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Entscheidungen

Zivilrecht

Wenden, Fahren auf der Gegenfahrbahn, Linksabbiegen, Haftungsverteilung

Gericht / Entscheidungsdatum: OLG Düsseldorf, Urt. v. 27.10.2015 - I-1 U 46/15

Leitsatz: 1. Biegt ein Fahrzeug nach links auf die Gegenfahrbahn ab, um die Fahrt ein kurzes Stück in der Gegenrichtung fortzusetzen und ein auf dieser Straßenseite liegendes Grundstück aufzusuchen, handelt es sich um ein Wenden i.S. von § 9 Abs. 5 StVO und nicht um ein Linksabbiegen (§ 9 Abs. 1 StVO).
2. Fährt ein Fahrzeug des fließenden Verkehrs auf das wendende Fahrzeug auf, spricht ein Beweis des ersten Anscheins dafür, dass es entweder den notwendigen Sicherheitsabstand nicht eingehalten hat oder mit überhöhter Geschwindigkeit gefahren ist.
3. Bei der Abwägung der gegenseitigen Verursachungsbeiträge im Rahmen des § 17 Abs. 2 StVG ist die Betriebsgefahr des wendenden Fahrzeugs mit mindestens 50% zu berücksichtigen.


In pp.
Die Berufung der Beklagten gegen das am 23. Februar 2015 verkündete Urteil der Einzelrichterin der 5. Zivilkammer des Landgerichts Düsseldorf wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Berufungsverfahrens werden den Beklagten als Gesamtschuldnern auferlegt.
Dieses Urteil und das angefochtene Urteil sind ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Berufung der Beklagten hat in der Sache keinen Erfolg.
Sie erreichen mit ihrem Rechtsmittel nicht die beantragte vollständige Klageabweisung. Ebenso wenig gibt das Berufungsvorbringen Anlass zu einer teilweisen Korrektur der durch das Landgericht ausgesprochenen Haftungsverteilung, derzufolge die Beklagten die Unfallschäden der Klägerin im Umfang von 50 % zu ersetzen haben.
Sie dringen aus mehreren Gründen nicht mit ihrem Einwand durch, dem Unfallgeschehen sei kein durch den Beklagten zu 2. eingeleitetes Wendemanöver vorausgegangen; vielmehr handele es sich um einen gewöhnlichen Auffahrunfall mit der Rechtsfolge einer vollen Haftung der Klägerin.
Das vorkollisionäre Fahrverhalten des Beklagten zu 2. kann aus tatsächlichen und rechtlichen Gründen nicht auf den Beginn eines einfachen (Links)Abbiegens im Sinne des § 9 Abs. 1 Satz 1 StVO reduziert werden. Erstinstanzlich war unstreitig, dass dem Unfallgeschehen ein Fahrverhalten des Beklagten zu 2. vorausgegangen war, im Zuge dessen er nach Maßgabe des § 9 Abs. 5 StVO wenden wollte, um zu einem auf der anderen Straßenseite der L 239 (Blyth-Valley-Ring) gelegenen Gartengelände zu gelangen. Im Zusammenhang mit der Vorbereitung dieses Fahrmanövers durch Geschwindigkeitsreduzierung und Linkseinordnen ist dann der durch den Zeugen XXX gesteuerte Lastkraftwagen der Klägerin gegen das Heck des durch den Beklagten zu 2. zum Wenden vorbereitete Pkw Daewoo geprallt. Ganz abgesehen davon, dass sich dieser Sachverhalt bereits aus der beigezogenen staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsakte ergibt, hat er auch eine Bestätigung durch das Ergebnis der erstinstanzlichen Beweisaufnahme mittels Zeugenvernehmung gefunden.
Die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils enthalten zwar keine Feststellungen dazu, aufgrund welchen konkreten fahrlässigen Fehlverhaltens der Beklagte zu 2. gegen seine strengen Sorgfaltspflichten aus § 9 Abs. 5 StVO verstoßen hat. Insbesondere bleibt offen, ob das Landgericht sich insoweit - unzulässigerweise (Senat Urteil vom 23.06.2015 - 1 U 107/14) - auf eine Anscheinsbeweiswirkung zu Lasten des Beklagten zu 2. hat stützen wollen. Im Ergebnis kommt es indes auf die Frage hier nicht an. Denn ein Wendeverschulden ergibt sich zwangsläufig aus dem Ergebnis der erstinstanzlichen Beweisaufnahme.
Nach den insoweit nicht angefochtenen Ausführungen in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils steht darüber hinaus fest, dass der Zeuge XXX als Fahrer des Lastkraftwagens der Klägerin durch die Nichteinhaltung des gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 StVO vorgeschriebenen Mindestabstandes ebenfalls schuldhaft zu der Entstehung des Auffahrunfalles beigetragen hat. Dieses Auffahrverschulden rechtfertigt jedoch weder die seitens der Beklagten beantragte vollständige Abweisung, noch gibt sie Anlass, die durch das Landgericht ausgesprochene Haftungsverteilung zugunsten der Beklagten zu verschieben. Es steht außer Zweifel, dass die Beklagten jedenfalls im Umfang der Hälfte der unfallbedingten Vermögenseinbußen der Klägerin ersatzpflichtig sind.
Im Einzelnen ist Folgendes auszuführen:
I.
Gemäß § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO hat das Berufungsgericht seiner Verhandlung und Entscheidung die vom Gericht des ersten Rechtszuges festgestellten Tatsachen zugrunde zu legen, soweit nicht konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten. Konkreter Anhaltspunkt in diesem Sinne ist jeder objektivierbare rechtliche oder tatsächliche Einwand gegen die erstinstanzlichen Feststellungen. Bloß subjektive Zweifel, lediglich abstrakte Erwägungen oder Vermutungen der Unrichtigkeit ohne greifbare Anhaltspunkte wollte der Gesetzgeber ausschließen (BGH NJW 2006, 152 mit Hinweis auf BGHZ 152, 254, 258).
Derartige Zweifel sind hinsichtlich der Feststellung des Landgerichts, dass sich der Beklagte zu 2. als wendender Verkehrsteilnehmer einen Verstoß gegen die strengen Sorgfaltspflichten des § 9 Abs. 5 StVO als Mitursache des Unfalls entgegenhalten lassen muss, nicht gegeben. Ebenso wenig bestehen Zweifel bezüglich der durch das Landgericht ausgesprochenen Haftungsverteilung. Allerdings bedarf es noch ergänzender Ausführungen zur Konkretisierung dessen, dass den Beklagten zu 2. in haftungsbegründender Weise der Vorwurf eines Wendeverschuldens trifft.
1. In erster Instanz war unstreitig, dass der Beklagte zu 2. beabsichtigte, sein Fahrzeug auf der L 239 in XXX zu wenden, um ein in seiner Fahrtrichtung linksseitig gelegenes Gartengelände der Zeugin XXX aufzusuchen. Die Unfallstelle ist in dem polizeilichen Bildbericht mit zahlreichen Fotos anschaulich wiedergegeben (Bl. 7 ff. BeiA). Daraus geht hervor, dass der Beklagte zu 2. auf freier Strecke zu wenden beabsichtigte. Für den nachfolgenden Verkehr in Richtung XXX war nicht ersichtlich, dass sich linksseitig eine Straßeneinmündung, ein Feldweg, eine Grundstückseinfahrt oder Ähnliches auftat, was Ziel des beabsichtigten Wendemanövers des Beklagten zu 2. hätte sein können. Bei seiner informatorischen Befragung im Termin vom 25. August 2014 hat der Beklagte zu 2. angegeben, er habe den Wendevorgang durchführen wollen, um auf der gleichen Straße ein Stück in Gegenrichtung mit dem Ziel eines von der Zeugin XXX erworbenen Gartens zurückzufahren (Bl. 72, 73 d.A.).
2. Die Unfallschilderung dieser Zeugin, die Beifahrerin in dem durch den Beklagten zu 2. gesteuerten Pkw Daewoo war, hat das Landgericht zu Recht als glaubhaft und hinreichend zuverlässig angesehen. Danach steht fest, dass der Beklagte zu 2. an der Mittellinie entlangfahrend zur Vorbereitung des beabsichtigten Abbiegevorganges die Geschwindigkeit reduziert und den Fahrtrichtungsanzeiger betätigt hatte. Aus den durch das Landgericht zutreffend dargelegten Gründen (Bl. 5 UA; Bl. 111 d.A.) ist nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme die Richtigkeit der erstinstanzlich durch die Klägerin behaupteten Unfallversion widerlegt, wonach der Beklagte zu 2. den Pkw Daewoo zunächst am rechten Straßenrand zum Stillstand gebracht und von dort aus überraschend den Abbiegevorgang eingeleitet haben soll.
3. In der Berufungserwiderung räumt die Klägerin die Richtigkeit der Feststellung des Landgerichts ein, dass der mit ihrem Lkw nachfolgende Zeuge XXX unter Verstoß gegen § 4 Abs. 1 StVO den erforderlichen Sicherheitsabstand zu dem vorausfahrenden Pkw Daewoo nicht eingehalten hatte (Bl. 6 UA; Bl. 112 d.A.; Bl. 146 d.A.). Infolgedessen prallte dann die Front des Lkw gegen das Heck des durch den Beklagten zu 2. gesteuerten Pkw mit der weiteren Konsequenz, dass bedingt durch die Heftigkeit des Anstoßes der Kleinwagen eine bogenförmige Ablenkung über die Fahrspur für den Gegenverkehr erfuhr und schließlich in Längsrichtung auf einem Grünstreifen rechts daneben zum Stillstand kam. Die Endpositionen der beteiligten Fahrzeuge sind in der polizeilichen Verkehrsunfallzeichnung wiedergegeben (Bl. 6 BeiA).
4. Der Zeuge XXX hat bei seiner Befragung durch das Landgericht angegeben, er habe trotz einer sofort eingeleiteten Vollbremsung die Auffahrkollision nicht mehr vermeiden können (Bl. 73, 74 d.A.). Die zulässige Höchstgeschwindigkeit am Unfallort ist ausweislich der polizeilichen Verkehrsunfallanzeige auf 70 km/h begrenzt (Bl. 1 BeiA). Unmittelbar nach der Kollision hatte der Zeuge XXX verlautbart, er "habe seine Geschwindigkeit wohl noch nicht wirklich herabsetzen können" (Bl. 4 BeiA). Deshalb ist davon auszugehen, dass er nur mit einer etwas geringeren Geschwindigkeit als einer solchen von 70 km/h gegen das Heck des Fahrzeuges des Beklagten zu 1. geprallt ist. Dies erklärt die Heftigkeit des Anstoßes mit der nachfolgenden langgezogenen und bogenförmigen Schleuderbewegung.
5. a) Bei einer Kollision des wendenden mit einem im fließenden Verkehr befindlichen Kraftfahrzeug spricht der Beweis des ersten Anscheins für ein Verschulden des Wendenden (Burmann/Heß/Jahnke/Janker, Straßenverkehrsrecht, 23. Aufl., § 9 StVO, Rdnr. 59 mit Hinweis auf BGH DAR 1985, 316 ). Andererseits ist es nach der Lebenserfahrung wahrscheinlich, dass ein Auffahrunfall auf einem Verschulden des Auffahrenden, insbesondere auf einem zu geringen Abstand oder auf einer unangepassten Geschwindigkeit, beruht (Burmann/Heß/Jahnke/Janker,a.a.O., § 4 StVO; Rdnr. 24 mit zahlreichen Rechtsprechungsnachweisen ). Für die Feststellung eines Auffahrverschuldens des Zeugen J. bedarf es indes nicht der Heranziehung der Grundsätze über den Anscheinsbeweis, weil es nach den insoweit nicht angefochtenen Ausführungen des Landgerichts feststeht. Auch lässt sich, wie nachfolgend unter Ziffer 6 dargelegt, ein Wendeverschulden bereits sicher aus den eigenen Angaben des Beklagten zu 2. ableiten.
b) Das LG Saarbrücken hat allerdings angenommen, dass gegen den in eine Grundstückseinfahrt Abbiegenden aufgrund der gesteigerten Sorgfaltspflicht des § 9 Abs. 5 StVO ein Anscheinsbeweis spreche, wenn es bei diesem Vorgang zu einer Kollision mit dem nachfolgenden Verkehr komme; dann habe der Abbiegende typischerweise gegen die ihm obliegende Pflicht, die Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer auszuschließen, verstoßen (LG Saarbrücken, Urteil vom 24.01.2014 - 13 S 168/13)
c) Dem folgt der Senat bezogen auf die vorliegende Fallkonstellation nicht. Zwar ist der durch das Landgericht Saarbrücken entschiedene Streitfall insofern mit dem vorliegenden Fall vergleichbar, als auch der Beklagten zu 2. bei dem beabsichtigten Wendemanöver den strengen Sorgfaltsanforderungen des § 9 Abs. 5 StVO unterworfen war. Für die hiesige Konstellation des Auffahrunfalls eines nachfolgenden Fahrzeugs auf den Abbieger ist die Annahme eines Anscheinsbeweises gegen den Abbiegenden aber nicht zu rechtfertigen.
aa) Die Anwendung des Anscheinsbeweises für ein Verschulden setzt bei Verkehrsunfällen Geschehensabläufe voraus, bei denen sich nach der allgemeinen Lebenserfahrung der Schluss aufdrängt, dass ein Verkehrsteilnehmer seine Pflicht zur Beachtung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt verletzt und dadurch den Unfall verursacht hat; es muss sich um Tatbestände handeln, für die nach der Lebenserfahrung eine schuldhafte Verursachung typisch ist (BGH, Urteil vom 13.12.2011 - VI ZR 177/10, BGHZ 192, 84-90, Rn. 7 [juris]). Wenn ein nachfolgendes Fahrzeug auf einen Abbieger - insbesondere auf einen wendenden Abbieger -- auffährt, ist ein solcher Tatbestand indes nicht gegeben.
bb) Denn nach Auffassung des Senats lässt die Lebenserfahrung in diesen Fällen nicht typischerweise den Schluss auf eine Pflichtverletzung des ( wendenden ) Abbiegenden zu (Senat, Urteil vom 23. Juni 2015, Az.: I - 1 U 107/14). Zwar ist dieser nach § 9 Abs. 1 S. 1 StVO gehalten, seine Abbiege- und Wendeabsicht rechtzeitig und deutlich anzukündigen und dabei auch den Fahrtrichtungsanzeiger zu benutzen. Er muss sich auf der Fahrbahn nach links einordnen und erforderlichenfalls auch seine Geschwindigkeit behutsam verringern. Er ist überdies verpflichtet, den nachfolgenden Verkehr angemessen zu beobachten und notfalls auch den Abbiege- und Wendevorgang vollständig zurückzustellen. Gleichwohl versteht es sich von selbst, dass auch bei Beachtung der aus § 9 Abs. 5 StVO folgenden hohen Sorgfaltspflichten, eine Kollision allein deswegen erfolgen kann, weil der nachfolgende Verkehr alle deutlichen Anzeichen für das beabsichtigte Manöver schlicht übersieht oder allein deshalb auf den Abbiegenden auffährt, weil er seinen Pflichten aus § 4 Abs. 1 StVO (Einhaltung eines genügenden Abstands) nicht genügt. Die Auffassung, dass der Auffahrunfall im Wege des Anscheinsbeweises belege, dass (auch) der Abbiegende gegen die ihm obliegende Pflicht verstoßen habe (LG Saarbrücken a.a.O. [juris] Rdn. 20), ist mangels einer zwingenden Sachverhaltstypizität nicht überzeugend (Senat, a.a.O.).
6. a) Bereits aus den Angaben, die der Beklagte zu 2. bei seiner informatorischen Befragung durch das Landgericht gemacht hat, lässt sich aber die Schlussfolgerung ziehen, dass er als wendender Verkehrsteilnehmer den strengen Sorgfaltsanforderungen, die er gemäß § 9 Abs. 5 StVO zu beachten hatte, nicht gerecht geworden ist. Dieser Bestimmung gemäß muss sich ein Verkehrsteilnehmer beim Wenden so verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. Danach muss der Wendende höchstmögliche Sorgfalt walten lassen. Er darf nur in gut überblickbaren Verkehrsbereichen wenden und die beabsichtigte Richtungsänderung nur ausführen, wenn er auf der Fahrbahn niemanden gefährdet (Hentschel/König/Dauer Straßenverkehrsrecht, 43. Aufl., § 9 StVO, Rdnr. 50 mit zahlreichen Rechtsprechungsnachweisen). Wer wenden will, muss den fließenden Verkehr aus beiden Richtungen vorher vorbeilassen und darf ihn nicht mehr als unvermeidbar (§ 1 StVO) behindern (Hentschel/König/Dauer a.a.O. mit Hinweis auf OLG Schleswig VRS 53, 143).
b) Bei seiner informatorischen Befragung hat der Beklagte zu 2. eingeräumt, die Annäherung des späteren Unfallgegners schon dann wahrgenommen zu haben, als er im Zuge der Vorbereitung des Abbiegevorganges in den Rückspiegel schaute; nach seiner Meinung "war der Abstand da noch ausreichend" (Bl. 73 d.A.). Mit dieser Annahme war der Beklagte zu 2. einer fahrlässig falschen Fehleinschätzung erlegen. Denn nach seiner weiteren Darstellung konnte er nicht sogleich den Wendevorgang einleiten, da er zunächst Gegenverkehr durchlassen musste (Bl. 73 d.A.). Dem entspricht die Darstellung der Zeugin XXX (Bl. 76 d.A.). Musste der Beklagte zu 2. aber entlang der unterbrochenen Mittellinie zunächst die Vorbeifahrt des vorrangberechtigten Gegenverkehrs abwarten, konnte er zwangsläufig nicht rechtzeitig die Fahrbahn vor dem von hinten heranrückenden Lkw der Klägerin freimachen. Dieser war wegen der Nichteinhaltung des Sicherheitsabstandes gemäß § 4 Abs. 1 StVO durch den Beklagten zu 2. schon gefährlich dicht herangekommen. Die vorkollisionäre Situation hat die Zeugin XXX anschaulich geschildert ("Der Fahrer hat auch geblinkt und die Geschwindigkeit reduziert. Dann hat es schon gekracht. Wir wollten nicht abbiegen, sondern wenden"; Bl. 76 d.A.).
7. Wie bereits ausgeführt, muss der wendende Verkehrsteilnehmer den fließenden Verkehr aus beiden Richtungen vorher vorbeilassen und darf ihn nicht mehr als unvermeidbar behindern. Da nach der vorkollisionären Verkehrssituation mit der Verzögerung der Fahrtgeschwindigkeit des Pkw Daewoo und der Notwendigkeit des Abwartens des Gegenverkehrs eine konkrete Gefährdung des ordnungswidrig dicht aufgerückten Lastkraftwagens der Klägerin verbunden war, hätte der Beklagte zu 2. pflichtgemäß von der beabsichtigten Durchführung des Wendemanövers absehen müssen. Dies gilt umso mehr im Hinblick darauf, dass auf der freien Strecke der L 239 anfänglich nichts auf eine bevorstehende Richtungsänderung des Pkw Daewoo nach links hindeutete. Zu wenden ist an günstigster Stelle und auf die schonendste Art; bei starkem Verkehr ist stattdessen ein Umweg zu fahren (Hentschel/König/Dauer a.a.O., § 9 StVO, Rdnr. 50 mit Hinweis auf OLG Hamm, VersR 2001, 1169).
8. Für den Zeugen XXX stellte sich die Einleitung des Wendevorganges seines späteren Unfallgegners so überraschend ein, dass er trotz einer Vollbremsung nicht mehr rechtzeitig anhalten konnte. Seiner Schilderung gemäß war der Pkw Daewoo "plötzlich da" (Bl. 74 d.A.).
II.
In tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht fehl geht der Einwand der Beklagten, der Beklagte zu 2. habe ein Wendemanöver weder eingeleitet noch begonnen, so dass ein "schlichter Auffahrunfall" gegeben sei mit der Rechtsfolge einer Alleinhaftung der Klägerin wegen der Nichteinhaltung des Sicherheitsabstandes durch den Zeugen XXX (Bl. 138 d.A.).
1. Der Schutzbereich des § 9 Abs. 5 StVO, der die strengen Sorgfaltspflichten des wendenden Verkehrsteilnehmers zum Gegenstand hat, erfasst nicht nur die Verkehrsteilnehmer auf der Fahrspur für die Gegenrichtung, die im Zuge der beabsichtigten Richtungsänderung überquert werden soll. Da der Wendende den Verkehr aus beiden Richtungen vorher vorbeilassen muss, folgt daraus zwangsläufig, dass sich der vorgeschriebene Gefährdungsausschluss auch auf den nachfolgenden Verkehr bezieht. Die Einzelheiten des vorliegenden Falles verdeutlichen die Gefährlichkeit eines Wendemanövers, dass auf der freien Strecke einer zweispurigen Landstraße mit einer dort zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 70 km/h eingeleitet werden soll: Der Pkw Daewoo, der sich zunächst mit dem nachfolgenden klägerischen Lkw im fließenden Verkehr befunden hatte, wurde durch die spontane Fahrtverzögerung mit der nachfolgenden Notwendigkeit des Abwartens des Gegenverkehrs für den aufrückenden Beklagten zu 2. zu einem plötzlichen Frontalhindernis, dem er nicht mehr rechtzeitig ausweichen konnte - wenn auch die Entstehung der Heckkollision mitursächlich auf die Nichteinhaltung des gebotenen Sicherheitsabstandes zurückzuführen war.
2. Das Wenden ist das Umdrehen des Fahrzeugs in die Gegenrichtung auf derselben Straße - und zwar gleichviel, wie und zu welchem Zweck (Hentschel/König/Dauer a.a.O., § 9 StVO, Rdnr. 50 mit Hinweis auf BGH NZV 2002, 376 und weiteren Rechtsprechungsnachweisen). Entgegen dem Argumentationsansatz der Beklagten kann der einheitliche Wendevorgang nicht dergestalt in Einzelphasen aufgeteilt werden, dass die Vorbereitung der Richtungsänderung - so wie durch die Zeugin XXX und den Beklagten zu 2. mit der Fahrtverlangsamung entlang der Mittellinie bei gleichzeitiger Betätigung des linken Fahrtrichtungsanzeigers geschildert - rechtlich nur als Beginn eines Abbiegevorganges im Sinne des § 9 Abs. 1 StVO einzuordnen ist.
a) Denn das Gefahrenpotential des beabsichtigten Wendevorganges setzt bereits mit dessen Vorbereitung - im vorliegenden Fall mit einer deutlichen Reduzierung der Fahrtgeschwindigkeit auf einer Landstraße - ein. Richtig ist zwar, dass das Wenden sich aus zumindest einem Abbiegevorgang, möglicherweise sogar aus mehreren Abbiegevorgängen, zusammensetzt, für welche die Regeln des § 9 Abs. 1 bis Abs. 4 StVO unmittelbar anwendbar sind (Burmann/Heß/Jahnke/Janker a.a.O., § 9 StVO, Rdnr. 58). Das bedeutet andererseits nicht, dass für jede Phase des Wendevorganges unterschiedliche Sorgfaltsanforderungen Berücksichtigung finden müssen - und zwar abhängig davon, ob etwa ein Wendevorgang erst durch eine entsprechende Einordnung gemäß § 9 Abs. 1 StVO vorbereitet wird oder ob weitergehend der Fahrer im Zuge der Durchführung der beabsichtigten Richtungsänderung bereits die abbiegetypische Schrägstellung eingenommen hat.
b) Es würde dem typischen Gefahrenpotential eines Wendevorganges nicht gerecht, wenn man, wie von den Beklagten postuliert, die Vorbereitung der Richtungsänderung allein im Hinblick auf die Einhaltung der Sorgfaltsanforderung des § 9 Abs. 1 StVO würdigen würde, hingegen der in § 9 Abs. 5 StVO verlangte Ausschluss der Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer erst für den Zeitpunkt maßgeblich sein soll, zu welchem der Fahrer die Schrägstellung quer zum bevorrechtigten fließenden Geradeausverkehr erreicht hat. Im Vergleich dazu ist etwa das Abbiegen als Ganzes zu sehen, es beginnt daher bereits mit der Rückschaupflicht, dem Blinken und Einordnen, nicht erst mit dem Bogenfahren (Hentschel/König/Dauer a.a.O., § 9 StVO, Rdnr. 16). Entsprechendes gilt für einen Wendevorgang, der bezüglich der Einhaltung der strengen Sorgfaltsanforderungen des § 9 Abs. 5 StVO ebenfalls als ganzheitlicher Vorgang gewürdigt werden muss.
3) Zweifelhaft erscheint deshalb die vereinzelt gebliebene Ansicht des Bayerischen Obersten Landgerichts vom 19. April 1996, die es seinerzeit in einem Beschluss zu dem Az.: 2 ObOWi 286/96 vertreten hat. Danach soll ein Wenden auf einer Kraftfahrstraße im Sinne des § 18 Abs. 7 StVO noch nicht vorliegen, wenn der Betroffene sein Fahrzeug lediglich abbremst oder anhält, um bei nächster Gelegenheit das Wendemanöver durchzuführen (VRS 92, 37 f. d.A.). Jedenfalls soll auch nach Maßgabe dieser Entscheidung der Tatbestand des Wendens zumindest ein Einschlagen des Steuers sowie ein Anfahren in die angestrebte neue Fahrtrichtung erfordern (BayObLG a.a.O., S. 387 mit Hinweis auf Schönke/Schröder/Cramer, Kommentar zum Strafgesetzbuch, § 315c, Rdnr. 22 - nunmehr Sternberg-Lieben/Hecker in Schönke/Schröder, Kommentar zum Strafgesetzbuch,29. Aufl., § 315c, Rdnr. 22).
a) Bei seiner informatorischen Befragung hat der Beklagte zu 2. angegeben, er habe zur Vorbereitung des Wendevorganges das Lenkrad schon nach links eingeschlagen gehabt; deswegen sei das Fahrzeug im Zuge einer Richtungsänderung auf der anderen Fahrbahnseite auf dem Grünstreifen zum Stehen gekommen (Bl. 73 d.A.).
b) Ob der Pkw Daewoo vor dem Zusammenstoß bereits zum Stillstand gekommen oder noch leicht gerollt war, vermochte der Beklagte zu 2. nicht anzugeben (Bl. 73 d.A.). Auch die Zeugin XXX konnte zu diesem Punkt keine konkrete Aussage machen. Sie hielt es für möglich, dass das Fahrzeug noch leicht gerollt war (Bl. 76 d.A.). Nach diesen Schilderungen ist es demnach möglich, dass der Pkw des Beklagten zu 1. in der letzten vorkollisionären Phase - wenn auch nur leicht - bereits in die angestrebte Fahrtrichtungsänderung hineingerollt war. Danach wäre auch unter Berücksichtigung der Entscheidung des Bayerischen Obersten Landesgerichts der Tatbestand des Wendens erfüllt.
c) Dem steht nicht die Beurkundung des Zeugen xxx entgegen, derzufolge das Fahrzeug des Unfallgegners "plötzlich auf er Straße stand" (Bl. 73 d.A.). Der Zeuge wurde als Fahrer des klägerischen Lkw durch den Anblick des verzögerten Pkw Daewoo völlig überrascht und hat sich noch nach Kräften vergeblich bemüht, das Fahrzeug zum Stillstand zu bringen ("Ich habe sofort eine Vollbremsung eingeleitet und habe quasi schon im Fahrzeug gestanden, aber konnte nicht mehr rechtzeitig bremsen"; Bl. 73, 74 d.A.). Es erscheint deshalb sehr fraglich, ob der Zeuge xxx aus der geschilderten Notsituation heraus noch hinreichend deutlich unterscheiden konnte, ob der Pkw des Unfallgegners zur Durchführung des Wendevorganges noch leicht rollte oder zuvor gänzlich zum Stillstand gekommen war.
4. Letztlich darf auch nicht unberücksichtigt bleiben, dass die Beklagten beginnend mit der Klageerwiderung vom 20. Januar 2014 und sodann im Folgeschriftsatz vom 10. April 2014 im Sinne des § 288 Abs. 1 ZPO zugestanden haben, dass der Beklagte zu 2. unmittelbar vor dem Heckanstoß ein Wendemanöver - und nicht etwa einen Abbiegevorgang - beginnen wollte (Bl. 42, 70 d.A.). An dieses Geständnis sind die Beklagten auch in der Berufungsinstanz gebunden (§ 535 ZPO).
III.
Da für keinen der Beteiligten ein unabwendbares Ereignis im Sinne des § 17 Abs. 3 Satz 1 StVG gegeben war, sind die jeweiligen Verursachungsbeiträge gemäß §§ 17, 18 StVG gegeneinander abzuwägen. Bei dieser Abwägung kommt es nach dem Gesetz insbesondere darauf an, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder anderen Teil verursacht worden ist. In jedem Fall sind bei der Abwägung nur unstreitige, zugestandene oder bewiesene Umstände zu berücksichtigen (BGH NJW 2007, 506). Jeder Halter hat dabei die Umstände zu beweisen, die dem anderen zum Verschulden gereichen und aus welchen er die nach der Abwägung für sich günstigen Rechtsfolgen herleiten will (BGH NZV 1996, 231).
Kommt es zu einer Kollision zwischen einem Wendenden und einem Teilnehmer des bevorrechtigten fließenden Geradeausverkehrs, führt dies in der Regel zu einer Alleinhaftung des Ersteren. Eine solche Haftungsverteilung kann im vorliegenden Fall jedoch aufgrund der Tatsache nicht einschlägig sein, dass dem Zeugen J. ein Annäherungsverschulden in Form der Nichteinhaltung des nach § 4 Abs. 1 StVO vorgeschriebenen Sicherheitsabstandes anzulasten ist. Das Landgericht hat die Verursachungs- und Verschuldensanteile bei der Abwägung für beide Seiten als gleichgewichtig angesehen (Bl. 6 UA; Bl. 112 d.A.). Diese Würdigung begegnet Bedenken. Denn die Betriebsgefahr eines Fahrzeugs, dessen Fahrer auf freier Strecke einer Landstraße seinen Wagen plötzlich deutlich verzögert, um aus dem fließenden Verkehr heraus an einer unerwarteten Stelle einen Wendevorgang einzuleiten, und dabei die zu dichte Annäherung eines nachfolgenden Verkehrsteilnehmers falsch einschätzt, ist als sehr hoch in Ansatz zu bringen. Die Frage, ob sie höher als mit dem durch das Landgericht ausgewiesenen Anteil von 50 % zu gewichten ist, kann im Ergebnis dahinstehen. Denn der auf die Beklagten entfallende Verursachungs- und Verschuldensanteil rechtfertigt es jedenfalls, sie mit der hälftigen Quote der Unfallschäden zu belasten.
IV.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.
Die Anordnung über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Urteils hat ihre Grundlage in §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO.
Der Gegenstandswert für den Berufungsrechtszug beträgt 1.224,84 €.
Zur Zulassung der Revision besteht kein Anlass, weil die Voraussetzungen des § 543 Abs. 2 ZPO nicht gegeben sind.

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