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Entscheidungen

Haftfragen

U-Haft, Verhältnismäßigkeit, Rechtsmittelverfahren

Gericht / Entscheidungsdatum: KG, Beschl. v. 03.11.2015 - 3 Ws 532/15

Leitsatz: Wird erst acht Monate nach der Verurteilung bei der Fertigung des Revisionsübersendungsberichtes bemerkt, dass das Sitzungsprotokoll nicht ordnungsgemäß fertig gestellt und die Zustellung des mit der Revision angefochtenen Urteils deshalb unwirksam ist, verstößt die Fortdauer der Untersuchungshaft bei einer bisherigen Untersuchungshaftdauer von 14 Monaten und einer verhängten Freiheitsstrafe von 18 Monaten gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.


KAMMERGERICHT
Beschluss
In der Strafsache
gegen E.,
hier nur gegen XXX
wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz
hat der 3. Strafsenat des Kammergerichts in Berlin am 3. November 2015 beschlossen:

Auf die Beschwerde des Angeklagten Y. werden der Beschluss des Landgerichts Berlin vom 18. September 2015 und der Haftbefehl des Amtsgerichts Tiergarten vom 30. Juli 2014 – 348 Gs 2516/14 – aufgehoben.

Die Landeskasse Berlin hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die darin entstandenen notwendigen Auslagen des Angeklagten zu tragen.

Gründe:

1. Der Angeklagte befindet sich in dieser Sache aufgrund des Haftbefehls des Amtsgerichts Tiergarten vom 30. Juli 2014 seit dem 12. August 2014 in Untersuchungshaft. Am 23. Februar 2015 verurteilte das Landgericht Berlin ihn nach neuntägiger, gegen weitere vier Angeklagte geführter Hauptverhandlung zu einer zu vollstreckenden Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten. Die dabei als Beweismittel herangezogenen Erkenntnisse aus Telefonüberwachungen und Observationen erklärte die Kammer in einem nachfolgenden Parallelverfahren gegen einen anderen Tatbeteiligten für unverwertbar. Über die unter anderem darauf gestützte, fristgerecht eingelegte Revision des Angeklagten ist noch nicht entschieden.

Mit dem angegriffenen Beschluss vom 18. September 2015 hat das Landgericht den Antrag des Angeklagten auf Aufhebung des Haftbefehls abgelehnt, weil die nachträglich festgestellte Unverwertbarkeit der Beweismittel der Revision nicht zum Erfolg verhelfen könne und der drohende Widerruf der Aussetzung einer gut vierjährigen Reststrafe zur Bewährung den Haftgrund der Fluchtgefahr begründe.

2. Die dagegen gerichtete Beschwerde des Angeklagten hat Erfolg und führt zur Aufhebung des Haftbefehls.

Es kann dahin stehen, ob der Angeklagte der ihm vorgeworfenen Taten trotz des im Parallelverfahren angenommenen Beweisverwertungsverbots dringend verdächtig ist (§ 112 Abs. 1 Satz 1 StPO) und ob der vom Landgericht angenommene Haftgrund der Fluchtgefahr vorliegt. Die Fortdauer der Untersuchungshaft ist jedenfalls nicht mehr verhältnismäßig (§ 120 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 StPO). Das Verfahren ist nach dem Erlass des Urteils in so erheblicher Weise verzögert worden, dass die Aufrechterhaltung der inzwischen über 14 Monate andauernden Untersuchungshaft nicht mehr gerechtfertigt ist.

a) Die Durchsicht der Beschwerdebände und die vom Senat eingeholten dienstlichen Stellungnahmen haben zum Verfahrensgang Folgendes ergeben:

Am 13. April 2015 wurde das schriftliche Urteil abgesetzt. Am 3. Juni 2015 wurde die Fertigstellung des Hauptverhandlungsprotokolls vermerkt. Dabei wurde versehentlich übersehen, dass zwei Protokollteile nicht von den Urkundsbeamtinnen unterzeichnet waren. Am 8. Juni 2015 wurde das Urteil zugestellt. Bis zum 17. Juli 2015 verfügte der Vorsitzende die Zustellung der Revisionsbegründungen des Angeklagten Y. und eines Mitangeklagten an die Staatsanwaltschaft. Nachdem ein weiterer Mitangeklagter zunächst am 5. August 2015 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Revisionsfrist beantragt, die Revision jedoch am 12. August 2015 zurückgenommen hatte, wurden die Akten am 14. August 2015 der Staatsanwaltschaft zur Zustellung der Revisionsbegründungen zugeleitet, wo sie am 17. August 2015 eingingen.

In der Folgezeit wurden die Akten der Vollstreckungsabteilung zur Einleitung der Vollstreckung gegen drei rechtskräftig verurteilte Mitangeklagte übersandt, sodann hat die Staatsanwaltschaft die Akten auf Anforderung vom 27. August 2015 zur Fertigung von Kopien für die Bearbeitung von offenen Kostenfestsetzungsanträgen und dann erneut am 7. September 2015 zur Bearbeitung des am 3. September 2015 eingegangenen Haftprüfungsantrags des Angeklagten dem Landgericht zurückgereicht. Die nach Rückkehr der Akten am 25. September 2015 begonnene Anfertigung der Revisionsgegenerklärung konnte der zuständige Abteilungsleiter erst am 12. Oktober 2015 abschließen, weil der Angeklagte zwischenzeitlich Beschwerde gegen die Haftfortdauerentscheidung vom 18. September 2015 eingelegt hatte und das Landgericht daraufhin die Akten erneut für etwa eine Woche benötigte, um Kopien für einen Haftbeschwerdeband anzufertigen. Nach Zustellung der Revisionsgegenerklärung an das Landgericht und Rückkehr der Akten am 16. Oktober 2015 wurde bei der Staatsanwaltschaft die Unvollständigkeit des Protokolls bemerkt. Seit dem 21. Oktober 2015 befinden sich die Akten wieder beim Landgericht zur Nachholung der Unterschriften und erneuten Zustellung des Urteils. Wegen der Erkrankung einer dafür benötigten Protokollführerin wird dies frühestens am 28. Oktober 2015 veranlasst werden; ein Verhinderungsvermerk soll erst im Fall der Fortdauer der Erkrankung angebracht werden.

b) Mit dieser Verfahrensweise sind vorrangig das Landgericht, aber auch die Staatsanwaltschaft dem im Grundrecht auf die Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) und im Recht auf ein faires rechtsstaatliches Verfahren verankerten Beschleunigungsgebot nicht gerecht geworden.

aa) In Haftsachen müssen Strafverfolgungsbehörden und Gerichte alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um mit der gebotenen Schnelligkeit eine gerichtliche Entscheidung über den Anklagevorwurf herbeizuführen. Ob die Fortdauer der Untersuchungshaft im Einzelfall noch zur Durchführung eines geordneten Strafverfahrens und Sicherstellung der Strafvollstreckung gerechtfertigt ist, ist durch eine umfassende Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch des Betroffenen und dem Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit zu bestimmen. Von dem Beschuldigten nicht zu vertretende, in ihrer Gesamtheit erhebliche, sachlich nicht gerechtfertigte und vermeidbare Verfahrensverzögerungen stehen regelmäßig einer weiteren Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft entgegen. Die Anforderungen an die Förderung des Verfahrens sind dabei umso höher, je länger die Untersuchungshaft schon andauert (BVerfG, Beschluss vom 4. Mai 2001 – 2 BvR 2781/10 –, juris Rn. 13; NJW 2006, 1336, 1337 f.; NJW 2006, 677, 678; Senat, Beschluss vom 13. November 2006 – (3) 1 HEs 168/06 (80-82/06) –, juris Rn. 4).

Diese Grundsätze sind während des gesamten Strafverfahrens und somit auch bei der Absetzung und Zustellung des Urteils sowie der Weiterleitung der Akten an das Rechtsmittelgericht zu beachten (BVerfG, NJW 2006, 1336, 1337; NJW 2006, 677, 679; NStZ 2005, 456; KG, Beschluss vom 7. März 2014 – 4 Ws 21/14 –, juris Rn. 30; OLG Saarbrücken, Beschluss vom 16. Februar 2007 – 1 Ws 31/07 –, juris Rn. 5; OLG Celle, Beschluss vom 7. September 2009 – 1 Ws 465/09 –, juris Rn. 10). Allerdings können Verzögerungen nach dem erstinstanzlichen Urteil geringer ins Gewicht fallen, weil sich durch den Schuldspruch das Gewicht des staatlichen Strafanspruchs vergrößert und umgekehrt die Unschuldsvermutung in geringerem Maße für den Angeklagten streitet (BVerfG, NJW 2006, 677, 680; KG, a. a. O.; OLG Celle, a. a. O., Rn. 12). Andererseits sind in dem in stärkerem Maße von Routinetätigkeiten geprägten Verfahren nach Absetzung der schriftlichen Urteilsgründe Umfang und Komplexität der Sache nicht ohne weiteres von derselben Bedeutung wie im Ermittlungs- und Erkenntnisverfahren. Grobe Verfahrensfehler bei der Erledigung solcher Routinearbeiten – seien sie durch eine unzureichende Personalausstattung oder durch sonst absehbare und vermeidbare Umstände verursacht – können die gebotene zügige richterliche Bearbeitung konterkarieren und damit der Fortdauer der Untersuchungshaft entgegenstehen (BVerfG, NJW 2006, 1336, 1339). Besondere Anforderungen an die Beschleunigung können sich zudem auch nach der Verurteilung je nach Länge der verhängten Strafe aus dem verfassungsrechtlich geschützten Resozialisierungsinteresse des Angeklagten (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG) ergeben. Denn wenn die verhängte Freiheitsstrafe durch Anrechnung der Untersuchungshaft zum überwiegenden Teil oder sogar vollständig verbüßt wird, können die im Vollzug möglichen Behandlungsmaßnahmen ihr Ziel nur noch in geringem Ausmaß oder gar nicht erreichen (BVerfG, NJW 2006, 677, 680; KG, a. a. O.; OLG Celle, a. a. O.).

bb) Mit diesen Vorgaben ist es nicht zu vereinbaren, dass das Urteil acht Monate nach Verkündung bzw. über sechs Monate nach Vorliegen der schriftlichen Urteilsgründe wegen der Verletzung der zwingenden Verfahrensvorschrift des § 273 Abs. 4 StPO noch nicht wirksam zugestellt war (vgl. dazu BGH, NStZ 2014, 420, 421). Auch bei größtmöglicher Beschleunigung wird eine Vorlage an den Bundesgerichtshof unter Berücksichtigung der zu beachtenden Fristen und Verfahrensschritte nicht vor Mitte Dezember 2015 möglich sein (vgl. OLG Saarbrücken, Beschluss vom 16. Februar 2007 – 1 Ws 31/07 –, juris Rn. 13, wo eine sieben Monaten nach Ablauf der Revisionsbegründungsfrist unterbliebene Vorlage an das Revisionsgericht beanstandet wurde). Die erstinstanzlich verhängte Freiheitsstrafe von nur 18 Monaten wird durch Anrechnung der dann bereits seit 16 Monaten andauernden Untersuchungshaft weitgehend verbüßt und eine sinnvolle Gestaltung des Strafvollzugs in der verbleibenden Zeit kaum mehr möglich sein. Auch eine Anschlussvollstreckung nach dem etwaigen Widerruf der Reststrafenaussetzung erscheint damit ausgeschlossen.

Dass die Verzögerung der Urteilszustellung ein solches Ausmaß angenommen hat und die Unvollständigkeit des Protokolls nicht bereits früher bemerkt wurde, hängt maßgeblich damit zusammen, dass der Beschleunigungsgrundsatz auch in anderer Hinsicht missachtet wurde. Seit dem Erlass des Urteils am 23. Februar 2015 ist es zu einer Reihe von Verzögerungen gekommen, die jedenfalls in ihrer Gesamtheit auch unabhängig von der Wiederholung der Zustellung der Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft entgegenstehen.

Bereits die (vermeintliche) Fertigstellung des Protokolls erst 14 Wochen nach Urteilsverkündung wird dem Beschleunigungsgrundsatz nicht gerecht. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts muss in Haftsachen das Protokoll parallel mit den schriftlichen Urteilsgründen erstellt werden. Die Anfertigung eines – wie hier – nicht außergewöhnlich umfangreichen Protokolls darf grundsätzlich nicht länger dauern als die Niederschrift des Urteils (BVerfG, NJW 2006, 1336, 1339; NJW 2006, 677, 679). Das gilt hier umso mehr, als die siebenwöchige Urteilsabsetzungsfrist des § 275 Abs. 1 StPO – die eine Höchstfrist ist und das Gericht in Haftsachen nicht von der Verpflichtung zur beschleunigten Urteilsabsetzung entbindet (vgl. BVerfG, NJW 2006, 677, 679) – bis zum letzten Tag ausgenutzt wurde. Die in der dienstlichen Stellungnahme des Vorsitzenden hervorgehobenen Schwierigkeiten – die Beteiligung mehrerer Protokollführer und die Notwendigkeit zahlreicher Änderungen – erklären nicht ausreichend, warum eine Erstellung des Protokolls innerhalb von sieben Wochen nicht möglich war, erst recht aber nicht, warum sogar die doppelte Zeitspanne benötigt wurde (vgl. auch die Beanstandung einer nur zweiwöchigen Überschreitung in BVerfG, NJW 2006, 1336, 1339).

Auch für die erst fünf Wochen nach dem (vermeintlichen) Ablauf der Revisionsbegründungsfrist ausgeführte Zustellung an die Staatsanwaltschaft lässt sich weder den Akten noch den dienstlichen Stellungnahmen ein ausreichender Grund entnehmen (vgl. die in BVerfG, NJW 2006, 1336, 1339 und NStZ 2005, 456, 457 beanstandeten Verzögerungen von fünf Wochen bzw. eineinhalb Monaten). Der vom Vorsitzenden als Verfahrensbesonderheit hervorgehobene, ohnehin erst nach vier Wochen eingegangene Wiedereinsetzungsantrag des Mitangeklagten musste vom Landgericht nicht inhaltlich geprüft werden (§ 46 Abs. 1 StPO). Soweit die Geschäftsstellenverwalterin in ihrer dienstlichen Stellungnahme auf eine zwischenzeitliche personelle Unterbesetzung der Geschäftsstelle hinweist, handelt es sich um einen Umstand aus dem Verantwortungsbereich der Justiz, dem die Gerichtsverwaltung gegebenenfalls durch geeignete organisatorische Maßnahmen hätte begegnen müssen (BVerfG, Beschluss vom 4. Mai 2011 – 2 BvR 2781/10 –, juris Rn. 17; NJW 2006, 1336, 1339; NJW 2006, 677, 679).

Schon diese Verzögerungen waren nicht mehr hinnehmbar, zumal die verhängte Freiheitsstrafe zu diesem Zeitpunkt durch Anrechnung bereits zu zwei Dritteln verbüßt war. Jedenfalls aber wäre die mit dem weiteren Verfahrensablauf betraute Staatsanwaltschaft – unabhängig davon, ob die Heilung einer schon eingetretenen Verletzung des verfassungsrechtlichen Beschleunigungsgrundsatzes durch nachfolgende überpflichtmäßige Beschleunigung möglich ist (offengelassen in BVerfG, Beschluss vom 4. Mai 2011, a. a. O., Rn. 19, und NJW 2006, 677, 680) – nunmehr verpflichtet gewesen, das Revisionsverfahren mit der größtmöglichen Beschleunigung unter konsequenter Nutzung sämtlicher zur Verfügung stehenden Möglichkeiten zu betreiben (vgl. zu diesem Maßstab – zum Parallelproblem im Rahmen des Rechts auf wirkungsvollen Rechtsschutz – BVerfG, Beschluss vom 30. Juli 2009 - 1 BvR 2662/06 -, juris Rn. 28; BerlVerfGH, Beschluss vom 16. Januar 2015 – 84/13 –, juris Rn. 8 m. w. N.).

Gemessen daran war die Zeit von zwei Monaten bis zur Fertigung und Zustellung der Revisionsgegenerklärung – für die § 347 Abs. 1 Satz 2 StPO grundsätzlich eine Wochenfrist vorsieht – zu lang (vgl. BVerfG, NJW 2006, 677, 680; OLG Saarbrücken, Beschluss vom 16. Februar 2007 – 1 Ws 31/07 –, juris Rn. 11). Eine Rechtfertigung ergibt sich insbesondere nicht daraus, dass sich die Akten zwischenzeitlich aus nicht mit dem Revisionsverfahren zusammenhängenden Gründen beim Landgericht befanden (vgl. OLG Saarbrücken, a. a. O., Rn. 12). Die dadurch verursachte Verzögerung von etwa dreieinhalb Wochen hätte vermieden werden können, indem das Landgericht rechtzeitig die erforderlichen Doppelbände angelegt bzw. vervollständigt und die Staatsanwaltschaft die unverzügliche Rücksendung der Akten durch Setzung kurzer Fristen überwacht hätten.

3. Die Kosten- und Auslagenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung des § 467 Abs. 1 StPO.

Einsender: RiKG H. P. Hanschke

Anmerkung:


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