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Entscheidungen

StPO

Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, Frist, Nachholung der versäumten Handlung

Gericht / Entscheidungsdatum: OLG Braunschweig, Beschl. v. 26.02.2016 - 1 Ss 6/16

Leitsatz: 1. Gemäß § 24 Abs. 1 Nr. 1 lit. b) RPflG ist die Aufnahme von Erklärungen über die Einlegung und Begründung der Revision in Strafsachen zu Protokoll der Geschäftsstelle (§ 345 Abs. 2 StPO) allein dem Rechtspfleger übertragen, der die Belehrungs- und Fürsorgepflichten gemäß Nr. 150 Abs. 2 bis Abs. 6 RiStBV zu beachten hat.
2. Ist eine zu Protokoll der Geschäftsstelle angebrachte Revisionsbegründung deshalb unwirksam, weil die Erklärungen des Angeklagten durch einen unzuständigen Beamten aufgenommen wurden, besteht grundsätzlich die Möglichkeit einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand von Amts wegen.
3. Auch im Falle einer ausschließlich auf Fehlern der Justiz beruhenden Unzulässigkeit eines Rechtsmittels kann die Wiedereinsetzung von Amts wegen nur dann gewährt werden, wenn die versäumte Handlung nachgeholt wurde, worauf der Angeklagte hinzuweisen ist.
4. Zur Nachholung der versäumten Handlung steht dem Angeklagten die Monatsfrist aus § 345 Abs. 1 Satz 1 StPO (und nicht nur die Wochenfrist aus § 45 Abs. 1 S.1, Abs. 2 S. 2 StPO) zur Verfügung.


In pp.
1. Der Angeklagte wird darauf hingewiesen, dass ihm Wiedereinsetzung in die Frist zur Begründung der Revision gegen das Urteil des Landgerichts Braunschweig vom 9. Dezember 2015 gewährt werden kann, wenn er innerhalb einer Frist von einem Monat, die mit der Zustellung dieses Beschlusses beginnt, die Revision (noch einmal) begründet.
2. Der Beschluss des Landgerichts Braunschweig vom 19. Januar 2016 (Verwerfung der Revision als unzulässig) wird aufgehoben.
3. Der Antrag des Angeklagten auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers für das Revisionsverfahren wird zurückgewiesen (Insoweit: Entscheidung des Vorsitzenden).

Gründe
I.
Der Angeklagte ist vom Amtsgericht Goslar am 10. September 2015 wegen Beleidigung zu einer Geldstrafe von 40 Tagessätzen zu je 25,- € verurteilt worden. Seine dagegen gerichtete Berufung hat das Landgericht Braunschweig am 09. Dezember 2015 mit der Maßgabe verworfen, dass die Tagessatzhöhe auf 10,- € reduziert wird. Darüber hinaus ist ihm gestattet worden, die Geldstrafe ratenweise zu begleichen.

Gegen das in seiner Anwesenheit verkündete und am 15. Dezember 2015 zugestellte Berufungsurteil hat der Angeklagte am Tag der Verkündung zu Protokoll einer Justizhauptsekretärin der Geschäftsstelle des Landgerichts Braunschweig Revision eingelegt. Das Protokoll hat den folgenden Wortlaut:

„Ich lege gegen das heute gegen mich ergangene Urteil Revision ein, da bei mir der Eindruck einer hohen Voreingenommenheit mir gegenüber entstanden ist bei gleichzeitiger Vorteilsvergabe an die Zeugin. Dieser Frau scheint alles geglaubt worden zu sein, mir allerdings nichts.
[…]
Mir ist aufgefallen, dass, wenn Aussage gegen Aussage steht, hier dagegen gehandelt wurde, dass gegen die Gesetze gehandelt wurde in dem heute hier ergangenen Urteil, denn es heißt: „…für den Angeklagten und nicht gegen den Angeklagten…“

Außerdem beantrage ich die Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist, da ich mir erst einen Anwalt suchen muss.“

Das Protokoll ist vom Angeklagten eigenhändig unterzeichnet worden.

Mit einem handschriftlichen Schreiben vom 07. Januar 2016, eingegangen bei dem Landgericht Braunschweig am 11. Januar 2016, welches der Angeklagte eigenhändig unterschrieben hat, beantragt er die Aufhebung aller Urteile in der Strafsache S. und Abweisung der Klage der Frau S. Weiterhin wird ausgeführt:

Die Schimpfwörter die Frau S. mir zugeschoben hat bestreite ich entschieden. Somit steht hier Aussage gegen Aussage, das heißt: „Im Zweifelsfall für den Beklagten und nicht gegen ihn.““

Mit Beschluss vom 19. Januar 2016, der dem Angeklagten am 21.01.2016 zugestellt worden ist, hat das Landgericht Braunschweig die Revision des Angeklagten als unzulässig verworfen.

Dagegen wendet sich der Angeklagte mit seinem als Einspruch bezeichneten Schreiben vom 22. Januar 2016, das am 27. Januar 2016 beim Landgericht Braunschweig eingegangen ist. Zugleich beantragt er die Beiordnung eines Verteidigers für das Revisionsverfahren.

Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, den Antrag auf Entscheidung des Revisionsgerichts als unbegründet zu verwerfen.

II.
1. Hinweis auf eine etwaigen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand

Der angefochtene Beschluss war aufzuheben und der Angeklagte über die Möglichkeit der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand betreffend die versäumte Revisionsbegründungsfrist zu belehren, weil die Revision ohne sein Verschulden formunwirksam begründet wurde.

Gemäß § 24 Abs. 1 Nr. 1 lit. b) RPflG ist die Aufnahme von Erklärungen über die Einlegung und Begründung der Revision in Strafsachen dem Rechtspfleger übertragen, der die Belehrungs- und Fürsorgepflichten gemäß Nr. 150 Abs. 2 bis Abs. 6 RiStBV zu beachten hat. Andere Justizbeamte sind hierfür nicht zuständig (Franke, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl., § 345 Rdnr. 32 m.w.N.; Meyer-Goßner, StPO, 56. Aufl., Einl. Rdnr. 133).

Die Revisionseinlegung des Angeklagten, die zugleich die Begründung des Rechtsmittels in Form einer allgemeinen Sachrüge enthält, ist vorliegend nicht von einem Rechtspfleger, sondern von einer Justizsekretärin protokolliert worden (Bl. 71 d.A.). Damit ist aber nur die Einlegung der Revision wirksam erfolgt, weil § 341 Abs. 1 StPO auch die Möglichkeit einer schriftlichen Einlegung der Revision vorsieht, der protokollierte Inhalt der hier von einer unzuständigen Beamtin aufgenommenen Prozesserklärung vom Angeklagten eigenhändig unterschrieben wurde und deshalb insoweit eine eigene schriftliche und damit wirksame Willenserklärung des Angeklagten vorliegt (vgl. OLG Düsseldorf, Beschl. v. 13.05.1993, 3 Ws (Owi) 247/93, Leitsatz 1; juris; OLG Braunschweig (Senat), Beschluss vom 17.01.2014, 1 Ss 2/14; nicht veröffentlicht).

Für die zugleich mit der Einlegung der Revision in Form der allgemeinen Sachrüge erfolgte Begründung gelten diese Erwägungen jedoch nicht, weil insoweit eine eigene schriftliche Erklärung des Angeklagten nicht genügt (§ 345 Abs. 2 StPO). Die hier erfolgte Aufnahme der Revisionsbegründung durch einen unzuständigen Beamten hat zur Folge, dass die Formerfordernisse des § 345 Abs. 2 StPO nicht gewahrt sind und diese unwirksam ist (so vor Inkrafttreten des § 24 RPflG: BGH, NJW 1952, 1386; danach und bezogen auf Rechtsbeschwerdebegründungen: OLG Köln, Beschl. v. 29.09.2005, 83 Ss-OWi 37/05, Rdnr. 7, juris; Schleswig-Holsteinisches OLG, Beschl. v. 11.01.2001, 1 SsOWi 344/00, Orientierungssatz, juris; OLG Düsseldorf, NZV 1994, 123; Meyer-Goßner, a.a.O., § 345 Rdnr. 19; Franke, a.a.O.; Senatsbeschluss vom 17.01.2014, 1 Ss 2/14). Da - wie oben ausgeführt - die Erklärung des Angeklagten im vorliegenden Fall gerade nicht durch einen Rechtspfleger protokolliert worden ist, ist die Revisionsbegründung somit unwirksam.

Dem Angeklagten kann jedoch aufgrund des allein im Verantwortungsbereich der Justiz liegenden Verschuldens an der Versäumung der Rechtsmittelfristen von Amts wegen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen der Versäumung der Frist zur Einlegung und der Frist zur Begründung der Revision gewährt werden. Es ist kein Mitverschulden des Angeklagten daran ersichtlich, dass nach fristgerecht von ihm eingelegter Revision die zugleich ebenfalls fristgerecht angebrachte Revisionsbegründung nicht den Formerfordernissen gemäß §§ 341 Abs. 1, 345 Abs. 2 StPO entspricht. Die dem Angeklagten ausgehändigte (Bl. 69) ausgehändigte Rechtsmittelbelehrung (Formblatt „StP 75“ - siehe hierzu: http://justizmeile/websites/104/AT/Amtliche Texte/StP_75.pdf) enthält hinsichtlich Revisionseinlegung und -begründung lediglich die Formulierungen „zu Protokoll der Geschäftsstelle“ ohne Hinweis auf die Zuständigkeit des Rechtspflegers. Die das Protokoll vom 09.12.2015 (Bl. 71) aufnehmende Geschäftsstellenbeamtin wäre gehalten gewesen, auf ihre Unzuständigkeit hinzuweisen und den Angeklagten an den/die zuständige(n) Rechtspfleger(in) zu verweisen. Auf eine rechtlich einwandfreie Organisation des Gerichtsbetriebes hat der Angeklagte keinen Einfluss.

Auch im Falle einer ausschließlich auf Fehlern der Justiz beruhenden Unzulässigkeit eines Rechtsmittels kann die Wiedereinsetzung von Amts wegen jedoch nicht gewährt werden, solange die hierfür gemäß § 45 Abs. 2 S. 2 und 3 StPO notwendige Nachholung der versäumten Handlung nicht erfolgt ist (BVerfG, NJW 2013, 446 (447); OLG Braunschweig, Beschl. v. 20.11.2013, 1 Ws 366/13, Rdnr. 10, juris; anderer Ansicht: OLG Oldenburg, NStZ 2012, 51; OLG Düsseldorf, NZV 1994, 123; OLG Köln, Beschl. v. 29.09.2005, 83 Ss-OWi 37/05, Rdnr. 8; juris; Senatsbeschluss vom vom 17.01.2014, 1 Ss 2/14). Der Angeklagte ist daher zunächst über die Möglichkeit der Wiedereinsetzung in die Frist zur Begründung der Revision zu belehren.

Zur Nachholung der versäumten Handlung steht dem Angeklagten die Monatsfrist aus § 345 Abs. 1 Satz 1 StPO zur Verfügung. Zwar würde grundsätzlich auch im Falle der Versäumung der Revisionsbegründungsfrist (eigentlich) nur die Wochenfrist gemäß § 45 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 2 StPO gelten (vgl. BGH, NStZ-RR 2008, 282 (283); Maul, in: KK-StPO, 6. Aufl., § 45 Rdnr. 9). Nach ständiger Rechtsprechung des Senats (u.a. Beschluss vom 17.01.2014, 1 Ss 2/14) gilt dies bezüglich der Wiedereinsetzung in die Frist zur Begründung der Revision jedoch ausnahmsweise nicht, weil der Angeklagte erst durch den beantragten Beschluss des Oberlandesgerichts endgültig erfährt, dass seine Revisionseinlegung aufgrund alleinigen Verschuldens der Justiz in nicht zulässiger Weise erfolgt ist und was er nun zu unternehmen hat. Ihm muss daher zur Begründung der Revision die Regelfrist des § 345 Abs. 1 StPO zur Verfügung stehen, die die sonst für das Nachholen der versäumten Handlung geltende Wochenfrist gemäß § 45 Abs. 1, Abs. 2 S. 2 StPO verdrängt (vgl. für den Ausnahmefall der Zurückweisung der Revisionsbegründung als unzulässig wegen eines Verstoßes gegen § 146 StPO: BGHSt 26, 335 (338-339) sowie für den Ausnahmefall der verspäteten Kenntnis von der Zustellung des schriftlichen Urteils: BGH, NStZ-RR 2006, 211 (212)). Die Wochenfrist gemäß § 45 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 2 StPO wäre zudem auch praktisch nicht zu handhaben, weil die Akte bis dahin dem Rechtspfleger beim Tatgericht noch nicht wieder zur Aufnahme einer ordnungsgemäßen Revisionsbegründung vorliegen dürfte und deshalb unmittelbar daran anschließend erneut die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand veranlasst sein könnte (OLG Köln, Beschl. v. 29.09.2005, 83 Ss-OWi 37/05, Rdnr. 15).

Die danach für die Nachholung der Revisionsbegründung maßgebliche Wiedereinsetzungsfrist von einem Monat beginnt mit der Zustellung des Beschlusses, mit dem der Angeklagte über die Wiedereinsetzungsmöglichkeit belehrt wird (BVerfG, NJW 2013, 446).

2. Aufhebung des Beschlusses des Landgerichts vom 19.01.2016
Der angefochtene Beschluss konnte keinen Bestand haben, weil die Entscheidung über die Zulässigkeit der Revision dem Landgericht im vorliegenden Fall, in dem ein Verstoß gegen § 24 Abs. 1 Nr. 1 lit. b) RPflG zu prüfen war, nicht zustand (vgl. Meyer-Goßner, StPO 58. Aufl., § 346 Rdnr. 2). Über die Zulässigkeit der Revision wird der Senat zu gegebener Zeit selbst zu entscheiden haben, wenn feststeht, ob der Angeklagte diesem Hinweis folgt und nunmehr für eine fristgerechte und formwirksame Revisionsbegründung sorgt.

3. Entscheidung des Vorsitzenden zur Beiordnung eines Pflichtverteidigers

Der Antrag war abzulehnen, weil kein Fall der notwendigen Verteidigung nach §§ 140 StPO vorliegt. Dass der Angeklagte in der Lage ist, sich auch im Revisionsverfahren selbst zu verteidigen, zeigt das inhaltlich auf ihn zurückgehende Protokoll vom 09.12.2015 (Bl. 71 d.A.), das als (noch) wirksame Revisionsbegründung hätte behandelt werden können, wenn es von einem Rechtspfleger und nicht von einer unzuständigen Justizbeamtin aufgenommen worden wäre.

III.
Eine Kostenentscheidung war nicht veranlasst, weil das endgültige Schicksal der Revision derzeit noch nicht feststeht.

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