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Entscheidungen

Haftfragen

Beschleunigungsgrundsatz, Haftsache, Rechtsmittelverfahren

Gericht / Entscheidungsdatum: OLG Köln, Beschl. v. 29.02.2016 - 2 Ws 60/16

Leitsatz: Zum Beschleunigungsgrundsatz im rechtsmittelverfahren


In pp.
1. Der Haftbefehl des Amtsgerichts Köln vom 29.10.2013 (Az. 506 Gs 1472/13) in Gestalt des Haftfortdauerbeschlusses des Landgerichts Köln vom 05.12.2014 (Az. 111 Ks 5/14) sowie der Nichtabhilfebeschluss des Landgerichts Köln vom 26.01.2016 (Az. 111 Ks 5/14) werden aufgehoben.
2. Die sofortige Freilassung des Angeklagten aus der Untersuchungshaft wird angeordnet.
3. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und der dem Angeklagten insoweit entstandenen notwendigen Auslagen trägt die Staatskasse.
Gründe:
I.
Dem Angeklagten, gegen den aufgrund des Haftbefehls des Amtsgerichts Köln vom 29.10.2013 (Az. 506 Gs 1472/13) seit dem 30.10.2013 die Untersuchungshaft vollstreckt wird, hat die Staatsanwaltschaft Köln mit der Anklageschrift vom 14.02.2014 (Az. 90 Js 43/13) zur Last gelegt, mit drei weiteren Angeklagten einen gemeinschaftlichen versuchten Totschlag in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung verübt zu haben.

Das Landgericht Köln (Az. 111 Ks 5/14) hat durch Urteil vom 05.12.2014 alle vier Angeklagten nach neunzehntägiger Hauptverhandlung, die vom 08.07.2014 bis zum 05.12.2014 andauerte, für schuldig befunden. Den Angeklagten hat die Strafkammer wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung verurteilt, gegen ihn eine Freiheitsstrafe von 7 Jahren und 9 Monaten verhängt und durch Beschluss vom gleichen Tag den Haftbefehl des Amtsgerichts aus den zutreffenden Gründen seines Erlasses nach Maßgabe des verkündeten Urteils aufrechterhalten.

Nach Revisionseinlegung aller Angeklagten, Fertigstellung des Urteils am letzten Tag der Urteilsabsetzungsfrist, dem 06.02.2015, Fertigstellung des Sitzungsprotokolls am 16.03.2015 sowie Zustellungsverfügung der Vorsitzenden vom 17.03.2015, ist das Urteil den Verteidigern jeweils gegen Empfangsbekenntnis zugestellt worden, ausweislich des Empfangsbekenntnisses Bl. 2658 d. A. zuletzt der Verteidigerin des Angeklagten, Rechtsanwältin O, am 13.04.2015.

Die Verteidiger der Angeklagten haben bis zum Ablauf der Revisionsbegründungsfrist die Verletzung formellen und sachlichen Rechts gerügt und die allgemeine Sachrüge auch teilweise ausgeführt. Die letzte Revisionsschrift, die die Verletzung formellen Rechts rügt, ist am 13.05.2015 beim Landgericht eingegangen. Mit Verfügung der Vorsitzenden vom 26.05.2015 sind die Akten der Staatsanwaltschaft, Eingang dort am 28.05.2015, zwecks Abgabe der Revisionsgegenerklärung übersandt worden.

Der zuständige Staatsanwalt hat unter dem 17.07.2015 vermerkt, dass er aufgrund der unvorhersehbaren Abordnung eines Kollegen zur Erprobung und weiterer, im Einzelnen näher aufgeführter dringlicher Amtsgeschäfte bisher nicht in der Lage gewesen sei, eine Revisionsgegenerklärung abzugeben. Er werde sich nach seiner Urlaubsrückkehr am 10.08.2015 umgehend dem Verfahren zuwenden. Der Behördenleitung sei diese Situation bekannt; sie sehe sich jedoch aufgrund der angespannten Personalsituation nicht in der Lage, die Stelle des zur Erprobung abgeordneten Kollegen neu zu besetzen.

Nach insgesamt neun Sachstandsanfragen des Landgerichts im Zeitraum vom 23.07.2015 bis zum 03.12.2015 hat der zuständige Staatsanwalt am 09.12.2015 die Übersendung der Akten an die Generalbundesanwaltschaft verfügt, eine Revisionsgegenerklärung wurde nicht abgegeben. Im Hinblick auf den erneuten Zeitablauf hat er vermerkt, dass die Prüfung des Revisionsvorbringens erst zu diesem Zeitpunkt abgeschlossen werden konnte. Vorher sei er hierzu aufgrund vordringlicher Amtsgeschäfte, die er wiederum im Einzelnen aufgeführt hat, nicht in der Lage gewesen.

Die Akten sind aufgrund eines justizinternen Versehens von der Staatsanwaltschaft zunächst wieder an das Landgericht und zurück an die Staatsanwaltschaft übersandt worden. Der für die Übersendung zuständige Rechtspfleger hatte am 16.12.2015 festgestellt, dass das Urteil nicht an alle im Revisionsverfahren tätigen Verteidiger förmlich zugestellt worden war. Er übersandt die Akte deshalb zunächst erneut der Strafkammer. Deren Vorsitzende vermerkte am 22.12.2015, dass infolge der förmlichen Zustellung an jeweils einen Verteidiger eine weitere förmliche Zustellung nicht erforderlich sei, gleichwohl verfügte sie die formlose Übersendung des Urteils an die Rechtsanwälte W und Q. Nach Ausführung dieser Verfügung wurden die Akten zunächst an die Staatsanwaltschaft versandt, wo sie mit Verfügung vom 30.12.2015, die am 14.01.2016 ausgeführt wurde, an die Generalbundesanwaltschaft abgesandt wurden. Eine Antragsschrift der Generalbundesanwaltschaft liegt noch nicht vor. Die Akten wurden am 16.01.2016 dem Bundesgerichtshof zur Kenntnisnahme vorgelegt.

Der Angeklagte hat mit Schriftsatz seiner Verteidigerin vom 18.01.2016 beantragt, den Haftbefehl des Amtsgerichts in Gestalt des Haftfortdauerbeschlusses aufzuheben. Zur Begründung hat er ausgeführt, dass es bereits an einem dringenden Tatverdacht fehle. Jedenfalls liege ein Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot vor. Zum einen habe die Strafkammer nicht mit einer Terminierungsdichte verhandelt, die den Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts genüge. Zum anderen sei das Urteil der Strafkammer ohne ersichtlichen Grund erst 7 Wochen nach Ablauf der Urteilsabsetzungsfrist zugestellt worden. Desweiteren sei die Übersendung der Akte an die Generalbundesanwaltschaft erst 8 Monate nach Revisionsbegründung mit dem Gebot der beschleunigten Bearbeitung von Haftsachen nicht zu vereinbaren. Mit Schriftsatz seines weiteren Verteidigers hat der Angeklagte zudem gerügt, dass die weitere Verfahrensweise nach dem 09.12.2015 mit dem Beschleunigungsgebot nicht in Einklang zu bringen sei. Die erneute Übersendung der Akten an das Landgericht und die dort veranlasste Zustellung des Urteils an einen weiteren Verteidiger seien entbehrlich gewesen.

Das Landgericht hat der Haftbeschwerde mit Beschluss vom 26.01.2016 nicht abgeholfen und den Haftbefehl neu gefasst. Die Generalstaatsanwaltschaft hat mit Vorlageverfügung vom 03.02.2016 dem Senat ein Sonderheft und eine unvollständige Viertakte mit dem Antrag vorgelegt, die Beschwerde aus den zutreffenden Gründen des Nichtabhilfebeschlusses zu verwerfen. Der Senat hat unter dem 11.02.2016 die Generalstaatanwaltschaft gebeten, eine vollständige Akte, einschließlich Protokollband, vorzulegen. Dies ist am 22.02.2016 geschehen.

II.
Die gemäß § 304 Abs. 1 StPO statthafte Beschwerde des Angeklagten hat Erfolg und führt zur Aufhebung des Haftbefehls und seiner Freilassung. Auch wenn die Strafkammer mit Beschluss vom 26.01.2016 – im Rahmen der Nichtabhilfeentscheidung – den Haftbefehl neu gefasst hat und grundsätzlich jeweils nur die letzte Haftentscheidung angefochten werden kann (SenE vom 25.01.2002, 2 Ws 31/02), bedurfte es hier keiner gesonderten Anfechtung der Entscheidung. Da der Anpassung des Haftbefehls letztlich keine inhaltliche Änderung zugrundeliegt, wäre die Forderung einer ausdrücklichen Anfechtung auch dieser Entscheidung hier eine bloße Förmelei (SenE vom 03.08.2001, 2 Ws 349/01).

1.Der Angeklagte ist weiterhin der dem Haftbefehl des Amtsgerichts in Gestalt der Haftfortdauerentscheidung des Landgerichts zugrunde liegenden Tat dringend verdächtig im Sinne von § 112 Abs. 1 StPO.

Der dringende Tatverdacht folgt aus der erstinstanzlichen Verurteilung des Angeklagten. Zwar ist das Urteil des Landgerichts mit der Revision angefochten, und es ist dem Senat grundsätzlich nicht verwehrt, im Zuge der Prüfung des dringenden Tatverdachtes die Erfolgsaussichten des Rechtsmittels vorausschauend zu beurteilen; dabei ist jedoch Zurückhaltung angebracht, weil ein Schuldspruch aufgrund einer Hauptverhandlung regelmäßig eine höhere Richtigkeitsgewähr bietet als eine anhand der Akten angestellte Prognose (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 58 Auflage, § 112 Rz. 7). Die Verfahrensrüge des Angeklagten berührt die Frage des dringenden Tatverdachts nicht. Die mit den Revisionen im Übrigen gerügten Mängel des erstinstanzlichen Urteils – fehlerhafte Beweiswürdigung, fehlerhafte Feststellungen des Tötungsvorsatzes und des Mordmerkmals – bieten dem Senat keine zwingenden Anhaltspunkte dafür, dass die Verurteilung in einer die Haftentscheidung berührenden Weise offensichtlich falsch sein könnte. Hiernach ergeben sich keine Zweifel am Fortbestehen des dringenden Tatverdachts.

2. Auch die von dem Angeklagten gegen den Haftgrund der Fluchtgefahr eingewandten Umstände ändern nichts daran, dass nach wie vor Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO) besteht.

Die Untersuchungshaft soll nicht nur die Durchführung des Strafverfahrens gewährleisten, sondern auch die Vollstreckung eines auf Freiheitsentziehung lautenden Urteils sicherstellen (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., vor § 112 Rz. 4). Der Angeklagte hat zwar gegen das Urteil Rechtsmittel eingelegt, muss aber damit rechnen, dass es rechtskräftig wird. Unter Berücksichtigung der nach § 51 Abs. 1 StGB anzurechnenden Untersuchungshaft von nunmehr 2 Jahren und 4 Monaten verbleibt unter Berücksichtigung der vom Landgericht ausgesprochenen Freiheitsstrafe im Falle des Rechtskrafteintritts ein Strafrest, der so groß ist, dass er dem Angeklagten erheblichen Anreiz bietet, sich dem weiteren Verfahren und der sich ggf. anschließenden Strafvollstreckung zu entziehen. Bei der anzustellenden Prognose über den tatsächlich zu erwartenden Freiheitsentzug kann der Senat, entgegen der Ansicht des Angeklagten, nicht ohne weiteres zugrunde legen, dass dieser nur einen Teil der Freiheitsstrafe wird verbüßen müssen. Der Angeklagte wäre kein Erstverbüßer, denn er hat einen Teil der durch Urteil des Amtsgerichts Neuss vom 09.01.2007 (Az. 10 Cs 3/07) erkannten siebenmonatigen Freiheitsstrafe verbüßt (vgl. I.B.a) der Urteilsausfertigung). Zudem hat er versucht, sich der Festnahme zu entziehen; auch seine Ehefrau hat ihm am Tag der Festnahme zur Flucht geraten (vgl. dazu die Ausführungen des Senats im Rahmen des Haftprüfungsverfahrens in dieser Sache, SenE vom 28.04.2014, 2 Ws 195-198/14, II.2.b)).

3. Die Fortdauer der Untersuchungshaft erweist sich jedoch infolge vermeidbarer, dem Angeklagten nicht zuzurechnender Verfahrensverzögerungen, die mit dem Recht des Angeklagten auf ein im rechtstaatlichen Verfahren verankertes Beschleunigungsgebot nicht mehr vereinbar sind, als unverhältnismäßig.

a) Bei der Anordnung und Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft ist stets das Spannungsverhältnis zwischen dem in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleisteten Recht des Einzelnen auf persönliche Freiheit und den unabweisbaren Bedürfnissen einer wirksamen Strafverfolgung zu beachten. Grundsätzlich darf nur einem rechtskräftig Verurteilten die Freiheit entzogen werden. Der Entzug der Freiheit eines der Straftat lediglich Verdächtigen ist wegen der Unschuldsvermutung, die ihre Wurzel im Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG hat und auch in Art. 6 Abs. 2 EMRK ausdrücklich hervorgehoben ist, nur ausnahmsweise zulässig. Dabei muss den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlich und zweckmäßig erscheinenden Freiheitsbeschränkungen der Freiheitsanspruch des noch nicht rechtskräftig verurteilten Beschuldigten als Korrektiv gegenübergestellt werden, wobei dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eine maßgebliche Bedeutung zukommt (vgl. grundlegend hierzu BVerfGE, Beschluss vom 29. Dezember 2005 – 2 BvR 2057/05 –, zitiert nach juris, Rz. 83).

Mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft vergrößert sich das Gewicht des Freiheitsanspruchs regelmäßig gegenüber dem Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung. Daraus folgt zum einen, dass die Anforderungen an die Zügigkeit der Bearbeitung einer Haftsache mit der Dauer der Untersuchungshaft steigen. Zum anderen nehmen auch die Anforderungen an den die Haftfortdauer rechtfertigenden Grund zu (vgl. BVerfGE, a.a.O., Rz. 84, 85).

Die Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte müssen daher alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um die notwendigen Ermittlungen mit der gebotenen Schnelligkeit abzuschließen und eine gerichtliche Entscheidung über die einem Beschuldigten vorgeworfenen Taten herbeizuführen. Zur Durchführung eines geordneten Strafverfahrens und zur Sicherstellung der Strafvollstreckung kann die Untersuchungshaft dann nicht mehr als notwendig anerkannt werden, wenn ihre Fortdauer durch Verfahrensverzögerungen verursacht ist, die ihre Ursache nicht in dem konkreten Strafverfahren haben und daher von dem Beschuldigten nicht zu vertreten, sondern vermeidbar und sachlich nicht gerechtfertigt sind. Entsprechend dem Gewicht der zu ahndenden Straftat können zwar kleinere Verfahrensverzögerungen die Fortdauer der Untersuchungshaft rechtfertigen. Allein die Schwere der Tat und die sich daraus ergebende Straferwartung vermögen aber bei erheblichen, vermeidbaren und dem Staat zuzurechnenden Verfahrensverzögerungen nicht zur Rechtfertigung einer ohnehin schon lang andauernden Untersuchungshaft zu dienen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 30. Juli 2014 – 2 BvR 1457/14 –, zitiert nach juris, Rz. 21, 22).

Die nicht nur kurzfristige Überlastung eines Gerichts kann insofern niemals Grund für die Anordnung der Haftfortdauer sein. Vielmehr kann die nicht nur kurzfristige Überlastung eines Gerichts selbst dann die Fortdauer der Untersuchungshaft nicht rechtfertigen, wenn sie auf einem Geschäftsanfall beruht, der sich trotz Ausschöpfung aller gerichtsorganisatorischen Mittel und Möglichkeiten nicht mehr innerhalb angemessener Fristen bewältigen lässt. Die Überlastung eines Gerichts fällt - anders als unvorhersehbare Zufälle und schicksalhafte Ereignisse - in den Verantwortungsbereich der staatlich verfassten Gemeinschaft. Dem Beschuldigten darf nicht zugemutet werden, eine längere als die verfahrensangemessene Aufrechterhaltung des Haftbefehls nur deshalb in Kauf zu nehmen, weil der Staat es versäumt, seiner Pflicht zur verfassungsgemäßen Ausstattung der Gerichte zu genügen (vgl. BVerfG, a.a.O., Rz. 23).

Im Rahmen der von den Fachgerichten vorzunehmenden Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch des Betroffenen und dem Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit ist die Angemessenheit der Haftfortdauer anhand objektiver Kriterien des jeweiligen Einzelfalles zu prüfen; insofern sind in erster Linie die Komplexität der einzelnen Rechtssache, die Vielzahl der beteiligten Personen und das Verhalten der Verteidigung von Bedeutung (vgl. BVerfG, a.a.O., Rz. 24).

Diese Grundsätze sind während des gesamten Strafverfahrens und somit auch bei der Absetzung und Zustellung des Urteils sowie der Weiterleitung der Akten an das Rechtsmittelgericht zu beachten (vgl. BVerfG, Beschluss vom 16. März 2006 – 2 BvR 170/06 –, zitiert nach juris, Rz. 34 ff.). Allerdings können Verzögerungen nach dem erstinstanzlichen Urteil geringer ins Gewicht fallen, weil sich durch den Schuldspruch das Gewicht des staatlichen Strafanspruchs vergrößert und umgekehrt die Unschuldsvermutung in geringerem Maße für den Angeklagten streitet (vgl. BVerfGE Beschluss vom 29. Dezember 2005 – 2 BvR 2057/05 –, zitiert nach juris, Rz. 75; SenE vom 04.02.1992, 2 Ws 9-10/02, MDR 1992, 694). Andererseits sind in dem in stärkerem Maße von Routinetätigkeiten geprägten Verfahren nach Absetzung der schriftlichen Urteilsgründe Umfang und Komplexität der Sache nicht ohne weiteres von derselben Bedeutung wie im Ermittlungs- und Erkenntnisverfahren. Grobe Verfahrensfehler bei der Erledigung solcher Routinearbeiten – seien sie durch eine unzureichende Personalausstattung oder durch sonst absehbare und vermeidbare Umstände verursacht – können die gebotene zügige richterliche Bearbeitung konterkarieren und damit der Fortdauer der Untersuchungshaft entgegenstehen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 16. März 2006 – 2 BvR 170/06 –, zitiert nach juris, Rz. 37).

b) Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe ist das Verfahren nicht in einer Weise gefördert worden, die den aufgezeigten verfassungsrechtlichen Vorgaben gerecht wird. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob schon, wie von dem Angeklagten gerügt, die von der Strafkammer vorgenommene Terminierung den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht genügt. Nach den Ausführungen der Strafkammer in dem Nichtabhilfebeschluss vom 25.01.2016 bestehen aus Sicht des Senats insoweit jedoch keine Bedenken.

Jedenfalls aber verstoßen die nach Urteilserlass entstandenen Verfahrensverzögerungen gegen das im Rechtsstaatsprinzip verankerte Beschleunigungsgebot in Haftsachen.

aa) Die erste vermeidbare Verfahrensverzögerung liegt bereits darin begründet, dass das Protokoll erst am 16.03.2015, mithin über 5 Wochen nach Ablauf der Urteilsabsetzungsfrist am 06.02.2015, fertiggestellt worden ist. Diese Verzögerung ist als solche auch von Belang, da nach § 273 Abs. 4 StPO das Urteil zuvor nicht zugestellt werden darf und sie sich daher auf die zügige Durchführung des Revisionsverfahrens auswirkt.

Hierbei handelt es sich auch keineswegs um eine Verzögerung, die zu vernachlässigen ist. Abgesehen davon, dass sich auch kleinere Verzögerungen bei einer Gesamtbetrachtung zu einer nicht unerheblichen Verzögerung summieren können, wie noch aufzuzeigen sein wird, ist darauf hinzuweisen, dass es sich hierbei im Wesentlichen um die Übertragung vorhandener Aufzeichnungen in die Form einer Reinschrift und die Kontrolle der ordnungsgemäßen Beurkundung und die Prüfung auf Richtigkeit und Vollständigkeit handelt. So ist es in Haftsachen keineswegs angängig, dass die Fertigstellung des Protokolls der Hauptverhandlung einen längeren Zeitraum in Anspruch nimmt, als für die Absetzung des Urteils benötigt wurde (vgl. BVerfG, Beschluss vom 16. März 2006 – 2 BvR 170/06 –, zitiert nach juris, Rz. 37; BVerfGE Beschluss vom 29. Dezember 2005 – 2 BvR 2057/05 –, zitiert nach juris, Rz. 70, SenE vom 11.05.2001, 2 Ws 186/01; OLG Hamburg, Beschluss vom 07.05.2015, 2 Ws 108/14, zitiert nach BeckRS 2015, 16306, Rz. 33-37).
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Andere Maßstäbe können auch im vorliegenden Fall nicht angelegt werden. Die Hauptverhandlung erstreckte sich über einen Zeitraum von fast 5 Monaten mit 19 Hauptverhandlungstagen, wobei das Protokoll der Hauptverhandlung keinen außergewöhnlichen Umfang erreichte. Es besteht zwar aus insgesamt 470 Blatt, davon jedoch 281 Blatt Anlagen. Die Fertigstellung des Hauptverhandlungsprotokolls hätte durchaus im unmittelbaren Anschluss an die Hauptverhandlung und damit parallel zur Erstellung der Urteilsgründe erfolgen müssen. Damit hätte eine Verfahrensverzögerung von über 5 Wochen vermieden werden können.

bb) War bereits diese vermeidbare Verzögerung des Verfahrens im Hinblick auf das Beschleunigungsgebot bedenklich, ist dies jedenfalls in Zusammenschau mit dem Zeitablauf von über 6 Monaten, den die Staatsanwaltschaft für die Prüfung benötigt hat, dass keine Revisionsgegenerklärung abgegeben wird, und den unter II.3.b.cc. ausgeführten Verzögerungen mit dem Grundrecht des Angeklagten auf die Freiheit seiner Person, Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG, nicht mehr vereinbar.

Die Akten sind nach Ablauf der Revisionsbegründungsfrist bei der Staatsanwaltschaft am 28.05.2015 eingegangen. Gemäß § 347 Abs. 1 S. 2 StPO hatte die Staatsanwaltschaft Gelegenheit, binnen einer Woche eine schriftliche Gegenerklärung abzugeben. Tatsächlich hat die Staatsanwaltschaft erst mit Verfügung vom 09.12.2015 die Akten der Generalbundesanwaltschaft übersandt, ohne Revisionsgegenklärung.

(1) Aus den Richtlinien für das Straf- und das Bußgeldverfahren Nr. 162 (1) folgt, dass die Staatsanwaltschaft bei der Rüge der Verletzung des sachlichen Rechts in der Regel von einer Gegenerklärung absehen kann. Nach Nr. 162 (2) soll der Staatsanwalt hingegen eine Gegenerklärung abgeben, wenn anzunehmen ist, dass dadurch die Prüfung der Revisionsbeschwerden erleichtert wird und zeitraubende Rückfragen oder Erörterungen vermieden werden. Damit besteht der Zweck der Gegenerklärung nicht darin, zur Rechtslage oder zu den Erfolgsaussichten einer Revision Erklärungen in dem Sinne abzugeben, dass bestimmte Rügen unzulässig oder unbegründet seien. Die Gegenerklärung soll kein Rechtsgutachten enthalten, sie stellt lediglich eine Beweissammlung für das Revisionsgericht dar, eine zusammenfassende Mitteilung aller für das Revisionsgericht notwendigen Beweismittel. Der eine Gegenerklärung abgebende Staatsanwalt hat daher nur zu gewährleisten, dass alle für die Prüfung der Revisionsbegründung beachtlichen Tatsachen dem Revisionsgericht klar und nachprüfbar einmal vorliegen (vgl. hierzu Kalf, Die Gestaltung der staatsanwaltschaftlichen Gegenerklärung, NStZ 2005, 190).

Es kann dahingestellt bleiben, ob die Zeit, die die Staatsanwaltschaft zur Überprüfung des Revisionsvorbringens der Angeklagten benötigen durfte, der in § 347 Abs. 1 S. 2 StPO aufgeführte Wochenfrist entsprochen hat. Jedenfalls genügt eine Sachbehandlung, die einen Zeitraum von mehr als 6 Monaten für die Überprüfung beinhaltet, nicht mehr dem in Haftsachen zu beachtenden Beschleunigungsgebot

Bis zum Ablauf der Revisionsbegründungsfrist haben vier Verteidiger die Verletzung formellen Rechts gerügt. Gegenstand aller Verfahrensrügen ist lediglich die Verletzung des absoluten Revisionsgrundes des gesetzlichen Richters nach § 338 Nr. 3 StPO mit der Behauptung, dass die Kammer aufgrund eines zulässigen und begründeten Befangenheitsantrages gegen die Vorsitzende und einen der Beisitzer nicht ordnungsgemäß besetzt gewesen sein soll. Beispielhaft wird insoweit auf den 121 Seiten umfassenden Revisionsschriftsatz von Rechtsanwalt W verwiesen, der nahezu aus 100 Seiten Kopien des Protokolls, des Befangenheitsgesuchs, der Stellungnahmen der Verfahrensbeteiligten und dem zurückweisenden Beschluss der Vertreterkammer besteht. Entsprechendes gilt für die Revisionsschriftsätze der übrigen Verteidiger, wobei noch hervorzuheben ist, dass die Revisionsschriftsätze der Rechtsanwälte Q1 und N, jeweils 40 Seiten, davon etwa 37 Seiten Kopien der für die Frage der Befangenheit verfahrensrelevanten Unterlagen, nahezu identisch sind. Weitere Verfahrensrügen sind nicht erhoben worden. Eine Revisionsgegenerklärung hat die Staatsanwaltschaft letztlich hierzu nicht abgegeben. Eine Stellungnahme zu den teilweise auf wenigen Seiten ausgeführten Sachrügen war nach Maßgabe der in Nr. 162 (1) der Richtlinien für das Straf- und das Bußgeldverfahren gegebenen Empfehlung nicht erforderlich.

(2). Die dargestellte Verfahrensverzögerung beruht nach den Vermerken des zuständigen Staatsanwaltes auf der fehlenden Ersetzung eines zur Erprobung abgeordneten Kollegen und weiterer dringlicher Amtsgeschäfte. Auch wenn diese Umstände aus Sicht des zuständigen Staatsanwaltes nachvollziehbar erscheinen, sind sie jedoch nicht geeignet, eine Verletzung des Beschleunigungsgebotes in Haftsachen zu exkulpieren. Bei der Prüfung der Verletzung des Beschleunigungsgrundsatzes kommt es nicht darauf an, ob dem einzelnen Richter oder Staatsanwalt ein individuelles Verschulden vorzuwerfen ist oder ob dieser infolge einer Vielzahl anderer Dienstverpflichtungen (objektiv oder) subjektiv nicht in der Lage war, alle Dienstverpflichtungen zu erfüllen; entscheidend ist insoweit vielmehr ausschließlich darauf abzustellen, ob der Staat seiner Rechtsgewährungsverpflichtung in ausreichender Weise Rechnung getragen hat. Die als unzureichend empfundene personelle Ausstattung eines Gerichts und auch einer Staatsanwaltschaft vermag eine längere als die verfahrensangemessene Untersuchungshaft eines Beschuldigten in keinem Fall zu rechtfertigen (BVerfG, Beschluss vom 30. Juli 2014 – 2 BvR 1457/14 –, zitiert nach juris, Rz. 27). Ebenso wie sich aus dem Beschleunigungsgebot die Pflicht des Gerichtspräsidenten ableitet, durch Ergreifen geeigneter organisatorischer Maßnahmen die beschleunigte Bearbeitung von Haftsachen sicher zu stellen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12. Dezember 1973 – 2 BvR 558/73 –, zitiert nach juris, Rz. 27), folgt daraus zugleich die Verpflichtung, solche gerichtsorganisatorische Maßnahmen zu unterlassen, die einer beschleunigten Bearbeitung von Haftsachen zuwiderlaufen (vgl. BVerfGE Beschluss vom 29. Dezember 2005 – 2 BvR 2057/05 –, zitiert nach juris, Rz. 69). Dass diese Verpflichtung in gleicher Weise auch für die Staatsanwaltschaft gilt, bedarf nach Auffassung des Senats keiner näheren Darlegung. Die Abordnung eines Kollegen an eine andere Behörde ist daher generell ungeeignet eine Verletzung des Beschleunigungsgebots zu rechtfertigen (BVerfG, a.a.O., Rz 69).

cc) Letztlich ist festzustellen, dass es im vorliegenden Verfahren noch zu einer weiteren vermeidbaren Verzögerung von über einem Monat gekommen ist. Obwohl der zuständige Staatsanwalt unter dem 09.12.2015 verfügt hat, die Akten der Generalbundesanwaltschaft zu übersenden, ist diese Verfügung allein aufgrund der oben näher dargelegten justizinternen Umstände erst am 14.01.2016 ausgeführt worden. Auch dies ist mit dem in Haftsachen geltenden Beschleunigungsgebot nicht zu vereinbaren.

c) Aufgrund der aufgezeigten Verfahrensverzögerungen ist dem verfassungsrechtlichen Beschleunigungsgebot in Haftsachen nicht angemessen Rechnung getragen worden, so dass der Senat – wie aus dem Tenor ersichtlich – der Beschwerde stattzugeben und den Angeklagten aus der Haft zu entlassen hatte. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind die mit der Haftprüfung betrauten Fachgerichte gehalten, die verfassungsrechtlich gebotenen Konsequenzen zu ziehen, indem sie die Haftentscheidung aufheben; ansonsten verfehlen sie die ihnen obliegende Aufgabe, den Grundrechtsschutz der Betroffenen zu verwirklichen (BVerfG, Beschluss vom 30. Juli 2014 – 2 BvR 1457/14 –, zitier nach juris, Rz. 27).

Vorliegend ist insgesamt eine vermeidbare, auf justizinterne Ursachen zurückzuführende Verfahrensverzögerung von über 8 Monaten zu verzeichnen. Unter Berücksichtigung des Umstandes, dass sich der Angeklagte bereits 2 Jahre und 4 Monate in Untersuchungshaft befindet und die Akten erst 1 Jahr und 1 Monat nach Urteilsverkündung der Generalbundesanwaltschaft übersandt worden sind, die naturgemäß noch keine Antragsschrift gefertigt hat, so dass eine Revisionsentscheidung nach den Erfahrungen des Senats frühestens nach mehreren weiteren Monaten zu erwarten sein dürfte, zwingen die aufgezeigten vermeidbaren Verfahrensverzögerungen zur Aufhebung des Haftbefehls und des Haftfortdauerbeschlusses. Auch die – noch nicht rechtskräftige – Verurteilung des Angeklagten wegen versuchten Mordes zu einer Freiheitsstrafe von 7 Jahren und 9 Monaten rechtfertigt aufgrund der massiven Verfahrensverzögerungen keine Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft (vgl. BVerfG, Beschluss vom 05. Dezember 2005 – 2 BvR 1964/05 –, zitiert nach juris, Rz. 106).

Die lediglich klarstellende tenorierte Aufhebung der Nichtabhilfeentscheidung der Strafkammer vom 26.01.2016 beruht darauf, dass die Strafkammer im Rahmen der Nichtabhilfe den Haftbefehl neu gefasst hat.

III.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 467 StPO


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