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Entscheidungen

StPO

Pflichtverteidiger, Schwere der Tat, Vorstrafen, drohender Widerruf

Gericht / Entscheidungsdatum: OLG Saarbrücken, Beschl. v. 15.03.2013 - Ss 24/13 (16/13)

Leitsatz: Zur Beiordnung eines Pflichtverteidigers wegen Schwere der Tat, wenn der Widerruf von Strafaussetzung zur Bewährung aus anderen Verfahren droht.


Ss 24/2013 (16/13) 3 Ds 396/12
SAARLÄNDISCHES OBERLAUDESGERICHT
BESCHLUSS
In der Strafsache
gegen pp.
wegen Erschleichens von Leistungen
Verteidiger. Rechtsanwalt Olaf Möller, Völklingen

hat der 1. Strafsenat des Saarländischen Oberlandesgerichts in Saarbrücken am 15. März 2013 durch
den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht
den Richter am Oberlandesgericht
den Richter am Oberlandesgericht

beschlossen:
1. Auf die (Sprung-)Revision des Angeklagten wird das Urteil des Amtsgerichts Ottweiler vom 17. Oktober 2012 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Ottweiler zurückverwiesen.
2. Dem Angeklagten wird — durch den mit unterzeichnenden Vorsitzenden — Rechtsanwalt Olaf Möller, Völklingen, als Pflichtverteidiger für das Revisionsverfahren und das weitere Verfahren beigeordnet.

Gründe:
I.
Das Amtsgericht hat den — erstinstanzlich unverteidigten — Angeklagten wegen Erschleichens geringwertiger Leistungen in 9 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 3 Monaten verurteilt. Nach den in dem amtsgerichtlichen Urteil getroffenen Feststellungen benutzte der Angeklagte im Zeitraum vom 1.3.2012 bis 20.4.2012 in 9 Fällen Züge der Deutschen Bahn AG, ohne im Besitz des erforderlichen Fahrscheins zu sein.

Gegen dieses Urteil hat der Angeklagte fristgerecht (§ 314 Abs. 1, § 341 Abs. 1 StPO) Rechtsmittel eingelegt, das er — was zulässig ist (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 55. Aufl., § 335 Rn. 2 f.) — innerhalb der Revisionsbegründungsfrist (§ 345 Abs. 1 StPO) zur Sprungrevision (§ 335 Abs. 1 StPO) bestimmt hat. Mit der form- und frist-gerecht (§§ 344, 345 StPO) angebrachten Verfahrensrüge macht der Angeklagte den absoluten Revisionsgrund nach § 338 Nr. 5 StPO geltend, da die Hauptverhandlung unter Verstoß gegen § 140 Abs. 2 StPO in Abwesenheit des notwendigen Verteidigers stattgefunden habe. Darüber hinaus erhebt er die allgemeine Sachrüge. Schließlich beantragt er, ihm seinen bisherigen Wahlverteidiger für das Revisionsverfahren und das weitere Verfahren als Pflichtverteidiger beizuordnen.

II.
1. Die zulässige Sprungrevision hat mit der erhobenen Verfahrensrüge Erfolg, so dass es auf die Sachrüge nicht ankommt. Es liegt der absolute Revisionsgrund nach § 338 Nr. 5 StPO vor, weil die Hauptverhandlung vom 17.10.2012 vor dem Amtsgericht in Abwesenheit eines Verteidigers stattgefunden hat, obwohl die Mitwirkung eines Verteidigers notwendig gewesen ist (§ 140 Abs. 2 StPO). Dabei ist es unerheblich, dass der Angeklagte in der Hauptverhandlung nicht die Beiordnung eines Pflichtverteidigers beantragt hat. Denn der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO ist bereits dann gegeben, wenn die Voraussetzungen des § 140 Abs. 2 StPO vorliegen, ein Verteidiger aber nicht (von Amts wegen) bestellt worden ist (vgl. OLG Hamm NStZ-RR 1998, 243 m. w. N.; Senatsbeschluss vom 31.5.2012 — Ss 36/2012 (31/12)). So verhält es sich hier.

a) Gemäß § 140 Abs. 2 StPO bestellt der Vorsitzende auf Antrag oder von Amts wegen einen Verteidiger, wenn wegen der Schwere der Tat oder wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint oder wenn ersichtlich ist, dass sich der Beschuldigte nicht selbst verteidigen kann.

b) Im vorliegenden Fall hätte dem Angeklagten spätestens im Termin zur Hauptverhandlung wegen der Schwere der Tat ein Verteidiger bestellt werden müssen.

aa) Eine Tat ist schwer, wenn die zu erwartenden Rechtsfolgen einschneidend sind (vgl. BGHSt 6, 199; Senatsbeschluss, a.a.O.; KK-Laufhütte, StPO, 6. Aufl., § 140 Rn. 21). Das ist der Fall, wenn eine längere Freiheitsstrafe, eine gravierende Maßregel der Besserung und Sicherung oder sonst eine erhebliche Folge der Verurteilung droht, die nicht unmittelbar im Rechtsfolgenausspruch liegt (vgl. Senatsbeschluss, a.a.O.; KK-Laufhütte, a.a.O.). Jedenfalls bei einer Straferwartung um ein Jahr Freiheitsstrafe wird — auch wenn es sich hierbei nicht um eine starre Grenze handelt — unter dem Gesichtspunkt der Schwere der Tat die Bestellung eines Pflichtverteidigers in aller Regel geboten sein, selbst wenn deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wird (vgl. Senatsbeschluss, a.a.O., m. w. N.; OLG Celle, Beschl. v. 30.5.2012 — 32 Ss 52/12 Rn. 11, zit. nach juris; KK-Laufhütte, a.a.O., m. w. N.; Meyer-Goßner, a. a. O., § 140 Rn. 23 m. w. N.). Als schwerwiegender mittelbarer

Nachteil, den der Angeklagte infolge der Verurteilung zu gewärtigen hat und der die Bestellung eines Verteidigers geboten erscheinen lassen kann, ist unter anderem der drohende Widerruf einer Bewährung in anderer Sache anerkannt (vgl. — jeweils m. w. N. — Senatsbeschluss, a.a.O.; OLG Celle, a.a.O., Rn. 10; KK-Laufhütte, a.a.O.; Meyer-Goßner, a.a.O., Rn. 25). Wenngleich sich im Rahmen der vorzunehmenden Gesamtbetrachtung eine schematische Zusammenrechnung der im zu beurteilenden Verfahren zu erwartenden Strafe mit einer zur Bewährung ausgesetzten Vorstrafe verbietet, kann auch bei einer verhältnismäßig geringen Straferwartung in dem aktuellen Verfahren die Bestellung eines Verteidigers geboten sein, wenn das drohende „Gesamtstrafübel" deutlich über eine Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr hinausgeht (vgl. Senatsbeschluss, a.a.O.).

bb) Nach diesen Maßstäben war im vorliegenden Fall unter dem Gesichtspunkt der Schwere der Tat die Bestellung eines Verteidigers geboten. Zwar ergab sich aus den dem Angeklagten zur Last gelegten Taten des Erschleichens der Beförderung durch ein Verkehrsmittel („Schwarzfahren") aufgrund des geringen Werts des nicht entrichteten Entgelts (insgesamt rund 40,-- €) auch unter Berücksichtigung der Anzahl der Taten und der Vorstrafensituation des Angeklagten keine erhebliche Straferwartung, sondern lediglich eine solche von deutlich unter einem Jahr (Gesamt-)Freiheitsstrafe. Dem Angeklagten droht jedoch im Falle einer Verurteilung der Widerruf der ihm hinsichtlich mehrerer gegen ihn verhängter Freiheitsstrafen von insgesamt 3 Jahren, 5 Monaten und 2 Wochen gewährten Strafaussetzung (§ 56f Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Satz 2 StGB).

(1) Ausweislich der in der Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht vom 17.10.2012 verlesenen Auskunft des Bundeszentralregisters vom 31.8.2012 wurde gegen den Angeklagten mit nachträglichem Gesamtstrafenbeschluss des Amtsgerichts Saar-brücken vom 24.8.2009 eine Gesamtfreiheitsstrafe von 1 Jahr und 9 Monaten verhängt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde (Bewährungszeit: 3 Jahre). Zudem wurde er mit Urteil des Amtsgerichts Saarbrücken vom 25.3.2010 zu einer ebenfalls zur Bewährung ausgesetzten Gesamtfreiheitsstrafe von 1 Jahr und 4 Monaten verurteilt (Bewährungszeit: 4 Jahre, verlängert bis 24.3.2015). Schließlich wurde gegen den Angeklagten mit nachträglichem Gesamtstrafenbeschluss des Amtsgerichts Saarbrücken vom 1.6.2012 eine zur Bewährung ausgesetzte Gesamtfreiheitsstrafe von 4 Monaten und 2 Wochen verhängt, in die unter anderem eine mit Urteil des Amtsgerichts Saarbrücken vom 22.7.2011 verhängte Freiheitsstrafe von 4 Monaten, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt worden war (Bewährungs-zeit: 3 Jahre), einbezogen wurde. Die dem Angeklagten hier zur Last gelegten Taten betreffen den Zeitraum vom 1.3.2012 bis 20.4.2012 und somit die für einen Widerruf der Strafaussetzung hinsichtlich sämtlicher Bewährungsstrafen nach § 56f Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Satz 2 StGB relevante Bewährungszeit.

(2) Der Angeklagte hat daher selbst ohne Hinzurechnung der im vorliegenden Verfahren zu erwartenden Strafe aufgrund des drohenden Widerrufs der Bewährung in den anderen Sachen die Verbüßung mehrjähriger Haftstrafen zu gewärtigen. Das gilt umso mehr, als dem Angeklagten — wie im Übrigen das angefochtene Urteil zeigt — im Hinblick auf seine Vorstrafensituation, die hohe Rückfallgeschwindigkeit und sein mehrfaches Bewährungsversagen im vorliegenden Verfahren, auch wenn die ihm insoweit zur Last gelegten Straftaten dem Bereich der Bagatellkriminalität zuzurechnen sind, die Verhängung einer Freiheitsstrafe ohne Bewährung droht. In einem solchen Fall ist es regelmäßig — wenn auch nicht zwingend — naheliegend, dass sich das über den Widerruf der Strafaussetzung entscheidende Vollstreckungsgericht der sach- und zeitnäheren Prognose des letzten Tatrichters anschließt (vgl. BVerfG NStZ 1985, 357 und NStZ-RR 2008, 26 f.; OLG Köln StV 1993, 429; OLG Düsseldorf VRS 89, 33, 34; VRS 91, 173; StV 1998, 214, 216; NZV 1998, 163; OLG Frankfurt NStZ-RR 1996, 59, 60; Senatsbeschlüsse vom 16.6.2000 — 1 Ws 107/00 —, vom 31.1. 2001 - 1 Ws 13/01 —, vom 21.12.2005 — Ss 47/05 (57/05) — und vom 27.2.2013 — 1 Ws 28/13; Fischer, StGB, 58. Aufl.,, § 56f Rdnr. 8b). Es liegt auch kein trotz dieser drohenden einschneidenden mittelbaren Folgen einer Verurteilung einfach gelagerter Fall vor, der die Mitwirkung eines Verteidigers ausnahmsweise entbehrlich machen könnte (vgl. Senatsbeschluss vom 31.5.2012 — Ss 36/2012 (31/12); Meyer-Goßner, a.a.O., § 140 Rn. 23).

c) Das Unterlassen der nach § 140 Abs. 2 StPO erforderlichen Bestellung eines Verteidigers steilt einen absoluten Revisionsgrund nach § 338 Nr. 5 StPO dar (vgl. BGHSt 15, 306; Meyer-Goßner, a.a.O., § 338 Rn. 41). Es liegen auch keine Umstände vor, aufgrund derer ein Einfluss dieses Verfahrensfehlers auf das Urteil zum Nachteil des Angeklagten denkgesetzlich ausgeschlossen und der Bestand des Urteils deshalb ausnahmsweise nicht berührt wäre (vgl. BGH NStZ 2006, 713; NStZ 2007, 352; StV 2011, 211; Meyer-Goßner, a.a.O., § 338 Rn. 2).

d) Das angefochtene Urteil war daher mit den zugrundeliegenden Feststellungen aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Ottweiler zurückzuverweisen (§ 354 Abs. 2 Satz 1 StPO).

2. Für das weitere Verfahren weist der Senat darauf hin, dass das neue Tatgericht den drohenden Widerruf der Strafaussetzung in den genannten anderen Verfahren und den damit dem Angeklagten drohenden Freiheitsentzug von insgesamt fast 3 3/4 Jahren sowohl bei der Bemessung der Einzelstrafen und der Bildung der Gesamtstrafe als auch bei der Prüfung der Frage, ob eine gegebenenfalls zu verhängende Freiheitsstrafe nochmals zur Bewährung ausgesetzt werden kann oder nicht, in den Blick zu nehmen haben wird (vgl. Stree/Kinzig in: Schönke/Schröder, StGB, 28. Aufl., § 46 Rn. 55, § 56 Rn. 22).

3. Dem Angeklagten ist — wie sich aus den vorstehenden Ausführungen ergibt — gemäß § 140 Abs. 2 StPO unter dem Gesichtspunkt der Schwere der Tat — hinsichtlich des Revisionsverfahrens mit Blick auf die besonderen Schwierigkeiten der ordnungs-gemäßen Erhebung einer Verfahrensrüge aber auch unabhängig hiervon (vgl. hierzu Senatsbeschluss vom 13.1.2009 — 1 Ws 212/08, StraFo 2009, 518 f.) — durch den mitunterzeichnenden Vorsitzenden des Revisionsgerichts (§ 141 Abs. 4 Halbsatz 1 StPO; vgl. hierzu OLG Rostock NStZ-RR 2010, 342 f.) sowohl für das Revisionsverfahren als auch für das weitere Verfahren der von ihm gewünschte Pflichtverteidiger zu bestellen.

Einsender: RA O. Möller, Völklingen

Anmerkung:


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