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Entscheidungen

StPO

Graffiti, Tag, Unterschrift

Gericht / Entscheidungsdatum: LG Potsdam, Beschl.- v. 02.06.2015 - 24 Qs 110/14

Leitsatz: Ein sog. Tag-Schriftzug, der nur von einem Graffiti-Sprüher benutzt wird, ist wie eine Unterschrift zu werten und kann daher individuell einer Person zugeordnet werden.


Landgericht Potsdam
24 Qs 110/14
In pp.
Beschluss v. 02.06.2015
wegen gemeinschaftlicher Sachbeschädigung, Störung öffentlicher Betriebe
Auf die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft Potsdam wird der Nichteröffnungsbeschluss des Amtsgerichts Nauen vom 27. November 2014 - 26 Ds 440 Js57643/11 (17/14) - aufgehoben, soweit er die Angeschuldigten L., S., H., M., R., W. und B. betrifft. Im Übrigen - betreffend den Angeschuldigten M. A. - wird die Beschwerde zurückgewiesen.
Soweit der Beschwerde stattgegeben worden ist, also betreffend der Angeschuldigten L., S., H., M., R., W. und B., wird die Anklage der Staatsanwaltschaft Potsdam vom 2. Juni 2014 - 440 Js 57643/11 - mit der Maßgabe zur Hauptverhandlung zugelassen, dass der angeklagte Tatzeitraum richtigerweise lautet:
„in der Nacht vom 9. auf den 10. November 2011“.
Das Hauptverfahren wird vor dem Amtsgericht Nauen - Strafrichter - eröffnet.
Die Kosten, die durch die Anklageerhebung in Bezug auf den Angeschuldigten M. A. entstanden sind sowie die diesem durch die Anklageerhebung und das Beschwerdeverfahren entstandenen notwendigen Auslagen werden der Staatskasse auferlegt. Im Übrigen haben die Angeschuldigten L., S., H., M., R., W. und B. die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen.
Gründe:
I.
Mit der Anklageschrift vom 2. Juni 2014 hat die Staatsanwaltschaft Potsdam den Angeschuldigten gemeinschaftlich begangene Sachbeschädigung in Tateinheit mit Störung öffentlicher Betriebe zur Last gelegt, indem sie in der Nacht vom 9. auf den 10. November 2011 - in der Anklageschrift ist der Tatzeitraum versehentlich bezeichnet als: „in der Nacht vom 09.10.2011 auf den 10.11.2011“ - einem gemeinsam gefassten Tatplan folgend jeweils vier Wagen der an den Bahnsteigen 5 und 6 abgestellten Regionalzüge RB 18961 und 18963 der Deutschen Bahn AG mit Graffitizeichnungen besprüht haben; durch das Eindringen von Sprühfarbe in die Türschlösser der beiden Wagenparks hätten die Führerstände der betroffenen Züge nicht betreten werden können, so dass sie abgeschleppt werden mussten. Insgesamt sei ein Schaden in Höhe von 3.302,49 Euro entstanden.
Mit dem angefochtenen Beschluss vom 27. November 2014 hat das Amtsgericht Nauen die Eröffnung des Verfahrens abgelehnt, da nach dem Ergebnis der Ermittlungen und den gegebenen Beweismöglichkeiten eine Verurteilung nicht hinreichend wahrscheinlich sei. Gegen den ihr am 10. Dezember 2014 gemäß § 41 StPO durch Übersendung der Akte zugestellten Beschluss hat die Staatsanwaltschaft Potsdam mit Faxschreiben vom 11. Dezember 2014 sofortige Beschwerde erhoben und diese mit Verfügung vom 15. Dezember 2015 dahingehend begründet, dass ein hinreichender Tatverdacht im Sinne von § 203 StPO bestehe. Auf diese Verfügung wird Bezug genommen.
Die Angeschuldigten und ihre Verteidiger hatten Gelegenheit zur Stellungnahme.
II.
1. Die sofortige Beschwerde gegen den Nichteröffnungsbeschluss ist gemäß § 210 Abs. 2 in Verbindung mit § 311 StPO statthaft. Sie ist zulässig; insbesondere hat die Staatsanwaltschaft die Wochenfrist gemäß § 311 Abs. 2 StPO gewahrt.
2. Die sofortige Beschwerde bleibt nur in Hinblick auf den Angeschuldigten A. erfolglos; im Übrigen hat sie in der Sache Erfolg. Betreffend die Angeschuldigten L., S., H., M., R., W. und B. hat das Amtsgericht Nauen zu Unrecht die Eröffnung des Hauptverfahrens aus tatsächlichen Gründen abgelehnt. Nach dem bisherigen Stand der Ermittlungen sind diese Angeschuldigten der ihnen vorgeworfenen Straftat hinreichend verdächtig, so dass in Bezug auf sie die Voraussetzungen für die Eröffnung des Hauptverfahrens erfüllt sind.
a) Gemäß § 203 StPO beschließt das Gericht die Eröffnung des Hauptverfahrens, wenn der Angeschuldigte nach den Ergebnissen des vorbereitenden Verfahrens einer Straftat hinreichend verdächtig erscheint. Hinreichender Tatverdacht ist anzunehmen, wenn die Verurteilung in einer Hauptverhandlung bei vorläufiger Tatbewertung auf der Grundlage des Ermittlungsergebnisses mit vollgültigen Beweismitteln wahrscheinlich ist (BGHSt 23, 304 [306]; Brandenburgisches OLG, Beschluss vom 14. August 2006, 1 Ws 166/06, bei juris; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 58. Aufl., § 203 Rz. 2).
Bei seiner Prüfung hat das Gericht die Beweislage vorläufig zu bewerten. Dabei ist das Gericht gehalten, seine Beurteilung einerseits aufgrund des gesamten Ermittlungsergebnisses vorzunehmen, andererseits aber auch die besseren Aufklärungsmöglichkeiten der Hauptverhandlung in Rechnung zu stellen (OLG Koblenz, NJW 2013, 98). Bei dieser Entscheidung bleibt daher für den Zweifelssatz in dubio pro reo kein Raum (Meyer-Goßner/Schmitt, a. a. O., § 203, Rz. 2 m. w. N.). Bei ungefähr gleicher Wahrscheinlichkeit von Verurteilung und Nichtverurteilung ist das Hauptverfahren zu eröffnen, wenn zweifelhafte Tatfragen in der Hauptverhandlung geklärt werden und zu einer die Verurteilung tragenden tatsächlichen Grundlage führen können (OLG Stuttgart, NStZ-RR 2011, 318; OLG Koblenz, NJW 2013, 98; Meyer-Goßner/Schmitt, a. a. O., § 203 Rdn. 2).
b) Nach diesem Prüfungsmaßstab ist betreffend die Angeschuldigten L., S., M., R., W. und B. ein hinreichender Tatverdacht für die hier in Rede stehende Straftat gegeben.
Die Ermittlungen haben ergeben, dass durch die hier gegenständliche Tat auf die abgestellten Bahnzüge die Tag-Schriftzüge der Angeschuldigten L. (SOUR), S. (TUES), M. (MISTA), R. (RÜBE, LOZR), W. (YUSK) und B. (BECKER) aufgebracht worden sind. In der Graffiti-Szene gilt die Regel, dass ein Tag-Schriftzug nur von einem Graffiti-Sprüher benutzt wird und daher individuell zugeordnet werden kann (LG Berlin, Urteil vom 11.8.2005, (524) 21 Ju Js 783/03 (35/05), in Juris). Im Graffiti-Jargon ist das „Tag“ ein Signaturkürzel des Graffiti-Sprühers und stellt sein Pseudonym dar; es wird häufig als Unterschrift verwendet, aber auch als territoriale Markierung mit dem Ziel, den eigenen Style zu präsentieren und in einem bestimmten Gebiet besonders präsent zu sein und so Bekanntheit (Fame) zu erreichen (vgl. Wikipedia-Eintrag zum Graffiti-Jargon http://de.wikipedia.org/wiki/Graffiti-Jargon). Einen guten, möglichst einzigartigen Style zu erreichen gilt in Graffiti-Kreisen als erstrebenswert. So erläutert Graffiti-Websites: „[...] Tags weisen auf die Individualität von Menschen hin. Es ist ein Ausdruck von Selbstwertgefühl und Urheberschaft, wie auch eine Art Gütezeichen.“ Weiterhin: „Tags [...] werden ständig wiederholt und daher von ihren Urhebern ,blind‘ beherrscht. Sie dienen dazu, ein Territorium zu markieren und anderen Taggern zu signalisieren: hier war ich.“ (http://graffitiportal.com/abc2.html). Es ist in Graffiti-Kreisen verpönt, den Tag einer anderen Person zu verwenden. So wird angehenden Graffiti-Sprühern empfohlen, vor der Auswahl des Tag sicherzustellen, dass dieser nicht schon von jemand anderem genutzt wird und sich gegebenenfalls einen anderen Tag zu überlegen, da es „großen Ärger“ nach sich ziehen kann, wenn man mit einem Tag malt, der schon vergeben ist (http://graffitilernen.info/tutorialteil-1-dertag, vgl. auch http://de.wikihow.com/Graffititaggen). Lässt sich ein Tag - etwa aus früheren Verfahren - einem bestimmten Sprayer zuordnen, so kann er ihm auch in weiteren Fällen zugeordnet werden, solange keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass dieses Tag auch von einem anderen Sprayer verwendet wird oder dass der Tag verkauft worden ist (LG Berlin, Urteil vom 11.8.2005, (524) 21 Ju Js 783/03 (35/05), in Juris). Die Kammer teilt ausdrücklich nicht den Standpunkt, den das Landgericht Offenburg in seiner - oft zitierten - Entscheidung vom 15. Januar 2002 vertreten hat, wonach dem Tag für die Frage der Täterschaft lediglich eine Indizwirkung zukommen soll (LG Offenburg, StV 2002, 359, vollständig in Juris). Angesichts der oben geschilderten Gepflogenheiten in Graffiti-Kreisen, die jedenfalls heute im Internet leicht nachzulesen sind, und angesichts der Bedeutung, die dabei dem Tag als individuelle Signatur zukommt, ist sein Beweiswert mit derjenigen einer individuellen Unterschrift vergleichbar. Zwar mag es in Einzelfällen vorkommen, dass Tags nachgeahmt und insbesondere die Tags von bekannten Sprayern in Einzelfällen „unberechtigt“ kopiert worden sein können (sogenanntes biten; siehe den Wikipedia-Eintrag zum Graffiti-Jargon) (vgl. neben der oben genannten Entscheidung des LG Offenburg auch die eingereichten Entscheidungen des AG Berlin-Tiergarten vom 1.9.2008, Gz.: (279 Ds) 3023 PLs 7352/08 (107/08) und des AG Nürnberg vom 10.3.2011, Gz.: 17 C 10279/10, das sich allerdings auf Takes bezieht). Die bisherigen Ermittlungen haben allerdings keine Anhaltspunkte dafür ergeben, dass die oben genannten Individual-Tags der Angeschuldigten L., S., H., M., R., W. und B. im vorliegenden Fall von anderen Personen nicht nur „unberechtigt“ gebraucht, sondern auch in ihrer individuellen optischen Gestaltung (dem Style) nachgeahmt worden sein könnten.
c) Auch in Hinblick auf den Angeschuldigten H. ist ein hinreichender Tatverdacht für die hier in Rede stehende Straftat gegeben. Zwar ist nach dem Akteninhalt nicht festzustellen, dass sich ein Tag des Angeschuldigten H. an den betroffenen Eisenbahnwagons befindet. Allerdings ist bei ihm ein Datenstick mit den Fotos aufgefunden worden, die während der Tatbegehung aufgenommen worden sind und die die Tatausführung zeigen. Dies weist darauf hin, dass der Angeschuldigte H. bei der Tatausführung zugegen war und diese dokumentiert hat. Hinzu kommt, dass die Durchsuchung beim Angeschuldigten H. zum Auffinden von Fotos geführt hat, die der Zuordnung von Tags dienten. Überdies hat der Angeschuldigte H. im Tatzeitrum telefonischen Kontakt zu dem Mitangeschuldigten M. gehabt. Wenn auch der telefonische Kontakt für sich benommen keinen Hinweis auf eine Anwesenheit vor Orte oder eine andere Form der Mittäterschaft erbringt, kann das Zusammentreffen der genannten Indiztatsachen dazu führen den Angeschuldigten H. der ihm vorgeworfenen Mittäterschaft an der hier gegenständlichen Tat zu überführen.
d) In Hinblick auf den Angeschuldigten A. besteht nach der aus der Akte ersichtlichen Beweislage derzeit kein hinreichender Tatverdacht für die hier in Rede stehende Straftat. Es ist nach dem Akteninhalt nicht festzustellen, dass sich ein Tag des Angeschuldigten A. (FROK) an den betroffenen Eisenbahnwagons befindet. Im Gegensatz zum Tag lässt eine Crew-Signatur keinen individuellen Rückschluss auf die Urheberschaft zu, da sie nicht nur von einem, sondern von mehreren Sprüher verwendet wird. Bei einer Crew handelt es sich um Zusammenschlüsse von Graffiti-Sprühern, von denen jeder das Crew-Kürzel - ähnlich wie die eigenen Tags - in Bildern verarbeiten und durch die gemeinsame Verwendung des Kürzels dessen Bekanntheitsgrad erhöhen (vgl. Wikipedia-Eintrag zum Graffiti-Jargon). Die Verwendung eines Crew-Kürzels lässt nur den Rückschluss auf eine Gruppe, nicht jedoch auf eine bestimmte einzelne Person zu. Allein der Umstand, dass sich an den Wagons die Crew-Zeichen AMD und RMB befinden und dass diese Zeichen im Wohnumfeld des Angeschuldigten A. auftauchen, lässt nicht den Schluss darauf zu, dass der Angeschuldigte A. vor Ort gewesen sei und an der hier gegenständlichen Tat teilgenommen hätte. Auch der Umstand, dass der Angeschuldigte A. im Tatzeitraum mit dem Angeschuldigten M. telefoniert hat, kann keinen Beweis dafür erbringen, dass der Angeschuldigte A. bei der Tat vor Ort gewesen sei oder an ihrer Ausführung mitgewirkt hätte.
3. Die Bezeichnung des Tatzeitraums in der Anklageschrift: „in der Nacht vom 09.10.2011 auf den 10.11.2011“ handelt es sich um ein - nach dem Akteninhalt offensichtliches - Schreibversehen, das im Zuge der Eröffnungsentscheidung zu berichtigen war.
III.
Die Kostenentscheidung beruht in Hinblick auf den Angeschuldigten A. auf einer entsprechenden Anwendung von § 472 Abs. 1 und 2 StPO, im Übrigen auf einer entsprechenden Anwendung von § 465 StPO, denn ein ausschließlich zuungunsten der Angeschuldigten eingelegtes Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft hatte in vollem Umfang Erfolg (vgl. Beschluss der Kammer vom 21. Mai 2015, Az.: 24 Qs 104/14).


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