Gericht / Entscheidungsdatum: OLG Karlsruhe, Beschl. v. 14.10.2016 - 3 Ws 684/16
Leitsatz: Das Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren vom 24.11.2011 (BGBl I 2302) gewährt zwar einen Ausgleich für rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerungen, entbindet aber den Gesetzgeber nicht von seiner Pflicht, rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerungen mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln schon in der Entstehung zu verhindern. Es stellt einen Verstoß gegen das Verfassungsgebot einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege dar, wenn rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerungen in Nichthaftsachen immer mehr unter Anwendung der sog. Vollstreckungslösung als scheinbar nicht zu vermeidender Nachteil Akzeptanz finden und sich nicht mehr nur auf besondere bzw. außergewöhnliche Umstände zurückzuführende Einzelfälle beschränken. Deshalb müssen auch Jugendstrafverfahren und Jugendschutzsachen, die keine Haftsachen sind, zügig terminiert und abgeschlossen werden können.
In pp.
Die Untersuchungshaft des Angeschuldigten hat fortzudauern.
Die weitere Haftprüfung wird für die Dauer von drei Monaten dem Landgericht R. - Große Jugendkammer - übertragen.
Gründe
Der am 3.4.2016 vorläufig festgenommene Angeschuldigte befindet sich auf Grund Haftbefehls des Amtsgerichts R. vom 4.4.2016 seit diesem Tage in Untersuchungshaft. Das nach Anklageerhebung mit der Sache befasste Landgericht R. hat mit Beschluss vom 21.9.2016 den Haftbefehl aufrecht und in Vollzug gehalten. Die Generalstaatsanwaltschaft trägt auf die Anordnung der Haftfortdauer an. Der Verteidiger des Angeschuldigten hat mit Schriftsatz vom 29.9.2016 die Aufhebung des Haftbefehls, hilfsweise dessen Außervollzugsetzung beantragt.
Die nach § 121 Abs. 1 StPO gebotene besondere Haftprüfung durch den Senat führt zur Anordnung der Fortdauer der Untersuchungshaft.
Dringender Tatverdacht hinsichtlich des Tatvorwurfs besteht nach Maßgabe der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft R. vom 5.7.2016 auf Grund der dort angegebenen Beweismittel, insbesondere der Aussagen der Zeugen A, B, C und D. sowie den Feststellungen im rechtsmedizinischen Gutachten vom 15.6.2016 (betreffend die körperliche Untersuchung des Geschädigten E.), deren vorläufiger Bewertung im "Wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen" der Senat beitritt.
Als Haftgrund besteht Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO). Der Angeschuldigte, der die marokkanische Staatsangehörigkeit besitzt, hat im Falle einer Verurteilung wegen der ihm vorgeworfenen Tat mit einer erheblichen Jugendstrafe zu rechnen. Dem aus dieser Straferwartung resultierenden natürlichen Fluchtanreiz stehen Umstände von fluchthinderndem Gewicht nicht entgegen. Der 16 Jahre alte Angeschuldigte, der nach eigenen Angaben (gegenüber der Jugendgerichtshilfe im Januar 2016 im Rahmen eines früheren Strafverfahrens) fast täglich Marihuana konsumiert haben will, lebte seit seiner Einreise im Januar 2015 bis zu seiner Festnahme in vorliegender Sache als unbegleiteter minderjähriger Flüchtling im Kinderheim in R. und kann sich nur schwer alleine verständigen. Aufgrund dieser Umstände und im Hinblick auf die dem Angeschuldigten vorgeworfene Tat kommen andere Maßnahmen, insbesondere die einstweilige Unterbringung in einem Heim der Jugendhilfe, ebenso wie minder schwere Maßnahmen nach § 116 StPO nicht in Betracht. Ohne den Vollzug der Untersuchungshaft steht zu befürchten, dass sich der Angeschuldigte dem Verfahren durch Flucht oder Untertauchen entziehen wird.
Auch die besonderen Haftvoraussetzungen des § 121 Abs. 1 StPO sind gegeben. Ein wichtiger Grund im Sinne dieser Vorschrift hat ein Urteil bisher nicht zugelassen und rechtfertigt die weitere Fortdauer der Untersuchungshaft.
a) Die kriminalpolizeilichen Ermittlungen wurden - wie der Senat im Einzelnen geprüft hat - mit der in Haftsachen gebotenen Beschleunigung geführt. Nach Eröffnung des Haftbefehls und Beiordnung von Rechtsanwalt F. als Verteidiger wurden die Zeugen G., H. und I. nachvernommen. Am 11.4.2016 erteilte die Staatsanwaltschaft den Auftrag, ein rechtsmedizinisches Gutachten u.a. zu der Art und Schwere der Verletzungen des Geschädigten und des Angeschuldigten sowie der Wucht und Kraftentfaltung bei den dem Geschädigten zugefügten Stichverletzungen einzuholen. Am 12.5.2016 teilte der Verteidiger nach Rücksprache mit dem Angeschuldigten mit, dass derzeit keine Stellungnahme abgegeben werde. Am 30.6.2016 gingen die rechtsmedizinischen Gutachten vom 15. (betreffend den Geschädigten) und 16.6.2016 (betreffend den Angeschuldigten) bei der Staatsanwaltschaft ein. Die Staatsanwaltschaft R. schloss mit Verfügung vom 5.7.2016 die Ermittlungen ab und erhob am 11.7.2016 Anklage zum Landgericht R.. Zuvor gab die Staatsanwaltschaft noch eine Nachuntersuchung im Hinblick darauf in Auftrag, dass die rechtsmedizinische Sachverständige in ihrem Gutachten vom 15.6.2016 ausgeführt hatte, durch eine forensisch-radiologische Nachbefundung klinischer Bilddateien könne geprüft werden, ob durch das Auftreffen und Abbrechen der Messerklinge eine radiologisch erkennbare Knochenscharte entstanden sei. Die Strafkammervorsitzende verfügte am 12.7.2016 die Übersetzung und Zustellung der Anklageschrift unter Gewährung einer Erklärungsfrist von vier Wochen. Am selben Tag sprach die Strafkammervorsitzende mit dem Verteidiger zunächst Hauptverhandlungstermine auf den 13.1.2017 und fünf Folgetage im Februar 2017 ab. Die übersetzte Anklageschrift wurde am 18.7.2016 an den Angeschuldigten abgesandt. Am 27.7.2016 gelangte der molekulargenetische Untersuchungsbericht vom 25.7.2016 (bezüglich des Fahrtenmessers und des abgebrochenen Messergriffs) zu den Akten. Die forensisch-radiologische Nachbefundung bezüglich einer eventuell feststellbaren Knochenscharte wurde am 1.9.2016 zu den Akten gereicht.
Mit Beschluss vom 21.9.2016 hielt die Strafkammer den Haftbefehl des Amtsgerichts R. vom 4.4.2016 aufrecht und legte die Akten dem Oberlandesgericht zur Haftprüfung vor. Sie führt aus, eine frühere Terminierung sei im Hinblick auf näher aufgeführte Haftsachen sowie Jugend- und Jugendschutzsachen nicht möglich gewesen. Mit Schriftsatz vom 29.9.2016 rügte der Verteidiger die Verletzung des Beschleunigungsgrundsatzes. Seit Übersetzung der Anklageschrift habe eine Förderung des Verfahrens nicht mehr stattgefunden; auch ein Eröffnungsbeschluss liege noch nicht vor. Grund hierfür sei die Auslastung der Jugendkammer; so könne beispielsweise ein weiteres von ihm bearbeitetes Verfahren bei der Jugendkammer, welches ebenfalls Mitte 2016 angeklagt worden sei, wegen der Vorrangigkeit von Haftsachen erst Mitte 2017 vor der Jugendkammer terminiert werden. Nach Übermittlung des Verteidigerschriftsatzes an die Strafkammervorsitzende teilte diese am 5.10.2016 mit, dass nach Erledigung einer und Verlegung einer anderen Jugendschutzsache nunmehr verbindlich Hauptverhandlungstage auf den 21., 25., 28. und 29.11.2016 mit dem Verteidiger vereinbart worden seien.
Hieraus ergibt sich, dass auch das gerichtliche Verfahren noch mit der in Haftsachen gebotenen Beschleunigung geführt wurde und in Verbindung mit dem staatsanwaltlichen Ermittlungsverfahren ein Urteil vor Ablauf von sechs Monaten Untersuchungshaft nicht zugelassen hat. Allerdings kann nicht übersehen werden, dass, obwohl die Sache seit spätestens Mitte September 2016 (nach Abwicklung des Urlaubs der Kammermitglieder) entscheidungsreif war (Ablauf der gerichtlichen gesetzten Erklärungsfrist war Mitte August 2016), bisher noch nicht über die Eröffnung des Hauptverfahrens entschieden wurde. Die Strafgerichte haben nämlich - im Hinblick auf die Geltung des Beschleunigungsgrundsatzes auch für das Zwischenverfahren (BVerfG, B. v. 4.5.2011 - 2 BvR 2781/10 - bei Juris [Rdn. 14ff.]) - im Falle der Entscheidungsreife über die Zulassung der Anklage zur Hauptverhandlung zu beschließen und anschließend im Regelfall innerhalb von weiteren drei Monaten mit der Hauptverhandlung zu beginnen. Da vorliegend nunmehr jedoch Termine für die Hauptverhandlung in der zweiten Novemberhälfte 2016 (somit etwas mehr als zwei Monate nach der möglichen Eröffnungsentscheidung) abgesprochen wurden, ist das Beschleunigungsgebot - auch unter Beachtung des § 72 Abs. 5 JGG - noch nicht verletzt.
b) Der dargestellte - ein Urteil vor Ablauf der Sechs-Monats-Frist nicht zulassende - Umfang der Ermittlungen stellt einen wichtigen Grund dar und rechtfertigt auch die weitere Fortdauer der Untersuchungshaft. Entscheidend hierfür ist, dass die Strafverfolgungsbehörden und Gerichte alle zumutbaren Maßnahmen getroffen haben, um die Ermittlungen so schnell wie möglich abzuschließen und ein Urteil herbeizuführen. Hierbei ist der Freiheitsanspruch des noch nicht verurteilten Angeschuldigten den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlichen und zweckmäßigen Freiheitsbeschränkungen ständig als Korrektiv entgegenzuhalten. Zwischen beiden Belangen ist abzuwägen, wobei zu berücksichtigen ist, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Haftdauer auch unabhängig von der zu erwartenden Strafe Grenzen setzt und sich das Gewicht des Freiheitsanspruchs gegenüber dem Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft regelmäßig vergrößert. Im Rahmen der Abwägung kommt es in erster Linie auf die durch objektive Kriterien bestimmte Angemessenheit der Verfahrensdauer an, die etwa von der Komplexität der Rechtssache, der Vielzahl der beteiligten Personen oder dem Verhalten der Verteidigung abhängig sein kann (BVerfG, StV 2006, 703).
Hierbei hat der Senat berücksichtigt, dass der 16 Jahre alte Angeschuldigte, für dessen Verfahren das Gebot der besonderen Beschleunigung gilt (§ 72 Abs. 5 JGG), sich bei Beginn der Hauptverhandlung etwas mehr als 7½ Monate in Untersuchungshaft befinden wird und das Verfahren voraussichtlich infolge der in nahem zeitlichen Abstand geplanten weiteren Hauptverhandlungstermine noch vor Ablauf von acht Monaten erstinstanzlich abgeschlossen sein wird. Der Senat hält diese Dauer der Untersuchungshaft bis zum Erlass einer erstinstanzlichen Entscheidung im Hinblick auf die Bedeutung der Sache, der der Vorwurf eines versuchten Tötungsdelikts zugrunde liegt, auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass es sich um einen überschaubaren Sachverhalt handelt, noch für angemessen und sieht deshalb den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als gewahrt an.
Die Übertragung der weiteren Haftprüfung beruht auf den §§ 122 Abs. 3 Satz 3, 126 Abs. 2 Satz 1 StPO.
Ergänzend merkt der Senat an, dass Jugendhaftsachen im Hinblick auf § 72 Abs. 5 JGG grundsätzlich Erwachsenenhaftsachen vorgehen. Aber auch Jugendstrafverfahren (wegen des das Jugendgerichtsgesetz beherrschenden Erziehungsgedankens vgl. BGH, NStZ 2010, 94) und Jugendschutzsachen (zum Schutz der Opfer, vgl. auch Medieninformation des baden-württembergischen Ministeriums der Justiz und für Europa vom 10.10.2016), die keine Haftsachen sind, müssen zügig terminiert und abgeschlossen werden können. Im Hinblick auf die mitgeteilte Belastungssituation der Jugendkammer und auf das vom Verteidiger diesbezüglich exemplarisch mitgeteilte Verfahren sowie die (dem Senat aus einer Vielzahl von Verfahren in den letzten Jahren bekannte) Belastungssituation der anderen Straf- einschließlich der Wirtschaftsstrafkammern beim Landgericht R. hat der Haushaltsgesetzgeber (hier konkret: der Landtag von Baden-Württemberg) Abhilfe zu schaffen. Denn die sich ständig wiederholende Bildung von Hilfsstrafkammern, die in der Regel mit Richtern/innen anderer ebenso belasteter Strafkammern besetzt werden, bzw. die temporäre Verteilung von neu eingehenden Haftsachen auf andere (teilweise voll ausgelastete oder ebenso schon überlastete) Strafkammern führen dazu, dass Nichthaftsachen nicht mehr in angemessener Zeit abgeschlossen werden können. Die dem Senat u.a. - aber nicht nur - aus dem Bereich der Wirtschaftsstrafkammern bekannten Zustände, in deren Folge Nichthaftsachen mangels unzureichender Personalausstattung mehrere Jahre liegen bleiben müssen, bevor sie verhandelt werden können, wobei teilweise Tatvorwürfe wegen Verjährung eingestellt werden müssen, sind evident rechtsstaatswidrig. Der Senat ist der Auffassung, dass angesichts des geltenden Beschleunigungsgrundsatzes in Jugend- und Jugendschutzsachen im Regelfall bei einer Dauer des erstinstanzlich gerichtlichen Verfahrens von maximal sechs bis neun Monaten gerade noch von einer Verhandlung in angemessener Frist (Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK) bezogen auf den Angeklagten (in Jugendsachen) bzw. bezogen auf das Opfer (in Jugendschutzsachen) gesprochen werden kann. Hieraus folgt, dass der Haushaltsgesetzgeber diese strukturellen Defizite abzustellen hat und nicht auf das Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren vom 24.11.2011 (BGBl I 2302) verweisen kann. Dieses Gesetz gewährt zwar einen Ausgleich für rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerungen, entbindet aber den Gesetzgeber nicht von seiner Pflicht, rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerungen mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln schon in der Entstehung zu verhindern. Es stellt einen Verstoß gegen das Verfassungsgebot einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege (BVerfG, B. v. 8.4.2013 - 2 BvR 2567/10) dar, wenn rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerungen in Nichthaftsachen immer mehr (soweit dem Senat bekannt ist, werden Statistiken hierüber nicht geführt) unter Anwendung der sog. Vollstreckungslösung (BGHSt 52, 124) als scheinbar nicht zu vermeidender Nachteil Akzeptanz finden und sich nicht mehr nur auf besondere bzw. außergewöhnliche Umstände zurückzuführende Einzelfälle beschränken.
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