zu der begehrten Beweiserhebung hätte gedrängt sehen müssen.
2.
Auch die Rüge der Verletzung materiellen Rechts ist unbegründet. Weder der Schuldspruch noch der Rechtsfolgenausspruch weisen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten auf.
Näherer Erörterung bedarf hier allein die von der Generalstaatsanwaltschaft aufgeworfene Frage, ob das Landgericht trotz Gewährung eines vom Amtsgericht noch nicht vorgenommenen Härteausgleichs unter Berücksichtigung des Verbots der Schlechterstellung (§ 331 Abs. 1 StPO) auf die gleiche Strafe erkennen durfte, wie das Amtsgericht.
a) Nach den Feststellungen des Landgerichts war der Angeklagte am 11.09.2006 vom AG Detmold wegen Sachbeschädigung in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung und wegen Nötigung zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu je 25 Euro verurteilt worden, die zum Zeitpunkt der Berufungshauptverhandlung noch nicht vollständig vollstreckt war. Des weiteren war er am 03.01.2007 vom AG Paderborn wegen einer am 02.06.2006 begangenen fahrlässigen Trunkenheit im Verkehr in Tateinheit mit Fahren ohne Fahrerlaubnis zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt worden. Das Landgericht hat hinsichtlich der ersten der beiden genannten Verurteilungen nach § 53 Abs. 2 S. 2 StGB von der Bildung einer Gesamtstrafe – abgesehen. An der Gesamtstrafenbildung mit der zweiten genannten Verurteilung sah es sich gehindert, weil diese Strafe bereits am 10.11.2007 vollständig vollstreckt war. In der Strafzumessung hat das Landgericht einen Härteausgleich gewährt (ohne diesen näher zu beziffern).
b) Die für die vorliegende, am 21.05.2006 begangene Tat verhängte Freiheitsstrafe ist nach § 55 Abs. 1 StGB gesamtstrafenfähig mit der Strafe aus dem Urteil des AG Detmold vom 11.09.2006, da es sich hier um eine Straftat handelt, die er vor der früheren Verurteilung begangen hat. Auch die Strafe aus dem Urteil des AG Paderborn vom 03.01.2007 wäre an sich gesamtstrafenfähig mit der Strafe aus dem Urteil des AG Detmold vom 11.09.2006 gewesen, da die der Verurteilung vom 03.01.2007 zu Grunde liegende Tat bereits am 02.06.2006 begangen worden war.
c) Durch die Nichteinbeziehung der Verurteilung zu einer Geldstrafe in eine Gesamtstrafe mit der hier verhängten Freiheitsstrafe ist der Angeklagte jedenfalls nicht beschwert, denn nach der Regelung des § 53 Abs. 2 S. 1 StGB wäre dann nur die Bildung einer Gesamtfreiheitsstrafe in Betracht gekommen (vgl. Fischer StGB 55. Aufl. § 53 Rdn. 5), die das schwerwiegendere Strafübel darstellt.
d) Da die vom AG Paderborn am 03.01.2007 verhängte Freiheitsstrafe zum Zeitpunkt der Berufungshauptverhandlung bereits vollständig vollstreckt war, schied hier eine Gesamtstrafenbildung aus. Kann keine nachträgliche Gesamtstrafe gebildet werden, weil die frühere Strafe bereits vollständig vollstreckt war, so darf dies dem Angeklagten nicht zum Nachteil gereichen. Vielmehr ist nach ganz h.M. in solchen Fällen ein Härteausgleich vorzunehmen, wobei es dem Tatrichter überlassen ist, wie er diesen vornimmt (vgl. näher: LK-Rissing-van Saan 12. Aufl. § 55 Rdn. 32). Der Härteausgleich muss lediglich erkennbar vorgenommen werden und angemessen sein. Es ist nicht erforderlich, zunächst eine fiktive Gesamtstrafe zu bilden und diese dann um die vollstreckte Strafe zu mildern, sondern es ist ausreichend und auch der Regelfall, wenn der Härteausgleich als Strafmilderungsgrund bei der Bemessung der neuen Strafe berücksichtigt wird und der Tatrichter darauf achtet, dass das Gesamtstrafenübel den Unrechts- und Schuldgehalt der Taten nicht übersteigt (BGHSt 31, 102, 103; BGH NJW 1989, 236; BGH NStZ 1998, 79; Fischer a.a.O. § 55 Rdn. 22; LK-Rissing-van Saan a.a.O. Rdn. 32; aA: Schönke/Schröder-Stree 27. Aufl. § 55 Rdn. 29).
Unter Zugrundelegung dieser Grundsätze hat das Landgericht die Strafe rechtsfehlerfrei bemessen. Es hat ausgeführt, dass eine Gesamtstrafenbildung nur deswegen zu unterbleiben hatte, weil die früher verhängte Strafe bereits vollständig verbüßt ist. Es hat ausdrücklich einen Härteausgleich zugebilligt und ausgeführt, dass dieser nicht zu einer Reduzierung der vom Amtsgericht verhängten Strafe führen könne (obwohl das Amtsgericht einen Härteausgleich nicht vorgenommen hatte), weil die Freiheitsstrafe von vier Monaten angesichts der Vorbelastungen des Angeklagten an der „untersten Grenze des Vertretbaren“ liege. Danach hat das Landgericht den Härteausgleich erkennbar vorgenommen. Die Ausführungen lassen nicht besorgen, dass es das Gesamtstrafenübel aus dem Auge verloren hätte.
Auch hat das Landgericht nicht gegen das Verbot der Schlechterstellung aus § 331 Abs. 1 StPO verstoßen. In einem anders gelagerten Fall hat das OLG Koblenz (NStZ-RR 2004, 330, 331) entschieden, dass das Berufungsgericht nicht von einer fiktiven, (seiner Ansicht nach zu verhängenden) höheren als der erstinstanzlichen Freiheitsstrafe gedanklich ausgehen darf, um die fiktive Strafe dann um den Härteausgleich zu mindern und auf die gleiche Strafhöhe wie in erster Instanz zu erkennen. Darin liege ein Verstoß gegen § 331 StPO. Dieser Fall war insofern anders gelagert als der vorliegende, weil dort das Berufungsgericht zunächst von einer fiktiven Strafe ausgegangen ist. Das OLG München hat sich dieser Rechtsprechung angeschlossen und diese verallgemeinert: Wenn das Landgericht trotz des Härteausgleichs auf die gleiche Strafe wie das Amtsgericht erkenne, so müsse es von einer an sich gebotenen „unechten“ höheren Einzelstrafe ausgegangen sein, was gegen das Verschlechterungsverbot verstoße (OLG München NJW 2006, 1302). Der Rechtsprechung haben sich Teile der Literatur angeschlossen (Fischer a.a.O. Rdn. 22).
Der Senat teilt diese Ansicht nicht. Auch bei Vornahme eines Härteausgleichs ist das Berufungsgericht durch § 331 StPO nicht daran gehindert, auf die gleiche Strafe wie das Amtsgericht zu erkennen.
Der Härteausgleich ist (vgl. oben) zulässigerweise nur ein (allerdings bestimmender) Strafzumessungsgesichtspunkt unter anderen. Das Berufungsgericht ist aber in keiner Weise gehindert, gegenüber dem amtsgerichtlichen Urteil andere bzw. zusätzliche – auch dem Angeklagten nachteilige – Strafzumessungserwägungen in seine Entscheidungsgründe einfließen zu lassen, wenn nur die Strafe im Ergebnis hierdurch nicht erhöht wird. Umgekehrt zwingt auch nach h.M. der Wegfall einer oder mehrerer Einzelstrafen, eine Verringerung des Schuldumfangs oder die rechtlich mildere Beurteilung der Tat durch das Berufungsgericht nicht zur Herabsetzung der (Gesamt-)Strafe (vgl. NJW 1955, 600; Meyer-Goßner 50. Aufl. § 331 Rdn. 11). Das alles ergibt sich bereits aus dem Wortlaut des § 331 StGB. Zum Inhalt des Verschlechterungsverbotes (des insoweit identischen § 358 Abs. 2 StPO) ist dementsprechend bereits höchstrichterlich entschieden (BGH NJW 2000, 748, 749):
„Die Vorschrift des § 358 Abs. 2 StPO verbietet nur, dass das angefochtene Urteil in Art und Höhe der Rechtsfolgen zum Nachteil des Angeklagten geändert wird. Denn der Angeklagte soll bei seiner Entscheidung darüber, ob er von einem ihm zustehenden Rechtsmittel Gebrauch machen will, nicht durch die Besorgnis beeinträchtigt werden, es könne ihm durch die Einlegung eines Rechtsmittels ein Nachteil in Gestalt härterer Bestrafung entstehen (st. Rspr., vgl. BGHSt 7, 86 [87] = NJW 1955, 600; BGHSt 27, 176 [178] = NJW 1977, 1544; BGHSt 29, 269 [270] = NJW 1980, 1967). Darin erschöpft sich grundsätzlich die Bedeutung dieser Rechtsvorschrift; sie hat insbesondere nicht zur Folge, dass die Auffassungen und Wertungen, die der angefochtenen, aber aufgehobenen Entscheidung zu Art und Höhe der Rechtsfolge zugrunde lagen, den neuen Tatrichter in irgendeiner Form binden. Dieser hat vielmehr grundsätzlich über Art und Höhe der Strafe so zu entscheiden, als ob das (aufgehobene) frühere tatrichterliche Urteil nicht in der Welt wäre (BGHSt 7, 86 [88] = NJW 1955, 600). Hierbei hat er nach seinem eigenen pflichtgemäßen Ermessen die Einordnung der Tat innerhalb des Strafrahmens vorzunehmen und ist lediglich im Ergebnis an die durch § 358 Abs. 2 StPO gezogene Obergrenze gebunden.“
Demnach war das Landgericht nicht daran gehindert, auch unter Berücksichtigung des Härteausgleichs auf die gleiche Strafhöhe wie das Amtsgericht zu erkennen.
Der Senat konnte, obwohl er mit dieser Entscheidung jedenfalls von der Entscheidung des OLG München in einer die Entscheidung tragenden Weise abweicht, von einer Vorlage an den Bundesgerichtshof nach § 121 Abs. 2 GVG absehen. Eine Vorlagepflicht entfällt dann, wenn die Vorlagefrage bereits vom Bundesgerichtshof entschieden worden ist und das Oberlandesgericht dessen Ansicht folgen will (BGHSt 43, 277, 281). So ist es hier. Die Frage, ob das Schlechterstellungsverbot einen späteren Tatrichter (das Berufungsgericht – § 331 StPO – oder das Gericht erster oder zweiter Instanz nach der Zurückverweisung durch das Revisionsgericht – § 358 Abs. 2 StPO) daran hindert, in einer späteren tatrichterlichen Entscheidung unter gedanklicher Zugrundelegung einer höheren (Einzel-)Strafe als die, auf die in einer früheren Instanz erkannt wurde, eine gleichhohe Strafe wie die frühere zu verhängen, ist vom Bundesgerichtshof bereits in dem Sinne entschieden, dass dem nicht so ist. Die obigen wiedergegebenen Ausführungen aus BGH NJW 2000, 748, 749 wurden zwar anlässlich einer Entscheidung zur Kompensation einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung nach Art. 6 Abs. 1 EMRK gemacht (vor der Entscheidung des Großen Senats vom 17.01.2008 – GSSt 1/07, die aber die vorliegende Problematik nicht berührt), sind aber inhaltlich nicht auf diese Fallkonstellation beschränkt und verallgemeinerungsfähig. Wenn schon der spätere Tatrichter bei der Strafbemessung unter Berücksichtigung der zu beziffernden Kompensation für eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung nicht daran gehindert ist, im Urteil ausdrücklich von einer an sich höheren (fiktiven) verwirkten Strafe, als die die der frühere Tatrichter verhängt hat, auszugehen, so kann er erst Recht nicht bei einem erst später vorgenommenen Härteausgleich, der nicht zu beziffern ist, daran gehindert sein, nur gedanklich von einer eventuell (ohne den Härteausgleich) höheren Strafe auszugehen.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 StPO.




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