Gericht / Entscheidungsdatum: LG Frankfurt am Main, Beschl. v. 09.11.2017 - 5/12 KLs 14/17
Leitsatz: Eine von einem Verteidiger gefertigte Verteidigungsunterlage ist auch dann beschlagnahmefrei, wenn der Verteidiger den Gewahrsam an dem betreffenden Schriftstück versehentlich verloren hat.
In pp,
Der Beschlagnahmebeschluss des Amtsgerichts Frankfurt am Main vom 6.10.2017 wird aufgehoben. Das mit diesem Beschluss beschlagnahmte Schriftstück ist an den Verteidiger des Angeschuldigten M, Rechtsanwalt K, herauszugeben.
Gründe
I.
Gegen die Angeschuldigten wurde wegen des Verdachts des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge ermittelt. Im September 2017 reichte der Verteidiger des Angeschuldigten M die Ermittlungsakten nach ihm gewährter Akteneinsicht zurück. Den Akten und dem Rücksendeschriftsatz lag ein Schriftstück bei, bei dem es sich laut Auskunft des Verteidigers um handschriftliche Notizen handelt, die sich der Verteidiger während eines Gesprächs mit dem Mandanten gemacht habe. Das Schriftstück sei versehentlich beigefügt gewesen. In Kenntnis dieser Umstände beantragte die Staatsanwaltschaft die Beschlagnahme des Schriftstücks und berief sich dabei auf den Wortlaut des § 97 StPO. Mit Beschluss vom 6.10.2017 ordnete der Ermittlungsrichter beim Amtsgericht Frankfurt am Main die Beschlagnahme des Schriftstücks an. Hiergegen richtet sich die vom Verteidiger des Angeschuldigten M unter dem 11.10.2017 eingelegte Beschwerde. Ebenfalls am 11.10.2017 wurde Anklage zum Landgericht Frankfurt am Main - große Strafkammer - erhoben.
II.
Die Beschwerde des Angeschuldigten ist angesichts der mittlerweile erhobenen Anklage zum Landgericht gemäß § 162 Abs. 3 StPO in einen Antrag auf neue Entscheidung durch das erkennende Gericht umzudeuten (KK-StPO/Griesbaum, 7. Aufl. 2013, § 162 Rdnr. 20). Dieser Antrag ist, da die Beschlagnahmeentscheidung abänderbar ist, zulässig. Das Aufhebungsbegehren ist auch unabhängig davon, ob es im Namen des Angeschuldigten (was hier näher liegt) oder im Namen des Verteidigers selbst eingelegt wurde, statthaft, weil beide antragsbefugt sind.
Im Rahmen der neuen Sachentscheidung des jetzt zuständigen Landgerichts war die vom Amtsgericht angeordnete Beschlagnahme aufzuheben. Die Beschlagnahmevoraussetzungen liegen nicht vor.
Eine von einem Verteidiger gefertigte Verteidigungsunterlage ist auch dann beschlagnahmefrei, wenn der Verteidiger den Gewahrsam an dem betreffenden Schriftstück versehentlich verloren hat. Das folgt aus § 148 StPO i. V. m. den verfassungsrechtlichen Anforderungen an ein faires Strafverfahren, die auf Art. 2 Abs. 1, 20 Abs. 3 GG bzw. Art. 6 Abs. 3 EMRK fußen.
Zwar ist der Staatsanwaltschaft und dem Amtsgericht zuzugestehen, dass sich ein Beschlagnahmeverbot nicht auf den Wortlaut des § 97 StPO stützen lässt. Der Wortlaut dieser Vorschrift scheint vielmehr für die angegriffene Entscheidung des Amtsgerichts zu streiten. Denn in § 97 Abs. 2 Satz 1 StPO ist ausdrücklich geregelt, dass das dort normierte Beschlagnahmeverbot nur dann gilt, wenn sich der Gegenstand im Gewahrsam der zur Verweigerung des Zeugnis Berechtigten befindet. Dementsprechend wird in der Kommentarliteratur jedenfalls außerhalb des Bereichs der Verteidigerunterlagen vorherrschend die Auffassung vertreten, dass die Beschlagnahmefreiheit grundsätzlich auch dann endet, wenn der Berufsgeheimnisträger den Gewahrsam an den Unterlagen unfreiwillig verliert (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 60. Aufl. 2017, § 97 Rdnr. 13 m. w. N.; KK-StPO/Greven a. a. O. § 97 Rdnr. 8; LR-Menges, 26. Aufl. 2017, § 97 Rdnr. 9; MüKo-StPO/Hauschild, 1. Aufl. 2014, § 97 Rdnr. 19). Auf diese Auffassung stützt sich die angefochtene Entscheidung. In einem (ebenfalls Verteidigerunterlagen betreffenden) Urteil vom 15.12.1976 hat der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs unter Bezug auf Meyer-Goßner a. a. O. (ohne nähere Darlegungen in der Sache) bemerkt, dass viel dafür sprechen "mag", dass die Beschlagnahmefreiheit des § 97 StPO auch bei unfreiwilligem Gewahrsamsverlust ende. Er hat diese Frage aber letztlich ausdrücklich offen gelassen (BGH 3 StR 432/76 Rdnr. 17).
Ob § 97 StPO insoweit insgesamt für alle Berufsgeheimnisträger verfassungskonform zu reduzieren ist, wie dies in der Literatur vereinzelt verlangt wird (Nachweise bei Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, a. a. O.), bedarf vorliegend keiner Entscheidung. Jedenfalls für Verteidigungsunterlagen sind zusätzlich der später in Kraft getretene § 148 StPO und verfassungsrechtliche Grundsätze heranzuziehen (so auch Meyer-Goßner/Schmitt a. a. O. Rdnr. 37; LR-Menges a. a. O. Rdnr. 105). Der verfassungsrechtlich durch Art. 2 Abs. 1, 20 Abs. 3 GG und Art. 6 Abs. 3 EMRK abgesicherte Grundsatz des fairen Verfahrens gebietet einen ungehinderten Verkehr zwischen Verteidiger und Beschuldigtem zum Zwecke der Verteidigung. Der Verkehr zwischen dem Verteidiger und dem Beschuldigten gehört zu den unabdingbaren Voraussetzungen der Verteidigung und ist grundsätzlich von jeder Behinderung und Erschwerung freizustellen. Mit Blick auf die Bedeutung dieses aus der Verfassung abgeleiteten Grundsatzes ist die Beschlagnahmefreiheit jedenfalls von Verteidigungsunterlagen in weit größerem Umfang anerkannt als es dem Wortlaut des § 97 StPO entspricht. So ist anerkannt, dass Verteidigungsunterlagen - im Widerspruch zum Wortlaut des § 97 StPO - auch dann beschlagnahmefrei sind, wenn sie sich auf dem Postweg befinden (BGH NJW 1990, 722 [BGH 13.11.1989 - I BGs 351/89]; Meyer-Goßner/Schmitt, a. a. O. Rdnr. 37; LR-Menges a. a. O. Rdnr. 105; MüKo-StPO/Hauschild, a. a. O. Rdnr. 31; SK-StPO/Wohlers/Greco, 5. Aufl. 2016, Rdnr. 87; jeweils m. w. N.). Ebenso ist anerkannt, dass Verteidigungsunterlagen auch dann beschlagnahmefrei sind, wenn sie sich nicht im Gewahrsam des Verteidigers, sondern im Gewahrsam des Beschuldigten befinden (BGH NJW 1973, 2035; 1982, 2508 [BGH 24.03.1982 - 3 StR 28/82 (S)]; Meyer-Goßner/Schmitt, a. a. O. Rdnr. 37; MüKo-StPO/Hauschild, Rdnr. 31; jeweils m. w. N.). (Das wird - ebenfalls aus verfassungsrechtlichen Gründen - weitgehend einhellig sogar auf Unterlagen ausgeweitet, die nicht vom Verteidiger angefertigt wurden, sondern die der Beschuldigte selbst zum Zwecke seiner Verteidigung angefertigt hat; BVerfG 2 BvR 2248/00 vom 30.1.2002 NJW 2002, 1410; BGHSt 44,46; OLG München NStZ 2006, 300; BT-Drucks. 16/5846, S. 35; Meyer-Goßner/Schmitt, a. a. O. Rdnr. 37; KK-StPO/Greven a. a. O. Rdnr.24; LR-Menges a. a. O. Rdnr. 107f; MüKo-Hauschild a. a. O. Rdnr. 31; SK-StPO/Wohlers/Greco a. a. O. Rdnr. 88; jeweils m. w. N.).
Von einer verbreiteten Literaturmeinung wird deshalb ausdrücklich die Auffassung vertreten, dass das Gewahrsamserfordernis für Verteidigungsunterlagen keine Bedeutung hat (so ausdrücklich SK-StPO/Wohlers/Greco a. a. O. Rdnr. 15, 87 und SSW-StPO/Eschelbach § 97 Rdnr. 21, vgl. auch KK-StPO/Greven, a. a. O. § 97 Rdnr. 24). Dieser Literaturauffassung dürfte aus den genannten verfassungsrechtlichen Gründen zu folgen sein. Jedenfalls sind die von Verfassungs wegen gebotenen Erweiterungen der Beschlagnahmefreiheit für Verteidigungsunterlagen auf die vorliegende Konstellation zu erstrecken.
Denn es würde der verfassungsrechtlichen Bedeutung des Rechts auf ungehinderten Verkehr mit dem Verteidiger nicht gerecht, wenn ein Beschuldigter die Sorge haben müsste, dass schriftliche Aufzeichnungen, die von seinen Angaben gegenüber dem Verteidiger gemacht werden, dann nicht mehr beschlagnahmefrei wären, wenn sie versehentlich aus dem Gewahrsam seines Verteidigers oder aus seinem eigenen Gewahrsam gelangen. Der Beschuldigte muss vielmehr darauf vertrauen dürfen, dass zum Zweck der Verteidigung angefertigte Unterlagen umfassenden Beschlagnahmeschutz genießen, nicht nur dann, wenn sie sich bei ihm, dem Verteidiger oder auf dem Postweg befinden, sondern auch dann, wenn sie etwa entwendet werden oder versehentlich außer Kontrolle geraten. Selbst dann, wenn man (entgegen SK-StPO/Wohlers/Greco und SSW-StPO/Eschelbach a. a. O.) bei Verteidigungsunterlagen nicht gänzlich auf das in § 97 StPO geregelte Gewahrsamserfordernis verzichten wollte, sondern eher darauf abstellt, dass eine verfassungskonforme Auslegung des § 148 StPO eine Ausweitung des Beschlagnahmeverbots jedenfalls dort gebietet, wo das Geheimhaltungsinteresse des Beschuldigten das Strafverfolgungsinteresse des Staates eindeutig überwiegt (vgl. dazu etwa KK-StPO/Greven a. a. O. Rdnr. 23 m. w. N.), liegt hier aus den oben genannten Gründen ein Fall des Beschlagnahmeverbots vor. Jedenfalls in einem Fall wie dem vorliegenden überwiegt zweifelsfrei das legitime Geheimhaltungsinteresse des Beschuldigten. Der Beschuldigte muss nämlich auch im Falle eines Missgeschicks in seiner Verteidigungsfreiheit umfassend geschützt sein, das auch einem sorgfältigen Verteidiger im Einzelfall gerade bei einem Massengeschäft wie der Rücksendung von Akten einmal unterlaufen kann und für das im Übrigen jedenfalls den Beschuldigten selbst keinerlei Mitverantwortung trifft. Demgegenüber ist ein spezifisches, über die allgemeine Aufklärungspflicht hinausgehendes Aufklärungsinteresse des Staates, das es rechtfertigen könnte, dermaßen massiv in Verteidigungsunterlagen einzugreifen, hier nicht erkennbar.
Dieses Abwägungsergebnis gilt jedenfalls für vom Verteidiger selbst im Rahmen eines Mandantengesprächs gefertigte Aufzeichnungen. Ob etwas anderes etwa bei Urkunden zu gelten hätte, die dem Verteidiger zum Zwecke der Verteidigung übersandt (vgl. dazu MüKo- StPO/Hauschild a. a. O. Rdnr. 32) und von ihm später versehentlich herausgegeben wurden, bedarf im vorliegenden Fall keiner Entscheidung.
Vorliegend hat die Kammer aufgrund des übereinstimmenden Vortrags von Staatsanwaltschaft und Verteidigung keinen Zweifel daran, dass es sich bei dem hier sichergestellten Schriftstück tatsächlich um Aufzeichnungen handelt, die der Verteidiger während eines Mandantengesprächs gefertigt hat.
Einsender: RA O. Garcia
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