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Entscheidungen

StPO

Sitzungshaftbefehl, Fortsetzungsfeststellungsinteresse, Beschwerde, Verwirkung

Gericht / Entscheidungsdatum: VerfGH Sachsen, Beschl. v. 17.10.2013 - Vf. 40-IV-13

Leitsatz: Nach verfassungsrechtlichen Maßstäben besteht ein schutzwürdiges Interesse an der nachträglichen Feststellung der Rechtswidrigkeit eines schwerwiegenden Grundrechtseingriffs wie einer Freiheitsentziehung aufgrund eines Sitzungshaftbefehls regelmäßig auch nach dessen Erledigung und unabhängig davon, ob der Betroffene Rechtsschutz tatsächlich auch vor Beendigung der Haft hätte erlangen können.
2. Ein Zeitraum von etwa zehn Monaten, der zwischen der Übermittlung einer landgerichtlichen Beschwerdeentscheidung in Haftfragen und dem Einlegen einer weiteren Beschwerde verstrichen ist, weist für sich betrachtet keine derart lange Dauer auf, dass nach den zu berücksichtigenden Umständen des Einzelfalls nicht mehr damit zu rechnen gewesen ist, dass noch von der weiteren Beschwerde Gebrauch gemacht wird.


Vf. 40-IV-13
DER VERFASSUNGSGERICHTSHOF
DES FREISTAATES SACHSEN
IM NAMEN DES VOLKES
Beschluss
In dem Verfahren
über die Verfassungsbeschwerde
des Herrn S.,
hat der Verfassungsgerichtshof des Freistaates Sachsen durch die Präsidentin des Verfassungsgerichtshofes
Birgit Munz, die Richter Jürgen Rühmann, Uwe Berlit, Christoph Degenhart,
Matthias Grünberg, Ulrich Hagenloch, Hans Dietrich Knoth, Hans-Heinrich Trute sowie
die Richterin Andrea Versteyl
am 17. Oktober 2013
beschlossen:
1. Die Beschlüsse des Oberlandesgerichts Dresden vom 6. Mai 2013 und vom
13. Juni 2013 (1 Ws 77/13) sowie der Beschluss des Landgerichts Leipzig vom
24. Oktober 2011 (1 Qs 293/11) verletzen den Beschwerdeführer in seinem
Grundrecht aus Art. 38 Satz 1 SächsVerf. Sie werden aufgehoben; die Sache wird
an das Landgericht Leipzig zurückverwiesen.
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2. Der Freistaat Sachsen hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu
erstatten.
G r ü n d e :
I.
Mit seiner am 6. Juni 2013 bei dem Verfassungsgerichtshof des Freistaates Sachsen eingegangenen
Verfassungsbeschwerde wendet sich der Beschwerdeführer gegen die Beschlüsse
des Oberlandesgerichts Dresden vom 6. Mai 2013 und vom 13. Juni 2013 (1 Ws 77/13) sowie
gegen den Beschluss des Landgerichts Leipzig vom 24. Oktober 2011 (1 Qs 293/11).
Gegen den Beschwerdeführer wurde vor dem Amtsgericht Leipzig ein Strafverfahren u.a.
wegen gefährlicher Körperverletzung und Beleidigung geführt. Nachdem der Beschwerdeführer
dem anberaumten Hauptverhandlungstermin am 8. August 2011 fernblieb, erließ das
Amtsgericht am selben Tag gegenüber dem Beschwerdeführer einen Sitzungshaftbefehl gemäß
§ 230 Abs. 2 StPO, weil der Beschwerdeführer trotz ordnungsgemäßer Ladung zum
Termin unentschuldigt nicht erschienen sei. Der Beschwerdeführer wurde am 2. September
2011 festgenommen und dem Amtsgericht Tiergarten zur Verkündung des Haftbefehls vorgeführt.
Am 16. September 2011 wurde der Beschwerdeführer dem Amtsgericht Leipzig zur
Vernehmung vorgeführt. Nach der Vernehmung ging das Amtsgericht Leipzig unmittelbar in
die Hauptverhandlung über und verurteilte den Beschwerdeführer am selben Tag – nicht
rechtskräftig – zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 8 Monaten, deren Vollstreckung zur Bewährung
ausgesetzt wurde. Zugleich hob das Amtsgericht den Haftbefehl auf.
Am 19. September 2011 legte der Beschwerdeführer gegen den Haftbefehl des Amtsgerichts
Leipzig vom 8. August 2011 Beschwerde ein und beantragte, ihm Akteneinsicht gemäß § 147
Abs. 7 StPO zu gewähren. Die Beschwerdebegründung erfolge nach Akteneinsicht.
Mit Beschluss vom 24. Oktober 2011 (1 Qs 293/11) verwarf das Landgericht Leipzig die Beschwerde
gegen den Haftbefehl vom 8. August 2011 als unzulässig. Die Beschwerde sei nicht
zulässig erhoben worden, weil sie zu einem Zeitpunkt eingelegt worden sei, zu dem der Beschwerdeführer
bereits aus der Haft entlassen und der angegriffene Haftbefehl aufgehoben
worden sei. Der Antrag auf Feststellung der Rechtswidrigkeit sei auch unter dem Aspekt der
Gewährung effektiven Rechtsschutzes und bei Berücksichtigung der Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts nicht zu bescheiden. Der in Art. 19 Abs. 4 GG begründete Leistungsanspruch
gegen den Staat sei mit einer „Prozessverantwortung“ verknüpft, die sich in
Anfechtungs- und Mitwirkungslasten niederschlage. Der Beschwerdeführer habe zur Vermeidung
von Rechtsnachteilen bereits bei der Verkündung des Haftbefehls durch das Amtsgericht
Tiergarten die Möglichkeit gehabt, gegen den Haftbefehl Beschwerde einzulegen, habe
dies jedoch erst nach dessen Aufhebung getan.
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Dieser Beschluss wurde dem Beschwerdeführer zunächst unter der Anschrift O.-Straße …,
… B., übermittelt, obwohl der Beschwerdeführer vom 26. September 2011 bis zum 21. Juni
2012 seinen Wohnsitz in die W.-straße …, … B., verlegt und dies dem Amtsgericht Leipzig
am 4. Oktober 2011 telefonisch mitgeteilt hatte. Nach Vortrag des Beschwerdeführers wurde
ihm der Beschluss auf telefonische Anforderung mit Übersendungsschreiben vom 21. August
2013 nochmals übermittelt.
Unter dem 23. August 2012 legte der Beschwerdeführer gegen den Beschluss des Landgerichts
Leipzig vom 24. Oktober 2011 (1 Qs 293/11) weitere Beschwerde ein und beantragte
festzustellen, dass der Haftbefehl des Amtsgerichts Leipzig vom 8. August 2011 und dessen
Vollzug rechtswidrig waren. Die nach Erledigung des Haftbefehls eingelegte Beschwerde sei
zulässig gewesen; die Gewährung von Rechtsschutz gegen Inhaftierungen hänge nach verfassungsrechtlichen
Grundsätzen weder vom konkreten Ablauf des Verfahrens und dem Zeitpunkt
der Erledigung der Maßnahme noch davon ab, ob Rechtsschutz typischerweise noch
vor Beendigung der Haft erlangt werden könne. Die Voraussetzungen für den Erlass eines
Sitzungshaftbefehls seien zudem ersichtlich nicht gegeben gewesen, weil sein Ausbleiben
genügend entschuldigt und der Erlass eines Haftbefehls auch unverhältnismäßig gewesen sei.
Mit Beschluss vom 6. Mai 2013 (1 Ws 77/13) verwarf das Oberlandesgericht Dresden die
weitere Beschwerde als unzulässig. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
könne das Rechtsschutzbedürfnis entfallen, wenn die verspätete Geltendmachung eines Anspruchs
gegen Treu und Glauben verstoße, etwa weil der Berechtigte sich verspätet auf das
Recht berufe oder unter Verhältnissen untätig geblieben sei, unter denen vernünftigerweise
etwas zur Wahrung des Rechts unternommen zu werden pflege, sodass auch ein an sich unbefristeter
Antrag nicht nach Belieben hinausgezögert und verspätet gestellt werden könne, ohne
unzulässig zu werden. Der Beschwerdeführer habe seine weitere Beschwerde nahezu zehn
Monate nach Erlass des angefochtenen Beschlusses eingelegt. Dabei habe er sein Rechtsmittel
auch erstmals begründet, obwohl er sämtliche Gründe bereits während des Vollzugs des Sitzungshaftbefehls
oder mit der Beschwerde habe geltend machen können. Nach der seit der
Beschwerdeentscheidung verstrichenen Zeit sei ein Rechtsschutzbedürfnis für einen effektiven
Rechtsschutz in Form einer weiteren Beschwerde nicht mehr erkennbar.
Gegen diesen Beschluss erhob der Beschwerdeführer am 21. Mai 2013 Gegenvorstellung. Der
Senat lasse den tatsächlichen Zugangszeitpunkt außer Acht. Zudem sei ihm eine Begründung
der Beschwerde verwehrt gewesen, nachdem das Landgericht Leipzig über seine Beschwerde
entschieden habe, ohne ihm die beantragte Akteneinsicht zu gewähren oder über sein Akteneinsichtsgesuch
zu entscheiden.
Mit Beschluss vom 13. Juni 2013 (1 Ws 77/13) stellte das Oberlandesgericht Dresden fest,
dass die Gegenvorstellung keinen Anlass gebe, den Senatsbeschluss vom 6. Mai 2013 abzuändern
oder aufzuheben. Unterstelle man, dass der Beschwerdeführer seinen Wohnsitz im
behaupteten Zeitraum tatsächlich vorübergehend verlegt habe, könne ihm zwar nicht vorgeworfen
werden, seine weitere Beschwerde erst nahezu zehn Monate nach Erlass des angefochtenen
Beschlusses eingelegt zu haben. Sein Rechtsmittel erweise sich jedoch auch dann noch
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als unzulässig. Nach dem konkreten zeitlichen Ablauf in dieser Angelegenheit sei eine Überprüfung
des aufgehobenen Haftbefehls aus Gründen des effektiven Rechtsschutzes – wie das
Landgericht Leipzig zu Recht annehme – nicht notwendig. Der Beschwerdeführer habe seine
Beschwerde und ihre Begründung – auch ohne die Gewährung von Akteneinsicht – unschwer
bereits unmittelbar nach seiner Vorführung einlegen können, sodass das Beschwerdegericht
hierüber bis zum Tag der Hauptverhandlung hätte entscheiden können.
Der Beschwerdeführer hat am 20. Juni 2013 auch diesen Beschluss des Oberlandesgerichts
Dresden vom 13. Juni 2013 (1 Ws 77/13) in das Verfassungsbeschwerdeverfahren einbezogen.
Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung seines Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz
aus Art. 38 Satz 1 SächsVerf. Der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde stehe nicht entgegen,
dass zunächst noch keine Entscheidung über die Gegenvorstellung des Beschwerdeführers
vorgelegen habe, denn dieser formlose Rechtsbehelf gehöre nicht zum Rechtsweg. Das in
Art. 38 Satz 1 SächsVerf inhaltsgleich mit Art. 19 Abs. 4 GG gewährleistete Grundrecht auf
effektiven Rechtsschutz gewährleiste innerhalb eines eröffneten Instanzenzugs eine wirksame
gerichtliche Kontrolle. Dabei bestehe bei Inhaftierungen auch nach Erledigung des Eingriffs
regelmäßig ein schutzwürdiges Interesse an der nachträglichen Feststellung der Rechtswidrigkeit,
ohne dass es auf den konkreten Ablauf des Verfahrens, den Zeitpunkt der Erledigung
der Maßnahme oder darauf ankomme, ob Rechtsschutz typischerweise noch vor Beendigung
der Haft erlangt werden könne. Dies hätten das Landgericht Leipzig und das Oberlandesgericht
verkannt, wenn sie davon ausgingen, dass eine nachträgliche Überprüfung des Haftbefehls
in den Fällen nicht statthaft sei, in denen der Betroffene von der Möglichkeit, vor dessen
Erledigung Beschwerde einzulegen, keinen Gebrauch gemacht habe. Das Oberlandesgericht
sei zudem ursprünglich zu Unrecht von einem untätigen Zuwarten des Beschwerdeführers
ausgegangen. Im Übrigen komme selbst mit dem vom Oberlandesgericht zunächst angenommenen
Verfahrensablauf eine Verwirkung des Beschwerderechts unter keinem denkbaren
Gesichtspunkt in Betracht, da der Beschwerdeführer mit der begehrten Feststellung der
Rechtswidrigkeit der Sitzungshaft für sein noch anhängiges Berufungsverfahren das konkrete
Ziel einer strafmildernden Berücksichtigung der erlittenen Haft erreichen könne.
Das Staatsministerium der Justiz und für Europa hat Gelegenheit gehabt, zum Verfahren Stellung
zu nehmen.
II.
Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist begründet.
1. Die Beschlüsse des Oberlandesgerichts Dresden vom 6. Mai 2013 und vom 13. Juni 2013
(1 Ws 77/13) sowie der Beschluss des Landgerichts Leipzig vom 24. Oktober 2011
(1 Qs 293/11) verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 38 Satz 1
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SächsVerf, indem sie seine weitere Beschwerde und seine Beschwerde als unzulässig verwerfen.
a) Soweit das Landgericht und – letztlich – auch das Oberlandesgericht jeweils für die
Verwerfung der Beschwerde und der weiteren Beschwerde in den angegriffenen Entscheidungen
tragend darauf abstellen, dass eine Überprüfung des Haftbefehls nach dessen
Aufhebung hier nicht zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes erforderlich sei, da
der Beschwerdeführer die Möglichkeit gehabt habe, gegen den Haftbefehl bereits bei
dessen Verkündung Beschwerde einzulegen, haben sie die Anforderungen an das
Rechtsschutzinteresse des Beschwerdeführers grundrechtswidrig überspannt.
aa) Das Recht auf effektiven Rechtsschutz gemäß Art. 38 Satz 1 SächsVerf garantiert
bei Rechtsverletzungen durch die öffentliche Gewalt den Zugang zu den Gerichten,
die Prüfung des Streitbegehrens in einem förmlichen Verfahren sowie die verbindliche
gerichtliche Entscheidung (SächsVerfGH, Beschluss vom 29. September 2011
– Vf. 53-IV-11). Das Gebot des effektiven Rechtsschutzes beinhaltet hierbei keinen
Anspruch auf die Einrichtung eines bestimmten Rechtszuges. Hat der Gesetzgeber
jedoch mehrere Instanzen geschaffen, gewährleistet Art. 38 SächsVerf in diesem
Rahmen die Effektivität des Rechtsschutzes im Sinne eines Anspruchs auf eine
wirksame gerichtliche Kontrolle (SächsVerfGH, Beschluss vom 27. August 2013 –
Vf. 61-IV-13 [HS]/Vf. 62-IV-13 [e.A.]).
Mit dem Gebot effektiven Rechtsschutzes ist es zwar im Grundsatz vereinbar, die
Rechtsschutzgewährung von einem vorhandenen oder fortbestehenden Rechtsschutzinteresse
abhängig zu machen (BVerfG, Beschluss vom 5. Dezember 2001,
BVerfGE 104, 220 [232]). Auch ist es regelmäßig nicht zu beanstanden, ein
Rechtsschutzinteresse nur solange als gegeben anzusehen, wie eine gegenwärtige
Beschwer ausgeräumt, einer Wiederholungsgefahr begegnet oder eine fortwirkende
Beeinträchtigung beseitigt werden kann. Doch müssen die Fachgerichte bei Freiheitsentziehungen
durch Haft beachten, dass ein schutzwürdiges Interesse an der
(nachträglichen) Feststellung der Rechtswidrigkeit solch schwerwiegender Grundrechtseingriffe
regelmäßig auch dann besteht, wenn sie erledigt sind, denn nach der
Funktionenteilung zwischen Fach- und Verfassungsgerichtsbarkeit obliegt es zuvörderst
den Fachgerichten, die Grundrechte zu wahren und durchzusetzen
(BVerfG, Beschluss vom 5. Dezember 2001, BVerfGE 104, 220 [234 ff.]; Beschluss
vom 31. Oktober 2005, BVerfGK 6, 303 [309] m.w.N.). Während vormals
generell eine nachträgliche gerichtliche Klärung schwerwiegender Grundrechtseingriffe
verfassungsrechtlich davon abhängig gemacht wurde, dass deren direkte Belastung
sich auf eine Zeitspanne beschränkt, in der der Betroffene die gerichtliche
Entscheidung in dem von der maßgeblichen Prozessordnung vorgesehenen Verfahren
kaum erlangen kann, wird mittlerweile im Hinblick auf das bei Freiheitsentziehungen
bestehende Rehabilitierungsinteresse dem konkreten Ablauf des Verfahrens,
dem Zeitpunkt der Erledigung der Maßnahme oder der Frage, ob Rechtsschutz
typischerweise noch vor Beendigung der Haft erlangt werden kann, keine
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Bedeutung für die gebotene Gewährung von Rechtsschutz mehr beigemessen
(BVerfG, Beschluss vom 31. Oktober 2005, BVerfGK 6, 303 [309] m.w.N.; Beschluss
vom 5. Dezember 2001, BVerfGE 104, 220 [235]; Beschluss vom 13. März
2002, NJW 2002, 2701; vgl. SächsVerfGH, Beschluss 27. August 2013 – Vf. 61-
IV-13 [HS]/Vf. 62-IV-13 [e.A.]). Das Rechtsmittel darf in solchen Fällen nicht als
unzulässig verworfen werden; vielmehr ist die Rechtmäßigkeit der zwischenzeitlich
erledigten Maßnahme zu prüfen und gegebenenfalls deren Rechtswidrigkeit festzustellen
(BVerfG, Beschluss vom 31. Oktober 2005, BVerfGK 6, 303 [309],
m.w.N.).
bb) Das Oberlandesgericht und das Landgericht haben bei ihren Entscheidungen verkannt,
dass nach diesen verfassungsrechtlichen Maßstäben ein schutzwürdiges Interesse
an der nachträglichen Feststellung der Rechtswidrigkeit eines solch schwerwiegenden
Grundrechtseingriffs wie einer Freiheitsentziehung aufgrund eines Sitzungshaftbefehls
regelmäßig auch nach dessen Erledigung und unabhängig davon
besteht, ob der Betroffene Rechtsschutz tatsächlich auch vor Beendigung der Haft
hätte erlangen können.
b) Soweit das Oberlandesgericht in seinem Beschluss vom 6. Mai 2013 darüber hinaus für
den Fall, dass der Beschwerdeführer von der Beschwerdeentscheidung des Landgerichts
Leipzig vom 24. Oktober 2011 bereits unmittelbar nach deren Erlass Kenntnis erlangt
hat, davon ausgeht, dass das Rechtsschutzbedürfnis des Beschwerdeführers auch
deshalb entfallen sei, weil er erst nach nahezu zehn Monaten weitere Beschwerde eingelegt
und mit dieser weiteren Beschwerde sein Rechtsmittel zudem erstmals begründet
habe, hat es den Vorbehalt eines fortbestehenden Rechtsschutzinteresses ebenfalls überspannt
und so die Bedeutung und Tragweite des Rechtsschutzanspruches des Beschwerdeführers
aus Art. 38 Satz 1 SächsVerf verkannt.
aa) Das Rechtsschutzbedürfnis kann – auch bei an sich unbefristeten Anträgen – entfallen,
wenn die verspätete Geltendmachung eines Anspruchs gegen Treu und Glauben
verstößt, etwa weil der Berechtigte sich verspätet auf das Recht beruft und unter
Verhältnissen untätig geblieben ist, unter denen vernünftigerweise etwas zur
Wahrung des Rechts unternommen zu werden pflegt. Das öffentliche Interesse an
der Wahrung des Rechtsfriedens kann in derartigen Fällen verlangen, die Anrufung
des Gerichts nach langer Zeit untätigen Zuwartens als unzulässig anzusehen.
Gleichwohl darf hierdurch der Weg zu den Gerichten nicht in unzumutbarer Weise
erschwert werden (BVerfG, Beschluss vom 4. März 2008, BVerfGK 13, 382 [388],
m.w.N.; Beschluss vom 26. Januar 1972, BVerfGE 32, 305 [308 f.]).
bb) Diesen Anforderungen hat das Oberlandesgericht nicht Rechnung getragen.
Der Zeitraum von etwa zehn Monaten, der zwischen der Übermittlung der landgerichtlichen
Beschwerdeentscheidung und dem Einlegen der weiteren Beschwerde
verstrichen sei, weist für sich betrachtet keine derart lange Dauer auf, dass nach den
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Umständen dieses Einzelfalls nicht mehr damit zu rechnen gewesen wäre, dass der
Beschwerdeführer von der weiteren Beschwerde Gebrauch macht (vgl. BVerfG,
Beschluss vom 4. März 2008, BVerfGK 13, 382 [389 f.]). Gemessen daran lässt
sich den Ausführungen des Oberlandesgerichts nicht entnehmen, weshalb das
Rechtsschutzbedürfnis des Beschwerdeführers entfallen sein sollte. Auch der weitere
Umstand, dass die Beschwerde zunächst nicht begründet wurde, vermag ein Vertrauen
in die Wahrung des Rechtsfriedens durch die Beschwerdeentscheidung
schon deshalb nicht zu stützen, weil der Beschwerdeführer ausdrücklich eine Begründung
nach Einsicht in die Verfahrensakten angekündigt hatte, ihm die beantragte
Akteneinsicht jedoch erst – nach der Bestellung einer Pflichtverteidigerin –
am 20. März 2012 über seine Verteidigerin gewährt wurde. Auf die Frage, ob der
Beschwerdeführer sein Rechtsmittel tatsächlich auch ohne vorherige Akteneinsicht
hätte begründen können und ob er mit seinem Akteneinsichtsgesuch etwa bewusst
über die Grenzen seines Akteneinsichtsrechts hinausgegangen sein könnte, kommt
es in diesem Zusammenhang nicht an. Denn selbst wenn dies zu bejahen wäre,
könnte, nachdem sich der Beschwerdeführer gegenüber dem Gericht ausdrücklich
dafür entschieden hatte, im Rahmen seines Anspruchs auf rechtliches Gehör von
seinem Äußerungsrecht erst nach Einsichtnahme in die Akten Gebrauch zu machen
(vgl. dazu BVerfG, Beschluss vom 7. September 2007, BVerfGK 12, 111 [116 f.]),
seine hieraus folgende „Untätigkeit“ nicht als „vertrauensbildend“ im o.g. Sinne
bewertet werden.
2. Gemäß § 31 Abs. 2 SächsVerfGHG sind die Beschlüsse des Oberlandesgerichts Dresden
vom 6. Mai 2013 und vom 13. Juni 2013 (1 Ws 77/13) sowie der Beschluss des Landgerichts
Leipzig vom 24. Oktober 2011 (1 Qs 293/11) aufzuheben; die Sache ist an das
Landgericht Leipzig zurückzuverweisen.
III.
Die Entscheidung ist kostenfrei (§ 16 Abs. 1 Satz 1 SächsVerfGHG). Der Freistaat Sachsen
hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten (§ 16 Abs. 3 SächsVerfGHG).
gez. Munz gez. Rühmann gez. Berlit
gez. Degenhart gez. Grünberg gez. Hagenloch
gez. Knoth gez. Trute gez. Versteyl

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