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Entscheidungen

StPO

Besetzung, Berufungskammer, Richter am AG

Gericht / Entscheidungsdatum: KG, Beschl. v. 14.12.2017 - (4) 121 Ss 127/17 (211/17)

Leitsatz: 1. Zur Verwendung eines Richters im Eingangsamt im Vorsitz einer Berufungsstrafkammer.
2. Vom gesetzlichen Leitbild des § 21f Abs. 1 GVG darf nur unter engen Voraussetzungen abgewichen werden. Eine Ausnahme darf zum einen in Vertretungsfällen gemacht werden, wobei die Vertretungsregeln eng auszulegen sind; zum anderen kann bei einem unabwendbaren, rechtlich begründeten Bedürfnis - wie insbesondere der Eignungserprobung - eine Ausnahme zulässig sein.


In pp.
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 2. Juni 2017 mit den zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten der Revision - an eine andere Strafkammer des Landgerichts Berlin zurückverwiesen.
Gründe

I.
Das Amtsgericht Tiergarten hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von zehn Monaten verurteilt. Die gegen dieses Urteil gerichtete Berufung des Angeklagten hat das Landgericht Berlin durch das angefochtene Urteil verworfen.

Der Angeklagte rügt mit der Revision die Verletzung formellen und materiellen Rechts.

Mit der Verfahrensrüge macht er einen Verstoß gegen § 21f GVG i.V.m. § 338 Nr. 1 StPO geltend.

1. Hierzu trägt er vor, erkennender Richter in der Berufungshauptverhandlung vom 2. Juni 2017 sei RiAG W gewesen, der auch im Geschäftsverteilungsplan des Landgerichts Berlin als Vorsitzender der Strafkammer 64 ausgewiesen gewesen sei. Nach §§ 76 Abs.1, 21f GVG sei eine Strafkammer jedoch mit einem Vorsitzenden Richter i.S.d. § 19a DRiG zu besetzen. RiAG W sei durch Präsidialbeschluss vom 27. März 2017 zum Vorsitzenden der Strafkammer 64 bestimmt worden. Der Wortlaut des Beschlusses sei eindeutig und könne auch nicht dahin ausgelegt werden, dass RiAG W nur vorübergehend oder vertretungsweise zum Vorsitzenden bestimmt worden sei. Zudem sei die Strafkammer 64 zum Zeitpunkt der Berufungshauptverhandlung bereits seit fünf Jahren nicht mehr mit einem ordentlichen Vorsitzenden i.S.v. §§ 76 Abs. 1, 21f Abs. 1 GVG besetzt gewesen. Nachdem zuletzt VRi´inLG C in der Zeit vom 1. bis zum 31. Mai 2012 als statusmäßige Vorsitzende der Strafkammer 64 vorgesessen habe, sei der Vorsitz der Strafkammer 64 anschließend durchgehend (bis auf zwei Monate, in denen er mit „N.N.“ ausgewiesen gewesen sei) auf Richter/-innen am Land- bzw. Amtsgericht übertragen worden. Die Revision trägt insoweit lückenlos vor, welche Richter über welchen Zeitraum den Vorsitz in der Strafkammer 64 geführt haben. Zuletzt habe in der Zeit vom 1. November 2015 bis zum 31. März 2017 Ri´inLG Dr. I den Vorsitz in der Strafkammer 64 geführt, wobei der Geschäftsverteilungsplan - wie auch bei ihren Vorgängern - den Zusatz enthalten habe „[ist] bis zum Abschluss des Verfahrens um die Besetzung der Stelle einer VRi´inLG/eines VRiLG mit Vorrang vor anderen Vertretungsregelungen dieses Geschäftsplans zur Vertr. d. Vors. berufen“. Danach sei ab dem 1. April 2017 RiAG W als Vorsitzender eingesetzt worden, bei dem der Geschäftsverteilungsplan den genannten Zusatz nicht enthalten habe.

Diese Regelung verstoße gegen § 21f Abs. 1 GVG, so dass das Urteil nach § 338 Nr. 1 StPO aufzuheben sei.

2. Die Präsidentin des Landgerichts hat in ihrer Eigenschaft als Vorsitzende des Präsidiums wie folgt Stellung genommen:

„Die Strafkammer 64 dient seit Jahren unter anderem auch als Erprobungs- und Ausbildungskammer.

Im Rahmen der sog. Kombinationserprobung werden im Einvernehmen mit dem Präsidenten des Kammergerichts Richterinnen und Richter, die eine obergerichtliche Erprobung absolvieren werden oder bereits erfolgreich absolviert haben und noch nicht zur Vorsitzenden Richterin oder zum Vorsitzenden Richter ernannt worden sind, durch das Präsidium des Landgerichts im Rahmen der individuellen Personalentwicklung vorübergehend als Vertreterin oder Vertreter des Vorsitzenden eingesetzt.

Mit einer Ausnahme sind alle bisherigen Vertreterinnen und Vertreter im Vorsitz der Strafkammer 64 auf diese Weise erfolgreich erprobt worden und erfüllen damit die Voraussetzungen für eine Beförderung in das Amt einer Vorsitzenden Richterin bzw. eines Vorsitzenden Richters.

Herr Richter am Amtsgericht W wurde als Vertreter des Vorsitzenden eingesetzt.“

3. Es ist senatsbekannt, dass Ri´inLG Dr. I und RiAG W vor ihrem jeweiligen Einsatz in der Strafkammer 64 ihre Erprobung - nämlich im Senat - erfolgreich abgeschlossen hatten.

II.
Die Revision hat mit der erhobenen Verfahrensrüge Erfolg. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils nebst den zugrundeliegenden Feststellungen und zur Zurückverweisung der Sache an das Landgericht.

A) Die Verfahrensrüge ist zulässig.

1. Sie ist insbesondere in einer den Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO genügenden Weise erhoben worden. Der Umstand, dass die Revision nicht mitteilt, aus welchen Gründen für die Strafkammer 64 kein Vorsitzender bestellt wurde, der auch Vorsitzender Richter i.S.d. § 19a Abs. 1 DRiG war, macht die Revision nicht unzulässig. Zwar hat der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs (vgl. BGHSt 28, 224) eine Besetzungsrüge als unzulässig angesehen, die sich allein auf den Umstand stützte, dass der Geschäftsverteilungsplan keine bestimmte Person als Vorsitzenden einer Strafkammer vorsah. Da nicht vorgetragen worden sei, dass auch in absehbarer Zeit ein zu benennender Vorsitzender nicht zu erwarten gewesen sei, habe die Revision die Fehlerhaftigkeit des Geschäftsverteilungsplans nicht hinreichend vollständig dargelegt. Hier liegt es jedoch anders. Die Revision hat nämlich vorgetragen, dass bereits nach dem Wortlaut des Geschäftsverteilungsplans keine nur vorübergehende Besetzung vorgenommen worden sei. Zudem sei für die Strafkammer 64 seit fünf Jahren kein statusmäßiger Vorsitzender bestellt worden, so dass auch aus diesem Grund kein Fall nur vorübergehender Verhinderung vorgelegen haben könne. Dies reicht zur Zulässigkeit der Verfahrensrüge aus. Wenn auch eine Verfahrensrüge gemäß § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO alle den Mangel enthaltenden Tatsachen so vollständig und genau angeben muss, dass das Revisionsgericht allein aufgrund der Rechtfertigungsschrift prüfen kann, ob ein Verfahrensfehler vorliegt (vgl. BGHSt 27, 216 m.w.N.; BGHSt 3, 213), so bedeutet dies nicht, dass von dem Revisionsführer im Rahmen seiner Begründungspflicht verlangt werden kann, Tatsachen anzugeben, die ihm nicht allgemein oder als Verfahrensbeteiligtem zugänglich sind, sondern die sich - wie hier - aus präsidiumsinternen Vorgängen ergeben (vgl. BGHSt 53, 268; BGHSt 28, 290; OLG Oldenburg StV 2001,159 m.w.N.; OLG Hamm StV 1998, 6 m.w.N.).

2. Die Verfahrensrüge ist nicht nach § 338 Nr. 1 lit. a) bis d) StPO präkludiert. Die Regelungen der §§ 222a, 222b StPO schreiben die Mitteilung der Gerichtsbesetzung und die Erhebung des Besetzungseinwandes vor Beginn der Vernehmung des Angeklagten zur Sache nur bei erstinstanzlichen Hauptverhandlungen vor dem Landgericht oder dem Oberlandesgericht vor. Vorliegend richtet sich die Revision jedoch gegen ein Berufungsurteil des Landgerichts, so dass der Angeklagte die vorschriftswidrige Besetzung erstmals im Revisionsverfahren geltend machen kann.

B) Die Verfahrensrüge ist auch begründet. Die Strafkammer 64 war in der Berufungshauptverhandlung vom 2. Juni 2017 nicht vorschriftsgemäß besetzt (§ 338 Nr. 1 StPO).

Die Regelung des § 338 Nr. 1 StPO sichert das Recht auf den gesetzlichen Richter. Welches Verfahren zur Bestimmung des im Einzelfall berufenen Richters einzuhalten ist und welcher Richter an der Entscheidung mitwirken muss, ist im Gesetz (GVG und DRiG) ausdrücklich geregelt. Bei der Prüfung der Aufstellung und Abänderung der Geschäftsverteilungspläne hat das Revisionsgericht eine umfassende Rechtswidrigkeitsprüfung vorzunehmen (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 60. Auflage, § 338 Rnr. 6 m.w.N.; Franke in Löwe/Rosenberg, StPO 26. Auflage, § 338 Rnr. 18 m.w.N.). Hat das Präsidium bei der Aufstellung oder Abänderung des Geschäftsverteilungsplans gegen die gesetzlichen Einzelregelungen des GVG oder des DRiG verstoßen, so führt dieser inhaltliche Mangel - und zwar nicht nur im Fall objektiver Willkür - zum absoluten Revisionsgrund des § 338 Nr. 1 StPO (vgl. Franke aaO; Gericke in Karlsruher Kommentar, StPO 7. Auflage, § 338 Rnr. 20 m.w.N.; BVerfG NJW 2012, 2334 m.w.N.; BVerfG NJW 2005, 2689; BGH NStZ 2009, 651; OLG Hamm StV 2004, 366 m.w.N.).

Nach § 76 Abs. 1 Satz 1 2. Var. GVG ist die kleine Strafkammer in der Hauptverhandlung mit einem Vorsitzenden und zwei Schöffen besetzt. § 21f Abs. 1 GVG schreibt vor, dass den Vorsitz in den Spruchkörpern bei den Landgerichten - außer dem Präsidenten, der hier außer Betracht bleiben kann - die Vorsitzenden Richter (§ 19a DRiG) führen. Die Vorschrift des § 21f Abs. 1 GVG gilt für alle Kammern, die als ständige Spruchkörper eingerichtet sind, somit auch für die kleinen Strafkammern (vgl. Diemer in Karlsruher Kommentar aaO, § 21f GVG Rnr. 1; OLG Oldenburg aaO). Sie bezweckt, dass nur besonders qualifizierte Richter den Vorsitz in den Spruchkörpern innehaben, die vermöge ihrer besonderen Auswahl, größeren Sachkunde, reiferen Erfahrung und besseren Menschenkenntnis die Qualität und die im Interesse der Rechtssicherheit erforderliche Einheitlichkeit der Rechtsprechung ihres Spruchkörpers in besonderem Maße gewährleisten (vgl. Breidling in Löwe/Rosenberg aaO, § 21f GVG Rnr. 2; BGH NJW 2015, 1685 m.w.N.; BGH NJW 1985, 2337). Zahlreiche Vorschriften von unterschiedlichem Gewicht (§§ 141 Abs. 4, 142 Abs. 1 Satz 2, 147 Abs. 5, 213, 238 Abs. 1, 241a Abs. 1 StPO, §§ 176, 194 Abs. 1 GVG) kennzeichnen äußerlich die Stellung des Vorsitzenden und geben den Rahmen für die besonderen Aufgaben vor, die der Vorsitz mit sich bringt: Die alsbaldige gründliche und zügige Durchführung der Hauptverhandlung, die im Interesse der Verfahrensbeteiligten und der Allgemeinheit liegt, die Beachtung der Prozessvorschriften zur Gewährleistung des „fair trial“, die allseitige Aufklärung des Sachverhalts und der Schutz des Angeklagten - all dies ist zunächst in die Hand des Vorsitzenden gelegt. Voraussetzung dafür sind ein oft umfangreiches Aktenstudium und die Überwindung organisatorischer Schwierigkeiten, wie sie die Gewinnung von geeigneten Sachverständigen und die zeitliche Koordinierung in einem durchdachten Verhandlungsplan darstellen (vgl. BGH NStZ 2009, 471 m.w.N.). Aus diesem Grund darf vom gesetzlichen Leitbild des § 21f Abs. 1 GVG nur unter engen Voraussetzungen abgewichen werden. Eine Ausnahme darf zum einen in Vertretungsfällen (dazu sogleich unter 1.) gemacht werden, wobei die Vertretungsregeln aus den soeben dargelegten Gründen eng auszulegen sind (vgl. BGH NJW 2015, 1685 m.w.N.); zum anderen kann bei einem unabwendbaren, rechtlich begründeten Bedürfnis - wie insbesondere der Eignungserprobung - eine Ausnahme zulässig sein (dazu unter 2.). Keiner dieser Fälle ist hier einschlägig.

1. Die Voraussetzungen für eine Vertretung des Vorsitzenden lagen nicht vor.

Entgegen der Auffassung der Revision richtet sich die Vertretung des Vorsitzenden einer kleinen Strafkammer nicht nach § 21f Abs. 2 GVG, weil die kleine Strafkammer mit keinem anderen ständigen Mitglied der Kammer als dem ordentlichen Vorsitzenden besetzt ist. Es obliegt vielmehr dem Präsidium, nach § 21e Abs. 1 Satz 1 GVG den Vertreter des Vorsitzenden der kleinen Strafkammer im Geschäftsverteilungsplan zu bestimmen. Das Präsidium kann den Vertreter hierbei aus der Zahl der die Voraussetzungen des § 28 Abs. 2 Satz 2 DRiG erfüllenden Mitglieder des Landgerichts bestimmen und ist in seiner Auswahl nicht auf die Vorsitzenden Richter beschränkt (vgl. Breidling aaO, Rnr. 18 m.w.N.; OLG Oldenburg aaO). Die Kriterien, wann ein Vertretungsfall nach § 21f Abs. 2 bzw. § 21e Abs. 1 Satz 1 GVG vorliegt, unterscheiden sich jedoch nicht.

Die Vertretung im Vorsitz nach § 21e Abs. 1 Satz 1 bzw. § 21f Abs. 2 GVG ist nur zulässig, wenn der Vorsitzende Richter an der Führung des Vorsitzes verhindert ist. Verhinderung liegt vor, wenn der Richter aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen außerstande ist, die ihm durch den Geschäftsverteilungsplan zugeteilten Aufgaben wahrzunehmen (vgl. Velten in SK-StPO, 5. Auflage, § 21e GVG Rnr. 34 m.w.N.; Kissel/Mayer, GVG 8. Auflage, § 21e Rnr. 144; Lückemann in Zöller, ZPO 31. Auflage, § 21e GVG Rnr. 39; BGHSt 34, 379). Die Regelungen der §§ 21e Abs. 1 Satz 1, 21f Abs. 2 GVG umfassen nur Fälle der vorübergehenden Verhinderung von der Ausübung des Vorsitzes, die sich in der Regel lediglich über einen gewissen übersehbaren Zeitraum erstreckt. Unzulässig ist demgegenüber die dauernde oder für eine unabsehbare Zeit erfolgende Vertretung des ordentlichen Vorsitzenden (st. Rspr., vgl. BGH NJW 2015, 1685 m.w.N.; BGH NJW 2006, 154 m.w.N.; Breidling aaO, § 21e Rnr. 16 und § 21 f GVG Rnr. 19 m.w.N.; Velten aaO, Rnr. 32 und § 21f GVG Rnr. 5 m.w.N.; Diemer aaO, § 21 e GVG Rnr. 9 m.w.N. und § 21 f GVG Rnr. 3; Kissel aaO, § 21f Rnr. 15 m.w.N.; Lückemann aaO, Rnr. 39-39e). Dass der Gesetzgeber unter Verhinderung grundsätzlich nur die vorübergehende Unmöglichkeit der Wahrnehmung des Vorsitzes versteht, ergibt sich insbesondere aus § 21e Abs. 3 Satz 1 GVG, wonach Anordnungen der Geschäftsverteilung im Laufe des Geschäftsjahres unter anderem nur dann geändert werden dürfen, wenn dies infolge dauernder Verhinderung einzelner Richter nötig wird (vgl. BVerwG NJW 2001, 3493).

Ist der Vorsitz einer Kammer vakant, etwa weil der bisherige Vorsitzende aus dem Spruchkörper infolge Todes, Dienstunfähigkeit, Erreichen der Altersgrenze oder Versetzung in ein anderes Amt ausgeschieden ist, liegt kein Vertretungsfall vor, weil kein ordentlicher Vorsitzender (mehr) vorhanden ist, dem der Geschäftsverteilungsplan die Erfüllung bestimmter Aufgaben zugeteilt hat und der an der Erfüllung dieser Aufgaben lediglich vorübergehend gehindert ist. Vielmehr liegt in diesen Fällen eine dauernde bzw. endgültige Verhinderung vor (vgl. BGH NJW 1985, 2337; BVerwG aaO). In der höchstrichterlichen Rechtsprechung (vgl. BVerfGE 18, 423; BVerfG NJW 1983, 1541; BGH NJW 2015, 1685 m.w.N.; BGH NStZ-RR 2013, 259 m.w.N.; BGHSt 34, 379 m.w.N.; BGH NJW 1985, 2337; BSG NJW 2007, 2717; BSGE 40, 53 m.w.N.; BVerwG aaO; BVerwG NJW 1986, 1366; BFHE 190, 47) besteht jedoch Einigkeit darüber, dass im Fall des endgültigen Ausscheidens eines Vorsitzenden aus dem Spruchkörper bzw. in dem Fall, dass eine neu bewilligte Planstelle noch besetzt werden muss, die Vertretungsregelung des § 21e Abs. 1 Satz 1 bzw. § 21f Abs. 2 GVG entsprechend anzuwenden ist, sofern und solange die Wiederbesetzung lediglich „vorübergehend“ unterbleibt, also einen angemessenen Zeitraum nicht überschreitet. Es ist nicht in allen Fällen und ungeachtet der Dauer der mutmaßlichen Vakanz zu verlangen, dass das Präsidium den frei gewordenen Vorsitz dem Vorsitzenden eines anderen Spruchkörpers zusätzlich überträgt (vgl. BGH NStZ-RR 2013, 259 m.w.N.). Die Bestellung eines Übergangsvorsitzenden, der sich unter Umständen in die betreffenden Rechtsmaterien erst einarbeiten muss, zudem für eine voraussehbar nur kurze Zeitspanne, würde in einem solchen Fall keinen merklichen Gewinn für die Rechtsprechung des Spruchkörpers bieten, weil die Übergangszeit bereits verstrichen sein würde, bevor der Vorsitzende nach Einarbeitung den von ihm erwarteten richtungsweisenden Einfluss auf die Rechtsprechung des Spruchkörpers ausüben und in der seinem Amt entsprechenden Weise durch seine besondere Erfahrung und Qualifikation für die Rechtsprechung des Spruchkörpers bürgen könnte (vgl. BFHE 190, 47 m.w.N.). Wie lange das Präsidium im Falle der nicht nahtlosen Besetzung der Stelle eines Vorsitzenden mit der Entscheidung zuwarten darf, einen anderen Vorsitzenden zusätzlich mit dem vakant gewordenen Vorsitz zu betrauen, lässt sich nicht „allgemeingültig“ und losgelöst vom Grund der Verhinderung beantworten (vgl. BGH NStZ-RR 2013, 259 m.w.N.; BGH NJW 2006, 154 m.w.N.). Allerdings entzieht jede sachfremde, mit der Personalauswahl nicht unvermeidlich verbundene Verzögerung der Wiederbesetzung einer Planstelle der Vertretungsregelung nach § 21e Abs. 1 Satz 1 bzw. § 21f Abs. 2 GVG die Grundlage, so dass der Spruchkörper nicht ordnungsgemäß besetzt ist (vgl. BGH NJW 2015, 1685; BGH NJW 1985, 2337).

Vorliegend bedarf die Frage, unter welchen konkreten Umständen über welchen konkreten Zeitraum hinweg noch von einer lediglich vorübergehenden Verhinderung ausgegangen werden kann, keiner weiteren Erörterung. Ein Vertretungsfall lag hier offensichtlich nicht vor. Zwar hat die Vorsitzende des Präsidiums ausgeführt, RiAG W und seine in den letzten Jahren tätigen Vorgänger seien als „Vertreter des Vorsitzenden“ eingesetzt worden. Welcher Vorsitzende vertreten werden sollte und weshalb dieser die ihm zugeteilten Aufgaben nicht wahrnehmen konnte, bzw. aus welchen Gründen eine lediglich vorübergehende Vakanz im Vorsitz bestanden haben sollte, bleibt jedoch offen. Es ist nicht ersichtlich, dass RiAG W tatsächlich einen nicht ausdrücklich genannten Vorsitzenden aus dem Kreis der vorhandenen Vorsitzenden Richter oder einen noch zu ernennenden neuen Vorsitzenden Richter vertreten sollte. Auch der Geschäftsverteilungsplan enthielt keinen Hinweis auf eine vertretungsweise Übertragung der Aufgaben des Vorsitzenden. Vielmehr deuten die Mitteilung, die Strafkammer 64 habe seit Jahren „unter anderem auch als Ausbildungs- und Erprobungskammer“ gedient (wobei offen bleibt, was mit „unter anderem auch“ gemeint ist), sowie der Umstand, dass die Kammer seit rund fünf Jahren nicht mehr mit einem statusmäßigen Vorsitzenden besetzt war und ein Hinweis auf eine vertretungsweise Übertragung des Vorsitzes im Geschäftsverteilungsplan fehlte, darauf hin, dass nicht beabsichtigt war, die Kammer in absehbarer Zeit mit einem Vorsitzenden Richter zu besetzen.

2. Nach Auffassung des Senats sind die Grundsätze, die für Abordnung von Richtern an obere Gerichte gelten, auch anwendbar, wenn es darum geht, Richter, die die Voraussetzungen des § 28 Abs. 2 Satz 2 DRiG erfüllen, innerhalb eines Gerichts mit einem höherwertigen Amt zu betrauen, nämlich dem eines Vorsitzenden einer kleinen Strafkammer.

a) In der höchstrichterlichen Rechtsprechung (vgl. BVerfG NJW 1998, 1053; BVerfG DtZ 1996, 175; BVerfG DRiZ 1971, 27; BVerfGE 14, 156; BGH MDR 2005, 1197; BGH NJW 1985, 2336 m.w.N.) ist anerkannt, dass es ausnahmsweise zulässig sein kann, an einem Gericht auch Hilfsrichter (Richter, die an dem Gericht, an dem sie richterliche Geschäfte erledigen, nicht planmäßig angestellt sind) einzusetzen. Insbesondere ist es zulässig, planmäßige Richter unterer Gerichte an obere Gerichte abzuordnen, wenn hierfür ein unabwendbares Bedürfnis besteht. Einem solchen Einsatz sind jedoch enge Grenzen gesetzt, weil die persönliche Unabhängigkeit bei Hilfsrichtern nicht gewährleistet ist. Jede Mitwirkung von Hilfsrichtern kann die Unabhängigkeit des Spruchkörpers, dem sie angehören, gefährden. Der nicht in seiner persönlichen Unabhängigkeit gesicherte Hilfsrichter ist daher nur als Ausnahme und nur aus zwingenden Gründen zur Mitwirkung an der Rechtsprechung zuzulassen (vgl. BGH jeweils aaO). Als solche zwingenden Gründe sind beispielsweise anerkannt worden, dass Richter abgeordnet werden, um ihre Eignung zu erproben, um planmäßige Richter zu vertreten, deren Arbeit von den im Geschäftsverteilungsplan bestimmten Vertretern neben den eigenen Aufgaben nicht bewältigt werden kann, oder um einen zeitweilig außergewöhnlichen Arbeitsanfall aufzuarbeiten. Aber auch in solchen Fällen wäre die Verwendung von Hilfsrichtern nicht gerechtfertigt, wenn die Arbeitslast des Gerichts deshalb nicht bewältigt werden kann, weil es unzureichend mit Planstellen ausgestattet ist, oder weil die Justizverwaltung es verabsäumt hat, offene Planstellen binnen angemessener Frist zu besetzen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 22. Juni 2006 - 2 BvR 957/05 - [juris] m.w.N.; BVerfGE 14, 156).

Die Notwendigkeit, Nachwuchs heranzubilden oder Beurteilungsgrundlagen für ein richterliches Beförderungsamt zu schaffen, ist somit ein zwingender Grund, der die Heranziehung auch solcher Richter an ein Gericht erlaubt, die nicht planmäßige Richter dieses Gerichts sind (vgl. BVerfG, Beschluss vom 22. Juni 2006 - 2 BvR 957/05 - [juris] m.w.N.; BVerfG NJW 1998, 1053; BVerfG DtZ 1996,175; BVerfG DRiZ 1971, 27; BGH MDR 2005, 1197 m.w.N.).

Die Durchführung der Erprobung eines Lebenszeitrichters ist mit der richterlichen Unabhängigkeit vereinbar. In seinen Entscheidungsentwürfen und seiner richterlichen Tätigkeit innerhalb des Kollegialorgans ist der Richter weisungsfrei. Von ihm ist gerade beim Erstreben eines Beförderungsamtes zu erwarten, dass er sich eventuellen sachwidrigen Beeinflussungsversuchen widersetzt und seine richterlichen Entscheidungen nicht vom angestrebten Ziel - der Beförderung - abhängig macht. Eine sachgerechte Beurteilung des zur Erprobung an das Oberlandesgericht abgeordneten Richters wird gerade auch diesen Aspekt, dass der Richter selbst seine Unabhängigkeit wahrt, positiv hervorheben (vgl. BVerfG, Beschluss vom 22. Juni 2006 - 2 BvR 957/05 - [juris]).

Das Verfassungsprinzip der persönlichen Unabhängigkeit der Richter und der Rechtsprechungsorgane gebietet es jedoch, die Zahl der Hilfsrichter, die (zur Erprobung) beim Oberlandesgericht eingesetzt werden, so klein wie möglich zu halten und ihren Anteil an der Zahl aller Richter eines Gerichtszweigs nicht über das dringend gebotene Maß hinaus anwachsen zu lassen (vgl. BVerfG aaO; BVerfG DRiZ 1971, 27; BVerfGE 14, 156). Liegt ein Ausnahmefall, der die Mitwirkung eines Hilfsrichters zwingend erforderlich macht, nicht (mehr) vor, beispielsweise weil die Erprobung abgeschlossen und der Richter für eine Beförderung als geeignet befunden, jedoch aus haushaltsrechtlichen Gründen (noch) nicht befördert wurde (vgl. BGH NJW 1985, 2336), ist der Spruchkörper nicht (mehr) ordnungsgemäß besetzt.

b) Die Interessen- und auch die Konfliktlage bei der Abordnung eines Richters an ein höheres Gericht sind mit denjenigen beim Einsatz innerhalb desselben Gerichts in einem höherwertigen Amt vergleichbar. Für eine Verwendung in einer kleinen Strafkammer kann es ebenfalls ein unabwendbares Bedürfnis geben (dazu sogleich unter aa) und auch die - für einen überschaubaren Zeitraum hinnehmbare - Beeinträchtigung der persönlichen Unabhängigkeit ist ebenfalls vergleichbar (dazu unter bb).

aa) Nach Auffassung des Senats kann es für den zeitlich befristeten Einsatz eines Lebenszeitrichters als Vorsitzenden einer kleinen Strafkammer ein unabwendbares Bedürfnis geben. Ein solches besteht vor allem dann, wenn Richter einer Eignungserprobung unterzogen werden sollen. Es ist nicht ersichtlich, weshalb ein Richter seine Eignung ausschließlich im Rahmen einer obergerichtlichen Erprobung oder außerhalb der Aufgaben der Rechtsprechung in der Verwaltung unter Beweis stellen können sollte. Die oben dargestellten Anforderungen an den Vorsitzenden, die mit der Leitung einer Strafkammer verbunden sind, unterscheiden sich teilweise von denen, die an einen Richter am Oberlandesgericht bzw. an einen in der Verwaltung tätigen Richter zu stellen sind. Gerade bei Richtern, die beabsichtigen, sich für das Amt eines Vorsitzenden Richters am Landgericht zu bewerben, können die Beurteilungsgrundlagen für eine Beförderung unter Umständen besser durch den Einsatz in einer kleinen Strafkammer geschaffen werden. Hier kann der Richter beispielsweise unter Beweis stellen, ob er in der Lage ist, organisatorische Schwierigkeiten zu bewältigen und eine Hauptverhandlung gründlich und zügig unter Beachtung der Prozessvorschriften durchzuführen.

bb) Auch als Vorsitzender einer kleinen Strafkammer ist der Richter in seinen Entscheidungen und seiner richterlichen Tätigkeit weisungsfrei. Außerhalb der Hauptverhandlung entscheidet er sogar allein (§ 76 Abs. 1 GVG). Dies führt einerseits dazu, dass die Gefahr der unsachgerechten Beeinflussung durch andere Mitglieder des Spruchkörpers nicht besteht, andererseits bietet ein Kollegialorgan bei möglichen Beeinflussungsversuchen von außen auch einen gewissen Schutz, weil der Richter die Entscheidungen des Spruchkörpers nicht allein zu verantworten hat und (bis auf die Fälle, in denen eine einstimmige Entscheidung erforderlich ist) auch durch das Beratungsgeheimnis geschützt ist. Vor dem Hintergrund, dass auch Rechtsanwälte im Richterwahlausschuss vertreten sind und somit über die spätere Beförderung des zu erprobenden Richters mitentscheiden, verkennt der Senat nicht, dass es für den in der Erprobung in einer kleinen Strafkammer eingesetzten Richter mit einer besonderen Herausforderung verbunden sein kann, sich dem Ansinnen von Verteidigern zu widersetzen, die (offen oder subtil) auf ihre guten Kontakte zu im Richterwahlausschuss vertretenen Rechtsanwälten hinweisen. Von einem Richter, der ein Beförderungsamt anstrebt, kann jedoch erwartet werden, dass er sich derart sachwidrigen Beeinflussungsversuchen widersetzt und diese erforderlichenfalls auch offenlegt.

cc) Für eine Übertragung der Grundsätze, die für die Abordnung eines Richters an ein höheres Gericht gelten, auf den Einsatz eines Richters innerhalb desselben Gerichts in einem höherwertigen Amt spricht auch, dass in der obergerichtlichen Rechtsprechung anerkannt ist, dass Richter, die die Voraussetzungen des § 28 Abs. 2 Satz 2 DRiG erfüllen, auch den Vorsitz einer Hilfsstrafkammer übernehmen dürfen (vgl. BGHSt 31, 389 m.w.N.; Breidling aaO, § 21f Rnr. 12 m.w.N.; Velten aaO, § 21f Rnr. 3 m.w.N.). Auch wenn die Regelung des § 21f GVG nur für Kammern gilt, die als ständige Spruchkörper eingerichtet sind, so ist es der Rechtsordnung jedenfalls nicht fremd, dass in Fällen, in denen ein unabwendbares Bedürfnis hierfür besteht, der Vorsitz in einer Strafkammer für eine begrenzte Dauer nicht von einem Vorsitzenden Richter geführt wird.

c) Der Senat hält daher in der Gesamtschau die im Land Berlin in früheren Jahren geübte Praxis für zulässig, Richtern neben der ausschließlich obergerichtlichen neunmonatigen Erprobung auch die Möglichkeit der sog. Kombinationserprobung (sechsmonatiger Einsatz in einer kleinen Strafkammer und anschließende/vorherige sechsmonatige Abordnung an einen Strafsenat des Kammergerichts) zu eröffnen.

Allerdings müssen für die sog. Kombinationserprobung dieselben Maßstäbe gelten wie für die ausschließlich obergerichtliche Erprobung. Danach ist die Zahl der Richter, die zu Erprobungszwecken eingesetzt werden, so klein wie möglich zu halten und ihr Anteil darf, gemessen an der Zahl aller Vorsitzenden der kleinen Strafkammern des Landgerichts, nicht über das dringend gebotene Maß hinaus anwachsen. Der Einsatz eines Richters in einer kleinen Strafkammer darf ebenso wie seine Abordnung an ein höheres Gericht (vgl. § 37 Abs. 1 und 2 DRiG) nur mit seiner Zustimmung für eine bestimmte zuvor festgelegte Zeit und zum im Voraus festgelegten Zweck der Erprobung (vgl. Abschnitt A. Nr. 2 letzter Satz ErprobungsAV [ABl. Bln. 2007, 3206]) erfolgen. Die Auswahl des Richters ist nach den allgemeinen Erprobungsrichtlinien (vgl. Abschnitt B. Nr. 1 bis 3 ErprobungsAV) vorzunehmen. Ebenso wenig, wie das Präsidium des Landgerichts berechtigt ist, darüber zu entscheiden, welche Richter befördert bzw. an das Land- oder Kammergericht abgeordnet werden, liegt es in seiner Kompetenz darüber zu entscheiden, welchen Richtern die Chance auf eine Erprobung eröffnet bzw. versagt wird. Die Aufgabe des Präsidiums ist darauf beschränkt, die anfallenden Geschäfte des Vorsitzes der Strafkammern unter den hierfür zur Verfügung stehenden Richtern - somit den Vorsitzenden Richtern und denen, die nach dem festgelegten Auswahlverfahren (vgl. Abschnitt B. Nr. 3 ErprobungsAV) zur Erprobung ausgewählt wurden - zu verteilen.

d) Vorliegend gab es keine zwingenden Gründe für den Einsatz von RiAG W als Vorsitzenden der Strafkammer 64.

Seine Verwendung erfolgte insbesondere nicht zum Zweck der Erprobung im Rahmen eines den soeben dargelegten Bedingungen entsprechenden Erprobungsverfahrens, denn zum Zeitpunkt seines Einsatzes in der Strafkammer 64 hatte er (ebenso wie seine Vorgängerin) seine obergerichtliche Erprobung bereits erfolgreich abgeschlossen.

Die von der Vorsitzenden des Präsidiums angeführte „individuelle Personalentwicklung“ ist kein zwingender Grund für die Verwendung eines Richters außerhalb seines Statusamts und somit ohne Gewährleistung seiner persönlichen Unabhängigkeit. Individuelle Personalentwicklung kann und muss durch den Einsatz auf verschiedenen gleichwertigen Arbeitsgebieten betrieben werden (vgl. Abschnitt IV.6 des Rahmenkonzepts zur Personalentwicklung betreffend die Richterinnen und Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit, der Verwaltungsgerichtsbarkeit und des Sozialgerichts sowie die Staatsanwältinnen und Staatsanwälte i.V.m. § 6 Abs. 2 VGG).

C) Da die Revision bereits mit der Verfahrensrüge durchdringt, bedarf es eines Eingehens auf die Sachrüge nicht. Das Urteil war ohne weitere Prüfung aufzuheben.

D) Der Senat hebt das angefochtene Urteil nach § 349 Abs. 4 StPO mit den zugehörigen Feststellungen auf und verweist die Sache nach § 354 Abs. 2 Satz 1 StPO zu neuer Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten der Revision - an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurück.


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