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Entscheidungen

StPO

Pflichtverteidiger, Beiordnung, Unterbliebene Übersetzung der Anklageschrift

Gericht / Entscheidungsdatum: LG Tübingen, Beschl. v. 04.08.2010 - 3 Qs 30/10

Fundstellen:

Leitsatz: Die unterbliebene Übersetzung einer Anklageschrift verkompliziert die Rechtslage nicht derart, dass allein deshlab ein Pflichtverteidiger zu bestellen wäre.


In pp.
Die Beschwerde des Angeklagten gegen den Beschluss des Amtsgerichts T. vom 19. Juli 2010 wird als unbegründet
verworfen.
Gründe:
I.
In der Anklageschrift vom 21.05.2010 wirft die Staatsanwaltschaft T. dem Angeklagten, der eine Vorverurteilung (Urteil des Amtsgerichts T. vom 23.02.2010) wegen Diebstahls und exhibitionistischer Handlungen zur Ableistung von 70 gemeinnützigen Arbeitsstunden aufweist, vor,
-
in der Nacht vom 28. auf den 29.12.2009 in der Gaststätte „G“ in T. gemeinsam mit einem Mittäter einem anderen Gast Wertgegenstände mit einem Gesamtwert von 450 Euro entwendet zu haben;
-
am 01.01.2010 zwischen 5.00 Uhr und 6.00 Uhr in der Gaststätte „M“ in T. einem anderen Gast ein Mobiltelefon Motorola im Wert von 400 Euro entwendet zu haben;
-
im Zeitraum vom 23.11.2009 bis 31.12.2009 im Bereich des Busbahnhofes in T. ein Mobiltelefon Sony-Ericsson im Wert von ca. 50 Euro gefunden und für sich behalten zu haben;
-
am 01.01.2010 in T., in seinem Zimmer 203 in seiner Unterkunft im Besitz von 4,68 Gramm Marihuana (brutto) und von 0,43 Gramm Kokain (brutto) gewesen zu sein.
Die Anklageschrift wurde dem – der deutschen Sprache nicht mächtigen – Angeklagten am 10. Juni 2010 zugestellt. Sie wurde zuvor nicht in eine dem Angeklagten verständliche Sprache übersetzt.
Der Angeklagte hat sich mit Schreiben vom 16. Juni 2010 zur Anklageschrift geäußert. Er hat unter anderem mitgeteilt, dass er der deutschen Sprache nicht mächtig sei und erst habe jemanden finden müssen, der ihm übersetzt habe, was in der Anklageschrift stehe, und der für ihn den Brief geschrieben habe.
Gleichfalls mit Schreiben vom 16. Juni 2010 hat der Verteidiger, der seit 12. Januar 2010 als Verteidiger tätig ist, seine Beiordnung als Pflichtverteidiger beantragt und angekündigt, für den Fall der Beiordnung sein Wahlmandat niederzulegen. Das Amtsgericht T. hat mit Beschluss vom 19. Juli 2010 eine Beiordnung abgelehnt. Mit Schreiben vom 21. Juli 2010 hat der Verteidiger Beschwerde eingelegt.
II.
Die Beschwerde ist zulässig, jedoch nicht begründet.
1. Ein Fall des §§ 68 Nr. 1 JGG, 140 Abs. 1 StPO ist nicht gegeben. Auch §§ 68 Nr. 1 JGG, 140 Abs. 2 StPO gebietet unter dem Gesichtspunkt der Schwere der Tat nicht die Bestellung eines Pflichtverteidigers. Der nur geringfügig vorbestrafte Angeklagte ist lediglich zweier Vergehen des Diebstahls, einem Vergehen der Unterschlagung sowie einem Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz angeklagt. Sämtliche angeklagten Straftaten, auch in ihrer Gesamtheit, sind einfach gelagert und bewegen sich noch im unteren Kriminalitätsbereich. Dies ist auch daran ersichtlich, dass die Staatsanwaltschaft die Anklage zum Jugendrichter und nicht zum Jugendschöffengericht erhoben hat, weswegen die Verhängung einer Jugendstrafe, die regelmäßig eine Pflichtverteidigerbeiordnung begründet, nicht zu erwarten ist. Ist dagegen, wie vorliegend, davon auszugehen, dass lediglich Zuchtmittel verhängt werden, begründet dies nicht die Schwere der Tat im Sinn von §§ 68 Nr. 1 JGG, 140 Abs. 2 StPO (vgl. zum Ganzen Eisenberg, JGG, 13. Auflage, 2009, § 68 Rn. 24 m.w.N.).
2. Die Beiordnung eines Verteidigers gemäß §§ 68 Nr. 1 JGG, 140 Abs. 2 StPO kommt auch nicht unter dem Gesichtspunkt der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage in Betracht, weil der Angeklagte der deutschen Sprache nicht mächtig ist und einem anderen Kulturkreis entstammt.
Einem Angeklagten ist nicht allein deswegen ein Pflichtverteidiger beizuordnen, weil er die deutsche Sprache nicht beherrscht (BGHSt 46, S. 178 ff., 182). Die Beiordnung eines Verteidigers ist nur vorzunehmen, wenn über die Unkenntnis der deutschen Sprache hinaus weitere Umstände hinzutreten, die eine Pflichtverteidigerbeiordnung erforderlich machen.
Dies ist vorliegend, auch wenn dem Angeklagten – der die deutsche Sprache nicht hinreichend beherrscht – die Anklageschrift nicht in eine ihm verständliche Sprache übersetzt worden ist, nicht der Fall. Zwar liegt in der Nichtübersetzung der Anklageschrift in eine dem Angeklagten verständliche Sprache ein Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens (BVerfGE 64, S. 135 ff., 145 ff., 147 f.).
Dieser Verstoß führt jedoch nicht dazu, dass dem Angeklagten ein Pflichtverteidiger beizuordnen ist. Vielmehr ist der Angeklagte aufgrund des Verstoßes gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens berechtigt, in analoger Anwendung von § 217 Abs. 2 StPO die Aussetzung des Verfahrens zu beantragen, weil er sich nicht hinreichend auf die Hauptverhandlung vorbereiten konnte. Über dieses Recht ist der Angeklagte analog § 217 Abs. 3 StPO zu belehren.
aa) Durch die Anklageschrift soll der Angeklagte bereits vor der Hauptverhandlung darüber unterrichtet werden, was ihm vorgeworfen wird. Sie soll ihn in die Lage versetzen, seine Verteidigung auf die Anklagevorwürfe einzurichten (BVerfGE, 64, S. 135 ff., 147 f.). Die Nichtübersetzung der Anklageschrift in eine dem Angeklagten verständliche Sprache bildet einen Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens, weil ein der deutschen Sprache nicht mächtiger Angeklagter vom Inhalt der Anklageschrift keine Kenntnis nehmen und mangels dieser Kenntnis seine Verteidigung nicht hinreichend vorbereiten kann.
bb) Auch die Einhaltung der Ladungsfrist nach § 217 Abs. 1 StPO dient dazu, dem Angeklagten ausreichend Gelegenheit zur Vorbereitung seiner Verteidigung zu geben (BGHSt 24, S. 143 ff., 146, 150; Meyer-Goßner, StPO, 53. Auflage, 2010, § 217 Rn. 1). Angesichts dieser identischen Zielsetzung beider Gebote ist eine vergleichbare Sachlage gegeben, so dass im Fall der Nichtübersetzung der Anklageschrift in eine dem Angeklagten verständliche Sprache eine analoge Anwendung der §§ 217 Abs. 2, Abs. 3 StPO gerechtfertigt erscheint.
Liegt ein Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens infolge einer Nichtübersetzung der Anklageschrift vor, erscheint es deshalb ausreichend, dem Angeklagten in analoger Anwendung von § 217 Abs. 2 StPO das Recht zu gewähren, so lange die Aussetzung des Verfahrens zu verlangen, bis ihm eine Anklageschrift in einer ihm verständlichen Sprache vorliegt. Über dieses Recht zur Aussetzung ist er in analoger Anwendung von § 217 Abs. 3 StPO zu belehren.
Durch die beantragte Beiordnung eines Pflichtverteidigers würde der eigentliche Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens – die Nichtübersetzung der Anklage in eine dem Angeklagten verständliche Sprache – nicht beseitigt. Dies ist nur der Fall, wenn dem Angeklagten das Recht zugestanden wird, solange die Aussetzung des Verfahrens zu verlangen, bis er ausreichend Gelegenheit zur Vorbereitung seiner Verteidigung hatte. Die analoge Anwendung der §§ 217 Abs. 2, Abs. 3 StPO entspricht deshalb genau seiner Interessenlage.
cc) Auch der Umstand, dass dem Angeklagten dieses Aussetzungsrecht analog § 217 Abs. 2 StPO zusteht, und dass er dieses Recht in der Hauptverhandlung geltend machen muss, begründet keine Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage und damit keine notwendige Verteidigung im Sinn von §§ 68 Nr. 1 JGG, 140 Abs. 2 StPO.
Der Angeklagte muss über sein Recht, die Aussetzung des Verfahrens zu verlangen, analog § 217 Abs. 3 StPO zwingend belehrt werden. Dadurch wird er ausreichend in die Lage versetzt, seine Interessen wahrzunehmen. Sein Fall unterscheidet sich nicht von demjenigen Angeklagten, bei dem sich die Frage stellt, ob er trotz Nichteinhaltung der Ladungsfrist die Aussetzung des Verfahrens verlangen soll, oder ob er dennoch einer Verhandlung zustimmt. Auch die Nichteinhaltung der Ladungsfrist führt nicht dazu, dass dem Angeklagten ein Pflichtverteidiger beigeordnet werden muss, um über die Frage zu entscheiden, ob verhandelt werden kann, oder ob er nach § 217 Abs. 2 StPO die Aussetzung des Verfahrens verlangen soll. Nichts anderes gilt im Fall der analogen Anwendung der Norm.
3. Auch aus der Entscheidung des Oberlandesgerichts Karlsruhe vom 17. Oktober 2000 (Az.: 3 Ss 102/00, StV 2002, S. 299 f.) – zu diesem Zeitpunkt galt noch § 117 Abs. 4, Abs. 5 StPO a.F. und war § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO noch nicht in Kraft – folgt nichts anderes. Das Oberlandesgericht Karlsruhe hat in diesem Verfahren entschieden, dass einem in Haft befindlichen, der deutschen Sprache nicht mächtigen Angeklagten ein Pflichtverteidiger zu bestellen ist, wenn ihm entgegen Artikel 6 Abs. 3 Buchstabe a MRK die Anklageschrift nicht in übersetzter Fassung gemäß § 201 StPO übermittelt wurde.
Vorliegend liegt der Fall anders, denn der Angeklagte befindet sich nicht in Haft.
Ist der Angeklagte in Haft, ist die Beantwortung der Frage, ob aufgrund der Nichtübersetzung der Anklageschrift die Aussetzung des Verfahrens verlangt werden soll oder nicht, eine weitaus schwierigere, weil im Fall einer Aussetzung eine – mit einer weiteren Haftdauer verbundene – Verfahrensverzögerung eintritt. Der Angeklagte sieht sich in diesem Fall mit der weitaus schwierigeren Frage konfrontiert, ob er den Nachteil der weiteren Haft in Kauf nehmen soll, damit er sich durch eine ihm in eine verständliche Sprache übersetzte Anklageschrift ausreichend auf das Verfahren vorbereiten kann, oder ob er ohne eine ihm übersetzte Anklageschrift sofort verhandeln soll, um eine Verfahrensverzögerung und eine weitere Haft zu vermeiden.
Diese Haftsituation, die in der Folge eine notwendige Verteidigung begründet, ist nicht mit derjenigen eines nicht in Haft befindlichen Angeklagten vergleichbar. Bei einem nicht in Haft befindlichen Angeklagten stellen sich keine derart weitreichenden Fragen. Seinen Interessen kann durch das Recht, die Aussetzung des Verfahrens verlangen, ausreichend – und am besten – Genüge getan werden.


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