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Entscheidungen

StPO

Pflichtverteidigerbeiordnung, bedingter Antrag, Zulässigkeit der Beschwerde, Schwierigkeit

Gericht / Entscheidungsdatum: LG Neubrandenburg, Beschl. v. 12.10.2016 - 82 Qs 58/16 jug.

Leitsatz: 1. Der von einem Wahlverteidiger im Schlussplädoyer bedingt für den Fall des Schuldspruches gestellte Antrag auf Beiordnung als Pflichtverteidiger ist unzulässig.
2. Die Beschwerde gegen die Ablehnung eines Pflichtverteidigerantrags ist zulässig.
3. Es wird an der bisherigen Rechtsprechung, wonach die Beiordnung des Pflichtverteidigers nach Verfahrensabschluss regelmäßig ausgeschlossen ist - jedenfalls soweit es abgeschlossene Jugendstrafverfahren betrifft - nicht mehr festgehalten.


In pp.
1. Auf die Beschwerde des Angeklagten M. R. R. werden die Entscheidungen des Amtsgerichts Neubrandenburg vom 25.04.2016, 30.06.2016 und 03.08.2016 aufgehoben.
2. Dem Verurteilten wird rückwirkend für das amtsgerichtliche Strafverfahren Rechtsanwalt B. aus Neubrandenburg als Pflichtverteidiger beigeordnet.
3. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem Angeklagten darin entstandenen notwendigen Auslagen hat die Staatskasse zu tragen.
Gründe
I.
Am 19.02.2015, vermutlich gegen 7:45 Uhr, ereignete sich ein Parkunfall auf dem Parkplatz der Beruflichen Schule, ..., in ... . Dabei wurde der auf dem Parkplatz abgestellte PKW ..., amtl. Kennzeichen ... vom unfallverursachenden Fahrzeug im linken hinteren Bereich berührt. Nach den Bekundungen der Fahrerin des Toyotas, der Zeugin M. F., ist der aus der bei den Akten befindlichen Bildanlage ersichtliche Heckschaden in ca. 45 bis 72 cm Höhe am Toyota durch den Parkunfall verursacht, ein von der Zeugin oder der Halterin, der Zeugin R. F., vorgelegter Kostenvoranschlag, der sich bei den Akten befindet und von der Autohaus P. GmbH erstellt wurde, beziffert die Reparaturkosten mit ... € incl. Umsatzsteuer.

Aufgrund der am Unfallort von Zeugen getätigten Äußerungen vermerkten die den Unfall aufnehmenden Polizeibeamten in der Verkehrsunfallanzeige, ein grüner Honda CRV mit dem amtl. Kennzeichen ..., von einem jungen Mann gefahren, habe versucht, neben dem geschädigten PKW zu parken, habe dann "rasant" ausgeparkt und dabei den Toyota Yaris berührt, danach den Unfallort zügig verlassen.

Auf der von den Polizisten angefertigten Unfallskizze ist der Ausparkvorgang so dargestellt, dass beide PKWs vorwärts nebeneinander eingeparkt waren bzw. der Honda im Begriff war, links neben dem Toyota einzuparken, dann in einer nach rechts gerichteten Kurve rückwärts fuhr und dabei den Toyota mit der rechten Vorderseite hinten links berührte.

Der Verurteilte wurde als Fahrzeugführer ermittelt. In der polizeilichen Beschuldigtenvernehmung vom 04.03.2015 gab er an, im angegeben Tatzeitpunkt das Fahrzeug auf dem Parkplatz ... geführt zu haben, weitere Angaben werde er nicht tätigen, bevor er einen Rechtsanwalt konsultiert habe.

Aus der bei den Akten befindlichen Bildanlage geht hervor, dass der schwarze PKW Honda mit einem sog. Bullenfänger ausgestattet ist und rechts vorne in etwa 45 bis 70 cm Höhe Beschädigungen aufweist.

Der Zeuge A. B. hat in seiner schriftlichen, bei den Akten befindlichen Äußerung angegeben, er habe gesehen, wie "das Unfallfahrzeug versucht habe einzuparken und beim Ausparken das andere Fahrzeug längs angestoßen habe". Es habe einen "lauten Knall" gegeben, der Fahrer des unfallverursachenden Fahrzeuges sei wie ein "Fahranfänger" gefahren. Auf einer Skizze hat er die Ausparkbewegung als Rechtskurve dargestellt.

Nachdem die Staatsanwaltschaft den Verurteilten angeschrieben hatte, eine Stellungnahme eines Rechtsanwaltes stehe noch aus, falls eine solche nicht innerhalb von drei Wochen erfolge, werde nach Aktenlage entschieden, teilte der Verurteilte mit auf den 24.03.2015 datiertem Schreiben mit, er weise den Vorwurf des unerlaubten Entfernens vom Unfallort zurück. Es sei zutreffend, dass er den Parkplatz zur besagten Zeit befahren habe; gerade als er einparkte, habe ihn seine Mutter angerufen und darum gebeten, dass er wieder nach Hause komme. Er habe daraufhin, ohne zuvor auszusteigen, wieder ausgeparkt, was wegen der räumlichen Enge nur langsam und vorsichtig fahrend möglich gewesen sei. Eine Berührung mit einem anderen PKW habe er nicht bemerkt und halte dies auch für nicht zutreffend. Er habe zudem an seinem Auto keine Unfallspuren feststellen können.

Mit Beschluss des Amtsgerichts Neubrandenburg vom 14.08.2015 wurde dem Verurteilten die Fahrerlaubnis vorläufig entzogen und der Führerschein beschlagnahmt.

Am 09.09.2015 ging die dagegen gerichtete vom Verurteilten selbst formulierte Beschwerde ein. Die Beschwerde wurde durch Beschluss der 61. Strafkammer vom 05.11.2015 als unbegründet verworfen.

Am 30.11.2015 ging die auf den 27.11.2015 datierte Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Neubrandenburg wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort beim Amtsgericht ein.

Nach Anklagezustellung meldete sich am 15.12.2015 Rechtsanwalt B. als Wahlverteidiger und begehrte Akteneinsicht.

Die Akte ging am 18.12.2015 beim Verteidiger ein, bereits am 22.12.2015 wurde die Anklage zugelassen und das Verfahren vor dem Jugendrichter eröffnet sowie Hauptverhandlung auf den 06.02.2016 anberaumt.

Am 06.01.2016 ging ein Schriftsatz des Verteidigers beim Amtsgericht ein:

Die an beiden Fahrzeugen festgestellten Beschädigungen passten in Bezug auf die Messung der Höhe über Boden nicht zueinander. Wenn die aus den Akten ersichtliche Ausfahrtrichtung zutreffe, sei das vorgefundene Schadensbild nicht durch den Ausparkvorgang erklärbar. Zudem sei nicht zu erwarten, dass eine solcherart zustande kommende Berührung mit einem lauten Knall verbunden sei. Die Beschädigungen am Fahrzeug des Verurteilten seien schon beim Kauf vorhanden gewesen. Dies könnten drei - vom Verteidiger mit ladungsfähiger Anschrift benannte - Zeugen bestätigen, deren Ladung beantragt werde.

Es werde die Beiziehung eines DEKRA-Sachverständigen angeregt und zudem, den Beschluss über die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis aufzuheben und den Führerschein herauszugeben.

Im Übrigen wies der Verteidiger in dem Schriftsatz darauf hin, dass der Verurteilte "zwar Deutsch spreche, aber nur in einem begrenzten Umfang".

Am 05.02.2016 fand der anberaumte Hauptverhandlungstermin ohne die benannten Entlastungszeugen und ohne Beiziehung eines Sachverständigen statt.

Der Zeuge B. sagte laut Protokoll aus, er habe in seinem Auto gesessen mit Blick auf den Toyota. Der schwarze (nicht grüne) Honda habe schon eingeparkt und sei dann wieder los gefahren. Er habe gesehen, wie er beim Ausparken - er sei immer hin- und hergefahren und es habe zahlreiche Ein- bzw. Ausparkversuche gegeben - gegen das andere Auto gefahren sei, welches infolge dessen gewackelt habe. Das habe er der Besitzerin, die wenig später zu ihrem Fahrzeug gekommen sei, gesagt. Gehört habe er nichts, das Autoradio sei an gewesen. Warum er in seiner schriftlichen Äußerung einen hörbaren Knall behauptet habe, wisse er nicht mehr.

Die Zeugin M. B. bekundete, sie habe von ihrer Mitschülerin S. F. erfahren, dass jemand gegen ihr Auto gefahren sei.

Das Verfahren wurde schließlich zum Zwecke der Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Frage, ob die Unfallspuren korrespondieren, ausgesetzt.

Das schriftliche Gutachten des DEKRA-Sachverständigen D. datiert auf den 15.03.2016.

Da der Verurteilte sein Fahrzeug zwischenzeitlich verkauft hatte, standen dem Sachverständigen nach den Ausführungen im Gutachten nur die in der Akte befindlichen Lichtbilder des Honda CRV zur Verfügung. Den Toyota konnte der Sachverständige im reparierten Zustand in Augenschein nehmen.

Der Sachverständige geht in seinem schriftlichen Gutachten ohne Weiteres davon aus, dass der Ausparkvorgang in einer Linkskurve vonstatten ging. Die Höhendifferenz der Beschädigungen führe nicht dazu, dass eine Korrespondenz der Schäden nicht feststellbar sei, durch dynamische Fahrvorgänge sei ein Höhenunterschied von ca. 5 cm plausibel nachvollziehbar.

Im Ergebnis ließen sich die Beschädigungen jedenfalls plausibel zuordnen.

Am 07.04.2016 beantragte der Verteidiger, den Sachverständigen zum nächsten Hauptverhandlungstermin zu laden. Der vom Sachverständigen vorausgesetzte Ausparkvorgang korrespondiere nicht mit der sich aufgrund von Zeugenaussagen ergebenden Aktenlage. Zudem werde der Sachverständige benötigt, um Erkenntnisse darüber zu erlangen, ob die Berührung für den Verurteilten bemerkbar gewesen sei. Der Antrag, die benannten Entlastungszeugen zu laden, wurde erneuert.

Am 22.04.2016 fand ein Hauptverhandlungstermin statt, in dem der Verteidiger die Beiordnung als Pflichtverteidiger beantragte.

Der schriftlich formulierte Antrag führt aus:

Die Sach- und Rechtslage sei schwierig.

Der Zeuge B. habe widersprüchliche Angaben gemacht. Die Zeugin F. habe den Polizeibeamten gegenüber geäußert, sie habe ein grünes jeepähnliches Fahrzeug wegfahren sehen. Die Ausparksituation, von der der Sachverständige ausgeht, sei eine andere, als die vom Tatzeugen geschilderte. Es sei unklar, ob es am PKW Toyota Vorschäden gegeben habe. Die Sachlage sei daher schwierig.

Die Rechtslage sei schwierig, weil nicht nur nachgewiesen werden müsste, dass der Verurteilte den Unfall bemerkt hat und von einer Beschädigung des PKW Toyota ausging, sondern im Hinblick auf § 69 StGB auch, dass der Verurteile mit einem erheblichen Schaden gerechnet habe. Immerhin habe die Polizei den Schaden auf nur ... € geschätzt. Bei der eventuell auszusprechenden Sperrfrist gemäß § 69a StGB sei der dem Jugendstrafrecht zugrunde liegende Erziehungsgedanke umfassend zu würdigen.

Im Termin am 22.04.2016 wurde die Zeugin S. F. gehört. Sie bekundete, sie habe den Unfall mitbekommen. Sie habe den Einparkvorgang beobachtet und als sie zu Fuß losgegangen sei, habe sie ein Quietschen gehört und sich umgedreht. Sie habe noch gesehen, wie die Autos sich berührt hätten und versucht, sich das Nummernschild zu merken. Den Fahrer habe sie nicht erkannt, aber sogleich ihrer Freundin M. von dem Vorfall berichtet.

Am 25.04.2016 lehnte das Amtsgericht den Antrag auf Beiordnung ab, die Sach- und Rechtslage sei "einfach", von einer weiteren Begründung "müsse wegen des Verfahrensstandes - Beweisaufnahme - abgesehen werden".

Der Beschluss wurde am 28.04.2016 per Fax an den Verteidiger übersandt, die Hauptverhandlung am 29.04.2016 unter Beteiligung des Verteidigers fortgesetzt. In diesem Termin wurden weitere Zeugen gehört. Einer der benannten Entlastungszeugen bestätigte Vorschäden am Fahrzeug des Verurteilten, allerdings nicht im vorderen rechten Bereich.

Der Sachverständige bekundete laut den Ausführungen im Protokoll, er sei "sich zu hundert Prozent sicher", dass das Fahrzeug des Angeklagten das beschädigte Fahrzeug berührt habe. Taktil sei der Unfall nicht wahrnehmbar, aber "hörbar sei die Berührung auf jeden Fall gewesen".

Dass der Sachverständige mit der Beschreibung des Ausparkvorgangs nach Aktenlage bzw. entsprechend der Bekundung des Zeugen B. konfrontiert worden ist, ergibt sich aus dem verschrifteten Protokollinhalt nicht, allerdings spricht die Bildanlage zum Protokoll, auf der Modellautos in Kollisionsstellungen dargestellt sind, dafür, dass dies der Fall gewesen ist.

Aus dem Protokoll geht hervor, dass der Verteidiger nach Beendigung der Beweisaufnahme zum Schluss seines Plädoyers erklärt habe, er lege Beschwerde gegen den Beschluss über die Nichtbeiordnung als Pflichtverteidiger ein.

Aus dem Protokoll geht nicht hervor, dass gleichzeitig ein Antrag auf Wiedereintritt in die Beweisaufnahme und Aussetzung bzw. Unterbrechung der Hauptverhandlung gestellt worden wäre.

Durch am 29.04.2016 verkündetes Urteil wurde der Beschwerdeführer des unerlaubten Entfernens vom Unfallort für schuldig befunden und verwarnt. Die Fahrerlaubnis wurde entzogen, der Führerschein eingezogen, eine Sperrfrist für die Neuerteilung einer Fahrerlaubnis von noch 3 Monaten ausgesprochen. Gemäß § 74 JGG wurde davon abgesehen, dem Verurteilten die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen. Rechtsmittel gegen das Urteil wurden nicht eingelegt.

Mit Schriftsatz vom 29.06.2016, gerichtet an das Amtsgericht Neubrandenburg, "erinnerte" der Verteidiger an den "rechtzeitig im Termin am 29.04.2016 gestellten Antrag auf Beiordnung als Pflichtverteidiger, über den noch nicht entschieden worden sei". Der "Vorsitzende Richter habe nach der Urteilsverkündung mitgeteilt, dies noch zu tun". Damit sei es der Verteidigung versagt gewesen, eine Aussetzung der Hauptverhandlung "bis zur Entscheidung des Beschwerdegerichtes über das Rechtsmittel" zu verlangen. "Entscheidungen über die Beiordnung" würden in der Revisionsinstanz vom Revisionsgericht nur dann auf Rechtsfehler überprüft, wenn der Angeklagte während eines wesentlichen Teils der Hauptverhandlung unverteidigt wäre. Eine formelle Beiordnung sei für den Fall unnötig, dass das Gericht von einer Beiordnung durch Inanspruchnahme ausgehe.

Mit Beschluss vom 30.06.2016 lehnte das Amtsgericht den Beiordnungsantrag ab. Der Verurteilte spreche hervorragend deutsch und könne sich selbst verteidigen. Die Schwere der Tat gebiete keine Beiordnung. Die Rechtslage sei einfach. Alleine die Tatsache, dass mehrere Zeugen und ein Sachverständigengutachten eingeholt wurden, rechtfertige die Beiordnung nicht.

Die gegen diesen Beschluss gerichtete Beschwerde vom 13.07.2016 ging am 14.07.2016 bei Gericht ein. Am 03.08.2016 traf das Amtsgericht eine Nichtabhilfeentscheidung.

Die Kammer hat zur Sachverhaltsaufklärung eine dienstliche Stellungnahme des Amtsrichters eingeholt.

Diese Stellungnahme vom 17.08.2016 ist wie folgt formuliert:

"Es ist mir nicht mehr erinnerlich, warum über den Antrag auf Beiordnung nicht vor der Urteilsverkündung entschieden worden ist.

Mir ist jedenfalls erinnerlich, dass das gesamte Verfahren dadurch geprägt war, dass der Verteidiger versucht hat, möglichst viele Anträge zu stellen. Das Sachverständigengutachten beispielsweise wurde vom Gericht nur deshalb eingeholt, weil der Verteidiger einen dementsprechenden Antrag angekündigt hat. Auch die angehörten Zeugen sind zum großen Teil nur auf Antrag des Verteidigers gehört worden. Das gesamte Verfahren wäre ohne das Verteidigerverhalten im ersten Termin, dem 05.02.2016 einer Erledigung zugeführt worden."

Der Verteidiger hat seine Beschwerde mit Schriftsatz vom 12.08.2016 ergänzend begründet. Er habe nach der ersten Ablehnung der Beiordnung den Mandanten gebeten, auf eine weitere Vertretung durch ihn zu verzichten und es auf eine Sprungrevision ankommen zu lassen, dieser habe aber nicht ohne anwaltlichen Beistand an einem weiteren Termin teilnehmen wollen.

Er habe am Folgetermin teilgenommen und im Schlussvortrag beantragt, dass das Gericht "für den Fall, dass es zur Verurteilung kommt, noch über die Beiordnung entscheidet". Das Gericht habe das Urteil verkündet und auf Nachfrage mitgeteilt, dass über die Beiordnung nach der Hauptverhandlung entschieden werde. Es handele sich nach Auffassung der Hauptverhandlung nicht um eine "nachträgliche Entscheidung", sondern um die "Nachholung einer in der Hauptverhandlung angekündigten Entscheidung". Er sei davon ausgegangen, dass wegen der im Folgetermin zutage getretenen Sachlage eine Beiordnung erfolgen werde.

Er habe sich infolge der gemachten Erfahrungen zwar schon überlegt, keine Mandate vor dem Jugendrichter zu übernehmen, werde dies aber zukünftig aus berufsethischen Gründen ergebnisoffen von Fall zu Fall entscheiden.

Auf telefonische Nachfrage hat der Verteidiger mitgeteilt, es habe in der Vergangenheit beim Amtsgericht Neubrandenburg vereinzelte Fälle gegeben, in denen über Beiordnungsanträge nicht entschieden worden sei, vereinzelt habe er auch Untätigkeitsbeschwerden erhoben. Er könne allerdings nicht sagen, dass solche Fälle gehäuft oder gar regelmäßig vorkämen und erinnere auch nicht, ob diese Fälle einen einzelnen bestimmten Richter oder Spruchkörper betroffen hätten.

II.
1. Die Nichtprotokollierung eines weiteren Beiordnungsantrages - stattdessen ist eine Beschwerde gegen die bereits (am 25.04.) erfolgte Nichtbeiordnung protokolliert - steht der Annahme, am 29.04.2016 sei in der Hauptverhandlung abermals ein Beiordnungsantrag gestellt worden, nicht entgegen.

Zum einen erstreckt sich die ausschließliche Beweiskraft des Protokolls nur auf ein Rechtsmittelverfahren, in dem die Gesetzmäßigkeit einer tatrichterlichen Verhandlung zu überprüfen ist (vgl. BGHSt 26, 281, 282), also auf Revisionsverfahren.

Zum anderen ist ein ordnungsmäßig errichtetes Protokoll nicht vorhanden. Es ist zwar von beiden teilnehmenden Urkundsbeamtinnen unterschrieben, aber nicht vom Vorsitzenden.

Da keine ausschließliche Beweiskraft gegeben ist, andererseits eine dienstliche Äußerung des Vorsitzenden vorliegt, zudem ein im Freibeweisverfahren verwendbares unfertiges Protokoll und ebenso verwendbare nachträgliche Entscheidungen des Gerichts und Verteidigererklärungen, hatte die Kammer keine Veranlassung, auf die Fertigstellung des Protokolls hinzuwirken.

Die Tatsache, dass der Jugendrichter am 30.06.2016 - nochmals - ablehnend über einen Beiordnungsantrag entschied, spricht dafür, dass im Folgetermin am 29.06.2016 tatsächlich ein Antrag gestellt worden ist, der nicht als Beschwerde, sondern als erneuter Beiordnungsantrag formuliert wurde und die im unfertigen Protokoll gewählte Formulierung unzutreffend ist.

Allerdings ist aufgrund der Verteidigerausführungen im Schriftsatz vom 12.08.2016 davon auszugehen, dass der erneute Antrag auf Beiordnung bedingt für den Fall eines Schuldspruches gestellt worden ist.

Ein solcher bedingter Antrag steht im Widerspruch zum Gesetzeszweck der §§ 140 ff. StPO und ist unzulässig, weil die Pflichtverteidigerbeiordnung in erster Linie der Verfahrenssicherung dient und zudem zur Voraussetzung hat, dass ein bestehendes Wahlmandat niedergelegt wird. Wenn man derartige Anträge im Allgemeinen zulassen würde, hätte die Verteidigung es in der Hand, für den Fall des Freispruchs bei Übernahme der notwendigen Auslagen durch die Staatskasse eine Maximierung der eigenen Bezahlung zu erreichen und bei einem Schuldspruch für den Angeklagten die durch diesen zu tragenden Kosten aufgrund des Unterschiedes zwischen Wahl- und Pflichtverteidigergebühren zu verringern und gleichzeitig für sich selbst einen zahlungsfähigen Gebührenschuldner, nämlich die Staatskasse, zu generieren. Im Übrigen ist der Teil des Verfahrens, der faktisch nach der Urteilsfällung in der Beratung noch zu sichern ist, nur ein vergleichsweise sehr geringer Teil des Gesamtverfahrens.

Es ist aber nicht davon auszugehen, dass der Verteidiger die zuvor - konkludent durch den Antrag vom 22.04.2016 abgegebene - Erklärung, für den Fall der Beiordnung werde das Wahlmandat niedergelegt, durch das weitere Auftreten im Termin am 29.04.2016 widerrufen hat. Diese Terminswahrnehmung war ersichtlich nur dadurch bedingt, dass zuvor der Beiordnungsantrag abgelehnt worden war und der Angeklagte in der Hauptverhandlung nicht unverteidigt bleiben wollte, ein darüberhinausgehender konkludenter Erklärungsinhalt ergibt sich aus der Terminswahrnehmung durch den Verteidiger nicht.

Da durch den Schriftsatz vom 29.06.2016 einerseits nochmals verdeutlicht worden ist, dass die Beiordnung weiterhin begehrt wird, andererseits der in Bezug genommene Antrag vom 29.04.2016 unzulässig war, legt die Kammer das Schreiben als im Namen des Verurteilten erhobene Beschwerde gegen die Nichtbeiordnung vom 25.04.2016 aus. Der Beschluss vom 30.06.2016 ist somit als Nichtabhilfeentscheidung auszulegen, die Verteidigerschriftsätze vom 13.07.2016 und 12.08.2016 sind als weiteres Vorbringen im Beschwerdeverfahren gegen den Beschluss vom 25.04.2016 zu werten.

2. Die Beschwerde ist gemäß § 304 Abs. 1 StPO statthaft und zulässig.

Teilweise wird allerdings vertreten, § 305 S. 1 StPO stehe einer Beschwerde gegen eine nach Beginn der Hauptverhandlung erlassenen Beiordnungsablehnung entgegen (so etwa der 3. Strafsenat des OLG Celle, 3 Ws 151/98 = NStZ 1998, 637; für bestimmte Fallkonstellationen auch der 1. Strafsenat des OLG Stuttgart, 1 Ws 312/89 = MDR 1990, 174; OLG Zweibrücken, 1 Ws 139 - 142/87)

Dies ist abzulehnen. Die Wirkung der Beiordnungsentscheidung erschöpft sich nicht in der Vorbereitung der Urteilsfällung (im Ergebnis ebenso: 1. Strafsenat des OLG Celle, 1 Ws 339/08 = NStZ 2009, 56; 4. Strafsenat des OLG Stuttgart, 4 Ws 223/07 = NStZ-RR 2008, 21; OLG Nürnberg StV 1987, 191; OLG Karlsruhe NJW 1978, 1064; OLG Düsseldorf StV 2001, 609; KG NStZ-RR 2014, 279; Meyer-Goßner/Schmitt 58.A, § 141 Rn 10a; SK-StPO-Wohlers 4.A § 141 Rn 33; Satzger/Schluckebier/Widmair-Beulke § 141 Rn 42).

Die Beschwerde ist auch nicht etwa aufgrund prozessualer Überholung und/oder mangels Beschwer unzulässig.

Allerdings hat die Kammer in der Vergangenheit in Übereinstimmung mit der überwiegenden Mehrheit obergerichtlicher Entscheidungen (vgl. BGH NStZ-RR 2009, 348; StraFO 2006, 455; StV 1997, 238; StV 1989, 378; KG NStZ-RR 2014, 279; OLG Hamm NStZ-RR 2009, 115; OLG Köln NStZ-RR 2011, 325; OLG Düsseldorf NStZ-RR; im Schrifttum folgend: KK Laufhütte/Willnow § 141 Rn 12) mehrfach entschieden, dass eine nachträgliche Bestellung - gemeint ist damit eine solche nach Abschluss des Verfahrens bzw. der Instanz - in aller Regel ausgeschlossen ist, es sei denn es handele sich um eine zu grobem prozessualen Unrecht führende Willkürentscheidung (8 Qs 94/08; 8 Qs 209/09). Dies soll nach dieser Auffassung auch dann gelten, wenn der Beiordnungsantrag vor Beendigung des Verfahrens bzw. Verfahrensabschnittes gestellt und nicht entschieden oder zu Unrecht zurückgewiesen worden ist. Auch die 61. Strafkammer beim LG Neubrandenburg hat soweit ersichtlich bisher die gleiche Auffassung vertreten.

Diese Auffassung stützt sich im wesentlichen auf folgende Argumentation:

Die aufgrund der §§ 140 ff. StPO vorzunehmende Bestellung eines Pflichtverteidigers geschehe allein zu dem Zweck, in den Fällen der notwendigen Verteidigung sicherzustellen, daß der Angeklagte, der noch keinen Verteidiger gewählt hat, zukünftig einen Verteidiger hat. Die nachträgliche Bestellung des Rechtsanwalts diene daher ausschließlich dem verfahrensfremden Zweck, dem Verteidiger für einen bereits abgeschlossenen Verfahrensabschnitt einen Vergütungsanspruch gegen die Staatskasse zu verschaffen, nicht jedoch die ordnungsgemäße Verteidigung des früheren Angeschuldigten zu gewährleisten. Eine solche rückwirkende Bestellung sei daher schlechthin unzulässig.

Meist verbleibt es bei der alleine aus dem gesetzlichen Zweck der §§ 140 ff. StPO hergeleiteten Argumentation, wobei die tatsächlichen Auswirkungen auf die gebührenrechtliche Situation oft (z.B. bei allen, nur das Revisionsverfahren betreffenden oben angeführten BGH-Entscheidungen) dadurch abgemildert werden, dass - bei unterbliebener Bescheidung - eine konkludente Beiordnung angenommen wird.

Teilweise wird zudem für Beschwerdeverfahren argumentiert, eine Beschwer läge nicht vor, ein bloßes Kosteninteresse begründe bei einer Nichtbeiordnung keinen unmittelbaren Nachteil des beschwerdeführenden Angeklagten (vgl. Kammerbeschluss 8 Qs 94/08), teilweise wird auch angeführt, die nachträgliche Bestellung wäre "auf eine unmögliche Leistung gerichtet", da der Verteidiger seine Leistung bereits als Wahlverteidiger aufgrund eines Mandatsverhältnisses abschließend erbracht habe, eine nachträgliche, rückwirkende Bestellung für das im Rechtszug abgeschlossene Verfahren sei schon alleine aus diesem Grunde unzulässig (vgl. OLG Köln aaO, Kammerbeschluss 8 Qs 94/08).

Eine geringe Anzahl obergerichtlicher Entscheidungen (OLG Koblenz, 1 Ws 876/94 = StV 1995, 537; OLG Hamm, 2 Ws 374/07 für den Fall der "internen Zurückstellung einer Entscheidung bis nach Verfahrensabschluss"; OLG Karlsruhe, 1 AK 30/05, für den Sonderfall einer Beiordnung im Auslieferungsverfahren nach Überstellung des Betroffenen ins Ausland; OLG Stuttgart, 4 Ss 313/10 für den Fall, dass "Fälle der Nichtbescheidung gehäuft auftreten"), die überwiegende Anzahl landgerichtlicher Entscheidungen (vgl. etwa u.a. LG Aachen, StV 125; LG Berlin StV 2005, 83; LG Bonn StraFo 2009, 106; LG Itzehoe, 1 Qs 95/10; LG Bremen, NStZ-RR 2004, 113 mit ausführlicher Begründung; LG Dortmund StV 2007, 344, StraFo 2009, 106; LG Düsseldorf StraFo 2009, 106; LG Erfurt StV 2007, 346; LG Frankenthal StV 2007, 344; LG Schweinfurt StraFo 2006, 25; LG Stendal, 501 AR 9/15; LG Trier, 5 Qs 34/15; LG München, 22 Qs 5/14; LG Heilbronn, StV 2002, 246; LG Verden, 1 Qs 260/10; LG Köln StraFo 2003, 311; LG Koblenz StV 2008, 348, LG Flensburg, II Qs 29/12) und ein Großteil des Schrifttums (Wohlers StV 2007, 377 ff. u. in SK-StPO § 141 Rn 27; Satzger/Schluckebier/Widmair-Beulke § 141 Rn 37; Meyer-Goßner/Schmitt 58 A, § 141 Rn 8 führt aus, "der Auffassung von Wohlers könne zu folgen sein") hält eine rückwirkende Bestellung für möglich, wenn der Beiordnungsantrag vor Beendigung des Verfahrens gestellt und nicht beschieden oder zu Unrecht abgelehnt worden ist, vereinzelt wird auch gefordert, im Beschwerdeverfahren müsse die Beschwerde noch vor rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens erhoben worden sein.

Die wesentlichen für diese Auffassung angeführten Gründe hat das LG Bremen aaO. wie folgt zusammengefasst:

"Dies (scil. Die Argumentation der Vertreter der Gegenmeinung) leuchtet im Ausgangspunkt auch insofern durchaus ein, als aus dem Gefüge der Vorschriften der §§ 140, 141 StPO ... gerade die Intention des Gesetzgebers hervorgeht, sicherzustellen, dass einem Beschuldigten ein Verteidiger frühzeitig beigeordnet wird, nämlich schon sobald sich abzeichnet, dass im gerichtlichen Verfahren ein Tatbestand der notwendigen Verteidigung ... gegeben sein wird bzw. ist.

In diesem Sinne stellen sich nach der Rechtsprechung des BVerfG die Vorschriften der Prozessordnung über die notwendige Mitwirkung und Beiordnung eines Verteidigers im Strafverfahren als Konkretisierungen des Rechtsstaatsprinzips in seiner Ausgestaltung als Gebot fairer Verfahrensführung und des aus Artikel 6 Absatz III Buchst.c MRK folgenden Rechts des Angekl. auf wirksame Verteidigung dar (vgl. BVerfG NJW 1975, 1015). Er darf nicht nur Objekt des Verfahrens sein; ihm muss vielmehr die Möglichkeit gegeben werden, zur Wahrung seiner Rechte auf den Gang und das Ergebnis des Verfahrens Einfluss zu nehmen... .

Damit wäre es in der Tat unvereinbar, einem Angekl. einen Verteidiger im Wege der Bestellung zum Pflichtverteidiger etwa erst zu einem Zeitpunkt zur Seite zu stellen und ihn mit der Wahrung von dessen Verteidigungsinteressen in einem Strafverfahren zu betrauen, zu dem sich der Verfahrensausgang für den Angeklagten praktisch nicht mehr beeinflussen lässt.

Durch die Beiordnung eines Verteidigers soll der Beschuldigte nach dem Willen des Gesetzgebers vielmehr grundsätzlich gleichen Rechtsschutz erhalten wie ein Beschuldigter, der sich auf eigene Kosten einen Verteidiger gewählt hat; dies gebietet bereits das verfassungsrechtliche Gleichheitsgebot....... Das verfassungsrechtliche Gleichheitsgebot in der Gewährung effektiven Rechtsschutzes verlangt aber stärkere Beachtung auch bei der im vorliegenden Fall aufgeworfenen Fragestellung, wie in der Auslegung der Vorschriften über die Bestellung eines Pflichtverteidigers in den atypischen Fällen zu verfahren ist, in denen ein Verteidiger tatsächlich schon tätig geworden ist, bevor der gestellte Beiordnungsantrag eine Bescheidung erfahren hat.

Wenn ein Verteidiger, wie angesichts der bisher herrschenden Meinung in dieser Frage, befürchten muss, trotz Vorliegens der tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen der notwendigen Verteidigung gegebenenfalls für Tätigkeiten, die er vor Erhalt des formalen Bestellungsakts zur Wahrnehmung der Verteidigungsinteressen eines Beschuldigten entfaltet, keine Vergütung zu erhalten, weil - objektiv rechtswidrig - trotz rechtzeitiger Beantragung seiner Beiordnung diese infolge eines Gerichtsversehens oder aus anderen Gründen, auf die er und der Beschuldigte keinen Einfluss haben, bis zum Abschluss des Verfahrens unterbleibt, führt dies in der Konsequenz zwangsläufig auch dazu, dass derartige, der formalen Bestellung vorgreifende Tätigkeiten als "Pflichtverteidiger in spe” tendenziell eher unterbleiben werden.

Dies aber wirkt sich strukturell zu Lasten des effektiven Rechtsschutzes für den Beschuldigten aus, denn die Erfahrung zeigt bekanntlich (siehe nur Peters, Fehlerquellen im Strafprozess II, 1972, S. 195), dass Verteidigung in ihrem für den Beschuldigten messbaren Erfolg zumeist um so effektiver ist, je frühzeitiger sie im Verfahrensverlauf einsetzt. Schon allein die zeitliche Verzögerung, die dadurch eintreten kann, dass eine beantragte Beiordnung im Ermittlungsverfahren von der Auffassung des StA abhängt (§ 141 II StPO) und womöglich auch im gerichtlichen Verfahren entgegen § 141 I, III StPO nicht sofort, sondern erst mit vermeidbarem Zeitverzug oder - wie verschiedentlich praktiziert - erst mit der Eröffnungsentscheidung bzw. zu Beginn der Hauptverhandlung vollzogen wird, bedeutet deswegen bereits eine deutliche qualitative Schlechterstellung des auf einen Pflichtverteidiger angewiesenen Beschuldigten im Vergleich zu einem Beschuldigten, dessen Interessen ohne Zeitverzug durch einen beauftragten Wahlverteidiger wahrgenommen werden.

Ein Festhalten an der Meinung, wonach überdies in Fällen einer während des Verfahrens unterbliebenen Bestellung durchweg eine Nachholung der versäumten Beiordnung nicht in Betracht kommen soll, genügt somit nicht der ausweislich der Rechtsprechung des BVerfG verbindlichen Zielvorgabe einer möglichst weitgehenden Gleichstellung des Beschuldigten, der auf einen Pflichtverteidiger angewiesen ist, mit einem solchen, der sich einen Wahlverteidiger leisten kann. Vielmehr ist die Möglichkeit, die Bestellung eines Verteidigers in solchen Fällen nachzuholen, nicht nur geeignet, sondern i.S. der anzustrebenden Waffengleichheit, der Wahrheitsfindung und im Interesse der sonstigen geschützten Belange des Beschuldigten erforderlich zur Förderung der Zwecke der §§ 140 ff. StPO, nämlich der Gewährleistung eines fairen rechtsstaatlichen Verfahrens.

Hinzu kommt, dass in der Rechtsprechung, anders als für die Beiordnung des Pflichtverteidigers, für vergleichbare Konstellationen - wie im Fall der Beiordnung eines anwaltlichen Beistands für den Verletzten ..... anerkannt ist (vgl. Meyer-Goßner, StPO 46. Aufl., § 397a Rn 15 mwN), dass die Vollziehung der Beiordnung bzw. die Bewilligung von PKH auch noch nach Beendigung des Verfahrens bzw. für bereits abgeschlossene Verfahrensabschnitte wirksam erfolgen kann, und dabei allein darauf abgestellt wird, ob dem Gericht rechtzeitig ein bescheidungsreifer Beiordnungsantrag vorgelegen hatte (s. z.B. ausführlich OLG Köln, NStZ-RR 2000, 285). In der ....Entscheidung NStZ-RR 1997, 69 hatte der BVerfG in der Verweigerung der nachträglichen Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Anwalts gem. § 397a StPO trotz rechtzeitig gestellten Antrags einen Verstoß gegen das aus Artikel 3 Absatz I GG folgende Willkürverbot gesehen.

Entsprechende rechtliche Maßstäbe sind nach Auffassung der Kammer bei der Frage der Pflichtverteidigerbeiordnung anzulegen.

Dies gilt zumal mit Blick darauf, dass der Gesetzgeber gerade zur Verbesserung der "Waffengleichheit” zwischen Beschuldigten und Verletzten mit der Neufassung des § 397a Absatz 1 StPO durch das Zeugenschutzgesetz vom 30. 4. 1998 dem Verletzten einen - nach der Rechtsprechung eben unter oben genannten Umständen nachholbaren - Anspruch auf die Beiordnung eines anwaltlichen Beistandes verschafft hat, der ansonsten dem Recht des Beschuldigten auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers nachgebildet ist; denn bei Vorliegen bestimmter Privilegierungstatbestände hat die Beiordnung zu erfolgen, unabhängig vom wirtschaftlichen Vermögen des Verletzten, von seinen Fähigkeiten zur eigenständigen Rechtswahrnehmung oder der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage.

Ebenso, wie es zutreffend als ungerecht und mit der in § 397a StPO zum Ausdruck gelangten Intention des Gesetzgebers unvereinbar angesehen wird, einem Verletzten das Risiko der versäumten Bescheidung eines ordnungsgemäß gestellten und in der Sache begründeten Beiordnungsantrags aufzubürden, ist nicht ersichtlich, warum dieses Risiko gleichwohl den Beschuldigten und einen für ihn in der Erwartung ordnungsgemäßer Sachbehandlung tätig gewordenen Verteidiger treffen sollte."

Beulke aaO. führt aus, die Gegenmeinung rufe die Verteidigung geradezu auf, den Betroffenen bis zur Beiordnung nicht zu verteidigen. Soweit die Gegenmeinung, zum Ausdruck kommend etwa in der Entscheidung KG StraFo 2006, 200, ausführe, eine solche Reaktion könne nicht ernsthaft in Erwägung gezogen werden, weil sie vertragswidrig wäre, "verwechsele sie das Sein mit dem Sollen".

Die Kammer lässt offen, ob - auch bedingt durch deren zwischenzeitliche personelle Umbesetzung - die bisherige Kammerrechtsprechung umfassend aufgegeben wird und vollumfänglich der Auffassung, eine nachträgliche Beiordnung käme bei rechtzeitiger Antragstellung regelmäßig in Betracht, zu folgen ist.

Jedenfalls ändert die Kammer ihre bisherige Rechtsprechung in Bezug auf Verfahren, in denen es es zu einer Verurteilung im Jugendstrafverfahren gekommen ist, aufgrund folgender Erwägungen:

§ 74 JGG, der auch im zugrundeliegenden Verfahren angewendet wurde, eröffnet die Möglichkeit, den Verurteilten von Kosten und Auflagen freizustellen. Ein Grund für die Schaffung dieser gesetzlichen Möglichkeit ist, dass die Auferlegung von Kosten und Auslagen negativ sanktionierend im Sinne einer im Jugendstrafrecht unzulässigen Geldstrafe wirken kann (vgl. Eisenberg JGG, 17. A § 74 Rn 8b).

Jedenfalls seit der BGH-Entscheidung vom 15.11.1988 (NStZ 89, 239) ist davon auszugehen, dass die notwendigen Auslagen und damit die Wahlverteidigerkosten nicht von der Freistellungsmöglichkeit erfasst sind. Pflichtverteidigergebühren hingegen gehören zu den freistellungsfähigen Auslagen der Staatskasse (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt § 464a StPO Rn 1 mwN).

Daraus folgt, dass eine zu Unrecht nicht erfolgte Pflichtverteidigerbestellung unmittelbar die mit jugendstrafrechtlichen Verurteilungen verbundene erzieherische Wirkung beeinflusst. Von einem nicht unmittelbaren Nachteil und einer somit fehlenden Beschwer kann nicht ausgegangen werden, wenn man denn ansonsten der Auffassung finanzielle Auswirkungen seien nicht unmittelbar beschwerend überhaupt folgen will.

Es kann im Übrigen auch nicht davon ausgegangen werden, dass der Problematik in ausreichender Weise durch eine Kompensation bei der Sanktionsbestimmung begegnet werden könnte.

Das weiter oben dargestellte Gegenargument, die Unzulässigkeit ergebe sich daraus, dass eine Beiordnung nach Verfahrensabschluss auf eine unmögliche "Leistung" gerichtet sei, geht fehl.

Es wird nämlich insoweit nicht zwischen dem vorrangigen Zweck der gesetzlichen Möglichkeit einer Beiordnung und deren tatsächlichen Auswirkungen unterschieden. Mag die Sicherstellung der effektiven Verteidigung auch im Vordergrund stehen, ist es andererseits ohne Zweifel so, dass die Wirkung einer Beiordnung sich nicht darin erschöpft, dass ein Verteidiger im Verfahren tätig wird, sondern eben auch gebühren- und vergütungsrechtliche Wirkungen entfaltet und auch noch nach Verfahrensbeendigung entfalten kann. Wenn derartige Vergütungsfragen unmittelbar die erzieherischen Auswirkungen eines Verfahrens und der gefundenen Sanktion betreffen, kann auch keineswegs davon gesprochen werden, dass eine nachträgliche Beiordnung nur verfahrensfremde Ziele verfolgen würde. Vielmehr ist ein Kerngedanke des jugendstrafrechtlichen Sanktionssystems betroffen.

Soweit eine Unmöglichkeit im bürgerlich-rechtlichen Sinne gemeint sein sollte, geht die Argumentation erst recht ins Leere. Es geht nicht um Leistungen oder Leistungsstörungen aus dem ursprünglichen vertragsrechtlichen Mandatsverhältnis bzw. den Geschäftsbesorgungsvertrag aufgrund der Wahlverteidigung.

Soweit es das durch die Beiordnung entstehende öffentlich-rechtliche Pflichtenverhältnis betrifft ist zwar die Verteidigung im Verfahren nach dessen Abschluss tatsächlich nicht mehr möglich, jedoch ist die Vergütungsverpflichtung des Staates noch herstellbar, auch den Verteidiger treffende Nebenpflichten können zukünftig noch Wirkung beanspruchen.

Die Sachlage ist im übrigen insoweit durchaus mit der nachträglichen Beiordnung eines Nebenklägervertreters bei rechtzeitiger Antragstellung vergleichbar.

Des Weiteren ist zu bedenken, dass, wenn man der Gegenmeinung folgt, der Verteidiger bei einer Nichtbescheidung wohl Untätigkeitsbeschwerde erheben und ggfs. bei laufender Hauptverhandlung deren Aussetzung bis zur Beschwerdeentscheidung, u.U. bei dessen Ablehnung verbunden mit einem Befangenheitsantrag, beantragen müsste. Dies läuft dem im Jugendstrafrecht besondere Bedeutung zukommenden Beschleunigungsgrundsatz zuwider.

Bei einer zu Unrecht erfolgten Ablehnung wäre der Verteidiger gehalten, nicht zur Hauptverhandlung zu erscheinen bzw. diese nach der Ablehnung zu verlassen, um einen Revisionsgrund zu schaffen mit der Folge, dass dann nach Aufhebung des Urteils in der Revisionsinstanz eine weitere neue Hauptverhandlung zu einem wesentlich späteren Zeitpunkt stattfinden müsste, was erst recht dem Beschleunigungsgrundsatz widerspricht.

Dies wird ein Verteidiger aber nur dann risikolos machen können, wenn der Mandant bzw. sein gesetzlicher Vertreter mit einer derartigen Handlungsweise einverstanden ist, weil sich ansonsten für den Verteidiger negative vertragsrechtliche und standesrechtliche Folgerungen ergeben könnten.

Im Übrigen ist festzuhalten, dass, wenn denn die oben dargestellten auf die Verteidigung wirkenden Sachzwänge tatsächlich mit dem Grundsatz des fairen Verfahrens in Einklang zu bringen sein sollten, jedenfalls im Jugendstrafrecht weitergehende gerichtliche Fürsorgepflichten gelten, die es ausschließen, dass ein Jugendlicher/Heranwachsender aus prozesstaktischen Erwägungen bei sachlicher Gebotenheit der Beiordnung in der Hauptverhandlung unverteidigt bleibt oder bleiben "muss"; nicht nur die Sanktionierung, sondern auch das zur Sanktionierung führende Verfahren hat erzieherische Wirkung. Wenn der Verteidiger signalisieren muss, dass es angebracht sei, dass er die Hauptverhandlung verlässt, um eine richtige Rechtsanwendung zu erreichen und der jugendliche Angeklagte über die Revisionsinstanz bestätigt bekommt, dass er zu Unrecht in der Hauptverhandlung "allein gelassen" wurde bzw. werden "musste", ist nicht zu erwarten, dass das Strafverfahren insgesamt erzieherisch positiv wirkt.

Soweit zu befürchten steht, dass die Kammer zukünftig womöglich die Frage der nachträglichen Beiordnung in Verfahren gegen Erwachsene und in Verfahren gegen Jugendliche und Heranwachsende unterschiedlich beurteilen wird - wie dargelegt bleibt dies zunächst offen - ist dies den Besonderheiten des Jugendstrafrechts und durchaus auch dem höchstrichterlichen Verständnis des § 74 JGG geschuldet.

Im Ergebnis ist die Beschwerde jedenfalls zulässig.

3. Die Beschwerde ist begründet. Die Aktenlage war bereits in einem frühen Verfahrensstadium dadurch gekennzeichnet, dass die durch Zeugen dargestellte Unfallsituation kaum mit dem Schadensbild in Übereinstimmung zu bringen war. Ebenso war es nach Aktenlage zweifelhaft, ob der Unfall vom Verurteilten bemerkt worden ist. Insofern ist zu Recht - allerdings wohl erst auf nachhaltiges Insistieren seitens der Verteidigung - ein Sachverständiger beauftragt worden, der dann auch ein schriftliches Gutachten abgegeben hat, welches den Unfallhergang ohne weiteres in einer der Aktenlage entgegenstehenden Art und Weise annimmt.

Bei dieser Sachlage ist für eine ordnungsmäßige Verteidigung jedenfalls umfassende Akteneinsicht notwendig, zumal auch dem Zeugen B. seine ursprüngliche, abweichende Bekundung vorzuhalten war.

Die Sachlage war schwierig, gemäß § 140 II StPO daher ein Fall notwendiger Verteidigung gegeben.

III.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus entsprechender Anwendung des § 467 StPO.


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