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Entscheidungen

Haftfragen

Beschleunigungsgrundsatz, nicht nur kurzfristige Überlastung

Gericht / Entscheidungsdatum: OLG Stuttgart, Beschl. v. 19.10.2018 - H 4 Ws 242/18

Leitsatz: Ein wichtiger Grund i.S. des § 121 Abs. 1 StPO, der die Fortdauer von Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus ggf. rechtfertigen kann, liegt nur dann vor, wenn das Verfahren durch Umstände verzögert wurde, denen die Strafverfolgungsbehörden nicht durch geeignete Maßnahmen hätten entgegenwirken können. Die Überlastung eines Gerichts kommt als wichtiger Grund nur in Betracht, wenn sie kurzfristig und weder vorhersehbar noch vermeidbar wäre.


H 4 Ws 242/18

Oberlandesgericht Stuttgart
4. STRAFSENAT
Beschluss

In dem Strafverfahren gegen
wegen versuchten Totschlags

hat das Oberlandesgericht Stuttgart - 4. Strafsenat - am 19. Oktober 2018 beschlossen:

Der Haftbefehl des Amtsgerichts Stuttgart vom 16. April 2018 (Gz. 27 Gs 2833/18) gegen I. K. wird aufgehoben.

Der obengenannte Untersuchungsgefangene ist in dieser Sache sofort aus der Haft zu entlassen.

Gründe:
I.

Der Angeschuldigte befindet sich nach vorläufiger Festnahme am 15. April 2018 aufgrund Haftbefehls des Amtsgerichts Stuttgart vom 16. April 2018 seit diesem Tag ununterbrochen in Untersuchungshaft.

Dem Haftbefehl liegt folgender Tatvorwurf zugrunde: Am 15. April 2018 gegen 7:00 Uhr klingelte der Geschädigte an der Haustür der M. S. in pp. Sturm, woraufhin der Angeschuldigte die Tür öffnete. M. S. und M. K. traten hinzu, woraufhin der Geschädigte M. S. in einen Würgegriff nahm und ihr gegen das Gesicht schlug. Es kam zu einer körperlichen Auseinandersetzung zwischen dem Geschädigten und dem Angeschuldigten und M. K., in deren Verlauf der Angeschuldigte ein Brotmesser an sich nahm und mindestens viermal auf den Oberkörper des Geschädigten einstach, wobei er dessen Tod zumindest billigend in Kauf nahm. Der Geschädigte erlitt vier tiefgreifende Messerstichverletzungen am Abdomen mit Leberdurchstechung Segement 5, einer tiefen Leberstichverletzung Segment 7 bis nahe zur rechten Lebervene, einer oberflächlichen Leberstichverletzung Segment 3/4 mit der Verletzung der Arteria gastrica sinistra mit einer Bauchblutung sowie einem Pneumothorax links einhergehend, weswegen er notoperiert werden musste.

Die Staatsanwaltschaft Stuttgart erhob am 25. Juli 2018 Anklage gegen den Angeschuldigten zum Landgericht - Schwurgericht - Stuttgart. Der dem Angeschuldigten in der Anklageschrift zur Last gelegte Sachverhalt deckt sich im Wesentlichen mit dem des Haftbefehls, wobei er Letzteren in Einzelpunkten ergänzt. So habe der Geschädigte an der Haustür der Familie K. Sturm geklingelt, um M. S. zur Rede zu stellen. Nachdem der Geschädigte habe nicht gehen wollen, seien M. S. und M. K. zum Angeschuldigten an die Tür getreten, woraufhin es zu einer körperlichen Auseinandersetzung gekommen sei, nachdem der Geschädigte M. S. als Schlampe beleidigt und ihr damit gedroht habe, dass nun Rachetag sei. Im Zuge der Auseinandersetzung habe der Geschädigte M. S. ergriffen und nach unten gedrückt, während der Angeschuldigte und M. K. auf den Geschädigten einschlugen. Der Angeschuldigte habe sich ins Hausinnere begeben, aus der Küche ein langes Messer geholt und viermal auf den Oberkörper des Geschädigten eingestochen, wobei er dessen Tod zumindest billigend in Kauf genommen habe. Der Geschädigte, der die Verletzungen zunächst nicht bemerkte, habe M. S. in den „Schwitzkasten“ genommen und ihr mit der linken Faust mindestens einmal ins Gesicht eschlagen, woraufhin M. K. versucht habe, ihm seine Finger in die Augen zu bohren. Daraufhin habe der Geschädigte M. S. losgelassen und dem Angeschuldigten einmal und M. K. zweimal ins Gesicht geschlagen. M. S. habe das auf dem Treppenabsatz liegende Messer aufgenommen und dieses vor den Geschädigten gehalten. Der hinzukommenden F. K. sei es sodann gelungen, ihre Kinder ins Haus zu drängen.

Nachdem die Zustellung der am 26. Juli 2018 beim Landgericht Stuttgart eingegangenen Anklageschrift an den Angeschuldigten und dessen Verteidiger bereits an diesem Tag verfügt worden war, fragte der Vorsitzende des Landgerichts - 9. Große Strafkammer als Schwurgericht - Stuttgart beim Verteidiger des Angeschuldigten sowie der rechtsmedizinischen Sachverständigen am 8. August 2018 freie Termine für eine mögliche Hauptverhandlung ab Dezember 2018 an; frühere Termine seien der Kammer aufgrund ihrer Auslastung nicht möglich. Mit Schreiben vom 10. August 2018 teilte der Verteidiger dem Landgericht Stuttgart seine Verhinderung an bereits neun Tagen im Dezember 2018 mit und beantragte ferner die Aufhebung des Haftbefehls des Amtsgerichts Stuttgart, hilfsweise dessen Außervollzugsetzung, wobei er eine Kaution in Höhe von 5.000 Euro in Aussicht stellte. Mit Verfügung vom 13. August 2018 teilte der Vorsitzende den Beteiligten verbindliche Hauptverhandlungstage - vorbehaltlich der Eröffnung des Verfahrens - beginnend ab 16. Januar 2019 mit. Zudem wies das Landgericht - 9. Große Strafkammer als Schwurgericht - Stuttgart mit neunseitigem Beschluss vom 20. August 2018 den Antrag auf Aufhebung, hilfsweise auf Außervollzugsetzung des Haftbefehls zurück. In diesem Beschluss setzte sich die Kammer ausführlich mit dem Vorliegen eines dringenden Tatverdachts in Bezug auf den dem Angeschuldigten in der Anklageschrift zur Last gelegten versuchten Totschlag in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung auseinander. Eine Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens erging in der Folgezeit nicht.

Die 9. Große Strafkammer des Landgerichts Stuttgart erachtet die Fortdauer der Untersuchungshaft des Angeschuldigten weiter für erforderlich, weshalb es die Akten mit Verfügung des Vorsitzenden vom 26. September 2018 dem Oberlandesgericht Stuttgart zur Haftprüfung vorgelegt hat. Die Generalstaatsanwaltschaft Stuttgart hat beantragt, Haftfortdauer über sechs Monate hinweg anzuordnen. Der Angeschuldigte und sein Verteidiger haben jeweils zur Frage der Fortdauer der Untersuchungshaft Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten. Hiervon hat der Verteidiger mit Schreiben vom 15. Oktober 2018 Gebrauch gemacht.

II.

Die nach § 121 Abs. 1, Abs. 2, § 122 StPO vorzunehmende Haftprüfung ergibt, dass der Haftbefehl gegen den Angeschuldigten aufzuheben ist.

1. Aufgrund der in der Anklageschrift bezeichneten Beweismittel besteht der dringende Verdacht, dass sich der Angeschuldigte jedenfalls der gefährlichen Körperverletzung gemäß § 224 Abs. 1 Nr. 2, Nr. 5, § 223 Abs. 1 StGB schuldig gemacht hat. Ein dringender Tatverdacht besteht, wenn die Wahrscheinlichkeit groß ist, dass der Beschuldigte Täter einer Straftat ist. Maßgeblich ist hierbei der gegenwärtige Stand der Ermittlungen, wobei dieser bei und nach Anklageerhebung stärker sein muss als ein hinreichender Tatverdacht (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 61. Auflage 2018, § 112, Rn. 5 f.).

a) Dass der Angeschuldigte die vier Messerstiche in den Oberkörper des Geschädigten ausgeführt hat, steht aufgrund dessen schriftlicher Einlassung vom 22. Mai 2018 sowie den Angaben der Zeugin M. C. im Rahmen ihrer polizeilichen Vernehmung als Zeugin vom Hörensagen, wonach der Angeschuldigte ihr gegenüber unmittelbar nach der Tat geäußert habe, er habe drei- oder viermal zugestochen (vgl. LO III, S. 145), fest. Zwar hat der Geschädigte im Rahmen seiner polizeilichen Vernehmung vom 9. Mai 2018 angegeben, dass ihn M. S. mit dem Messer verletzt haben müsse, jedoch sind die Äußerungen des Geschädigten im Rahmen dieser Vernehmung durch erhebliche Belastungstendenzen zum Nachteil der Schwester des Angeschuldigten gekennzeichnet. Sowohl bei seiner ersten Befragung durch die Polizei am 15. April 2018 als auch bei seiner ersten polizeilichen Vernehmung am 16. April 2018 hatte der Geschädigte hingegen noch angegeben, dass er nicht wisse, wer von denen (gemeint sind der Angeschuldigte, M. K. oder M. S.) zugestochen habe.

b) Der Angeschuldigte ist auch dringend verdächtig, die Messerstiche mit Tötungsvorsatz ausgeführt zu haben. Der Angeschuldigte hat insgesamt viermal mit einem Messer längerer Klingenlänge orthogonal zum Körper des Geschädigten in dessen Bauch eingestochen und dabei jedes Mal schon aufgrund des hohen Einwirkungsimpulses, der beim Einsatz einer Klinge zum Überwinden des Hautwiderstands erforderlich ist, beabsichtigt, den Geschädigten mit dem Messer erhebliche und im konkreten Fall sogar lebensgefährliche Verletzungen (tiefe Lebereinschnitte bis nahe zur rechten Lebervene, eine Eröffnung der Arteria gastrica sinistra mit schweren Bauchblutungen sowie ein Pneumothorax) beizubringen. Bei derartigen tiefen Stichen mit einem Messer in den Bauchraum knapp unterhalb der Brust musste dem Angeschuldigten selbst bei laienhafter Betrachtung klar sein, dass diese zum Tod des Geschädigten führen können, was dem Angeschuldigten in diesem Moment zumindest egal war.

c) Aufgrund der in der Anklageschrift bezeichneten Beweismittel kann sich der Angeschuldigte nach Aktenlage nicht auf einen Rechtfertigungsgrund berufen.

Zwar ist bereits aufgrund der eigenen Angaben des Geschädigten gegenüber der Polizei nicht auszuschließen, dass dieser die körperliche Auseinandersetzung mit dem Angeschuldigten, M. K. und M. S. begonnen hat, auch ist bereits aufgrund der eigenen Angaben des Geschädigten gegenüber der Polizei davon auszugehen, dass der Geschädigte M. S. unmittelbar vor den verfahrensgegenständlichen Messerstichen körperlich attackiert hat, jedoch ist die Einlassung des Angeschuldigten, er habe auf den Geschädigten eingestochen als dieser seine Schwester mit dem rechten Arm im Schwitzkasten gehalten habe, mit der fotografisch dokumentierten Lage der vier Stichverletzungen auf der rechten Körperseite des Geschädigten nicht vereinbar. Der Einsatz des Messers wurde vom Angeschuldigten zudem nicht vorab angedroht. Zwar haben der Angeschuldigte und seine Familienangehörigen im Rahmen ihrer polizeilichen Vernehmungen angegeben, dass er das Messer während der Auseinandersetzung im Außenbereich des Hauses vorgefunden habe, diese Angaben stehen jedoch im Widerspruch zur polizeilichen Aussage der Zeugin M. C., der mitgeteilt wurde, dass der Angeschuldigte während der Auseinandersetzung ins Haus gegangen sei und dort das Messer geholt habe (vgl. LO III, S. 148 oben). Auch der Geschädigte hat bei seinem Eintreffen am Haus der Familie K. daselbst keine Messer wahrgenommen.

d) Der Angeschuldigte könnte jedoch durch Ablassen vom Geschädigten nach den Messerstichen vom unbeendeten Tötungsversuch strafbefreiend zurückgetreten sein.

Nach § 24 Abs. 1 Satz 1 StGB wird im Fall eines unbeendeten Versuchs nicht bestraft, wer die weitere Ausführung der Tat aufgibt. Bei der Abgrenzung des unbeendeten vom beendeten Versuch und damit für die Voraussetzung eines strafbefreienden Rücktritts kommt es darauf an, ob der Täter nach der letzten von ihm konkret vorgenommenen Ausführungshandlung den Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolgs für möglich hält. Zwar liegt bei gefährlichen Gewalthandlungen nahe, dass der Täter die lebensgefährliche Wirkung und Möglichkeit des Erfolgseintritts kennt. Diese Kenntnis versteht sich jedoch nicht von selbst, wenn das Opfer nach der letzten Ausführungshandlung noch in der Lage ist, sich ohne erkennbare Beeinträchtigungen vom Tatort wegzubewegen (vgl. BGH, Urteil vom 11. November 2014, 4 StR 349/04, juris Rn. 16 f.).

Vorliegend war der alkoholisierte Geschädigte nach Aktenlage nach Beibringung des letzten Messerstichs in seiner Handlungsfähigkeit nur unwesentlich eingeschränkt. So konnte der Geschädigte die Anwesenden lauthals damit konfrontieren, ob sie ihn jetzt abgestochen haben, bevor er sich - immer noch wütend und erregt - aufrecht von den Tatörtlichkeiten entfernte und hierbei zahlreiche Treppenstufen zum pp.weg, der Wohnanschrift der Familie C., erklomm. Aufgrund seiner psychischen und offensichtlich auch physischen Verfassung sah sich M. S. veranlasst, M. C. ohne zeitlichen Verzug telefonisch vor dem Erscheinen des immer noch aggressiven Geschädigten an deren Haustür zu warnen. Auch der Geschädigte gab im Rahmen seiner ersten polizeilichen Vernehmung selbst an, (zunächst) gedacht zu haben, dass es ihm gut gehe und er nur oberflächlich verletzt sei (vgl. LO III, S. 354). Nach den Messerstichen sei er zur Wohnanschrift der Familie C. gegangen, „um die zu ärgern“ (vgl. LO III, S. 353 unten). Das Blut, das er am Tatort gesehen habe, habe er zunächst nicht zuordnen können (vgl. LO III, S. 352).

Aus der allein maßgeblichen Sicht des Angeschuldigten liegt nach Auffassung des Senats daher - jedenfalls nach den Grundsätzen der Rechtsprechung über den korrigierten Rücktrittshorizont - die Annahme eines unbeendeten Tötungsversuchs nahe. Der Angeschuldigte musste nach Beibringung des letzten Messerstichs aufgrund der genannten Umstände nicht zwingend davon ausgehen, alles zur Herbeiführung des Todes Erforderliche getan zu haben, zumal nach Aktenlage - insbesondere aufgrund der Putzarbeiten der Familie K. unmittelbar nach der Tat - unklar ist, wie viel Blut der Geschädigte am Tatort selbst verloren hat, so dass der Angeschuldigte durch seine Untätigkeit strafbefreiend vom Versuch des Totschlags zurückgetreten sein könnte.

Bei einer Gesamtbetrachtung der genannten Umstände besteht somit aufgrund der in der Anklageschrift bezeichneten Beweismittel eine hohe Wahrscheinlichkeit für eine Verurteilung des Angeschuldigten jedenfalls wegen gefährlicher Körperverletzung gemäß § 224 Abs. 1 Nr. 2, Nr. 5, § 223 Abs. 1 StGB.

2. Es ist zweifelhaft, ob beim Angeschuldigten weiterhin der Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO besteht.

§ 112 Abs. 3 StGB, der die Anordnung von Untersuchungshaft zulässt, wenn ein Haftgrund nach § 112 Abs. 2 StPO nicht besteht, findet vorliegend keine Anwendung, da - wie bereits ausgeführt - ein dringender Tatverdacht hinsichtlich eines versuchten Totschlags gemäß § 212 Abs. 1, § 22, § 23 Abs. 1 StGB nicht sicher festgestellt werden kann.

Fluchtgefahr besteht, wenn die Würdigung der Umstände des Falles es wahrscheinlicher macht, dass sich der Beschuldigte dem Strafverfahren entziehen als dass er sich ihm zur Verfügung halten werde. Die Beurteilung der Fluchtgefahr erfordert die Berücksichtigung aller Umstände des Falles, insbesondere der Art der dem Beschuldigten vorgeworfenen Tat, der Persönlichkeit des Beschuldigten, seiner Lebensverhältnisse, seines Vorlebens und seines Verhaltens vor und nach der Tat. Wenngleich die Straferwartung für sich betrachtet die Fluchtgefahr in der Regel nicht begründen kann, ist sie der Ausgangspunkt für die Erwägung, ob der in ihr liegende Anreiz der Flucht auch unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände so erheblich ist, dass er die Annahme rechtfertigt, der Beschuldigte werde ihm nachgeben und wahrscheinlich flüchten (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, aaO, § 112 Rn. 24 mwN). Je höher die zu erwartende Strafe ist, desto weniger Gewicht ist auf die weiteren Umstände zu legen (vgl. OLG Hamm, NStZ-RR 2010, 158; Meyer/Goßner/Schmitt aaO).

Der 22-jährige Angeschuldigte ist in pp. am Neckar geboren und im dortigen Raum auch aufgewachsen, er besitzt jedoch die türkische Staatsangehörigkeit. Auch ist der Angeschuldigte der türkischen Sprache mächtig. Nach seiner Mittleren Reife hatte der Angeschuldigte zuletzt einen - wenn auch befristeten - festen Arbeitsplatz bei der Firma pp. in pp. Bis zu seiner Inhaftierung lebte er gemeinsam mit seinen Geschwistern im elterlichen Haushalt in P. und verfügt dort über hinreichend tragfähige soziale Bindungen. Zwar sind die Verletzungsfolgen beim Geschädigten beträchtlich, bei der Bemessung der Höhe der Strafe, die der Angeschuldigte im Falle einer Verurteilung zu erwarten hat, wird aber auch zu berücksichtigen sein, dass der Geschädigte am Tattag frühmorgens in aufgebrachter aggressiver Stimmung das Haus der Familie K. aufgesucht und dort die Schwester des Angeschuldigten körperlich attackiert hat, bevor es zu den Messerstichen gekommen ist. Der Geschädigte hat zudem zuletzt kein Interesse an einer Verfolgung des Angeschuldigten (mehr) gezeigt. Auch ist der Angeschuldigte in der Vergangenheit bislang vorwiegend wegen Diebstahls strafrechtlich in Erscheinung getreten.

Bei der Gesamtschau all dieser Umstände, insbesondere der Höhe der Strafe, die der Angeschuldigte bei einer Verurteilung möglicherweise nur wegen gefährlicher Körperverletzung zu erwarten hat, ist nach Auffassung des Senats daher fraglich, ob sich der Angeschuldigte wegen seiner Auslandsbeziehungen in die Türkei tatsächlich dem weiteren Verfahren durch Flucht entziehen wird.

3. Auch liegen die besonderen Voraussetzungen nach § 121 StPO für die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinweg beim Angeschuldigten nicht vor.

An den zügigen Fortgang eines Verfahrens und an das Vorliegen eines wichtigen Grundes im Sinne von § 121 Abs. 1 StPO sind umso strengere Anforderungen zu stellen, je länger die Untersuchungshaft andauert (vgl. BVerfG, Beschluss vom 23. Januar 2008, 2 BvR 2656/07, juris Rn. 40 ff.). Für die Bejahung einer signifikanten Verfahrensverzögerung ist entscheidend, ob sie eine Schwelle erreicht, die im Rahmen der vorzunehmenden Abwägung die Anordnung einer weiteren Fortdauer der Untersuchungshaft nicht mehr erlaubt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 13. Mai 2009, 2 BvR 388/09, juris). Bei der Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch des Untersuchungsgefangenen und dem Strafverfolgungsinteresse des Staates kommt es vor allem auf die durch objektive Kriterien bestimmte Angemessenheit der Verfahrensdauer an, die von der Komplexität der Rechtssache, deren Umfang der Ermittlungen, einem möglichen Auslandsbezug und der Anzahl der beteiligten Personen abhängig sein kann.

Bei Anwendung dieses Maßstabs auf den vorliegenden Fall ist eine Fortdauer der Untersuchungshaft auch aus diesem Grund nicht mehr gerechtfertigt.

Bereits vor Eingang des Verfahrens beim Landgericht Stuttgart ist es zu einer etwa einmonatigen Lücke in der Bearbeitung durch die Polizei gekommen. Die kriminaltechnischen Untersuchungen waren bereits am 4. Mai 2018 (vgl. LO II) abgeschlossen. Die schriftliche Einlassung des Angeschuldigten datiert vom 22. Mai 2018. Auch die zahlreichen Zeugenvernehmungen, die durch das Polizeipräsidium Reutlingen durchgeführt worden sind, waren bereits mit der Vernehmung des Vaters des Angeschuldigten am 7. Juni 2018 beendet. Aus den Akten ist eine weitere Ermittlungstätigkeit der Polizei zwischen der nachfolgenden Auswertung der sichergestellten Mobiltelefone bis zum 13. Juni 2018 und der Abfassung des polizeilichen Abschlussberichts mit Vorlage der knapp 705-seitigen Akten an die Staatsanwaltschaft Stuttgart am 16. Juli 2018 jedoch nicht ersichtlich. Ein Abwarten des Ergebnisses der von der Staatsanwaltschaft Stuttgart zwar hinsichtlich der Mutter des Angeschuldigten bereits am 30. Mai 2018 (vgl. LO III, Bl. 78) und hinsichtlich des Vaters des Angeschuldigten nach dem 26. Juni 2018 (vgl. LO III, Bl. 175) beantragten richterlichen Vernehmung war im vorliegenden Fall mit dem Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen nicht zu vereinbaren. Es lagen bereits umfangreiche polizeiliche Angaben der Mutter und des Vaters des Angeschuldigten vor; die richterliche Vernehmung erfolgte erst Mitte Juli 2018.

Dass die Staatsanwaltschaft Stuttgart innerhalb von zehn Tagen nach Eingang der Akten die 21-seitige Anklageschrift unter dem 25. Juli 2018 gefertigt hat, die am 26. Juli 2018 beim Landgericht Stuttgart einging, ist hingegen nicht zu beanstanden.

Der weitere Gang des Verfahrens vor dem Landgericht Stuttgart wird dem Grundsatz der Beschleunigung in Haftsachen jedoch nicht mehr gerecht.

Eine Fortdauer der Untersuchungshaft kommt deshalb nicht in Betracht, weil bislang weder die besondere Schwierigkeit noch der besondere Umfang der Ermittlungen einem Urteil entgegengestanden haben. Die besondere Schwierigkeit und der besondere Umfang der Ermittlungen sind dabei durch einen Vergleich mit anderen Verfahren, die üblicherweise bei Beachtung des Beschleunigungsgebots innerhalb von sechs Monaten durch ein erstinstanzliches Urteil abgeschlossen werden, festzustellen. Das vorliegende Verfahren hat ein überschaubares Tatgeschehen zum Gegenstand, die Beweislage ist mit insgesamt 13 Zeugen - die zum großen Teil über ein Zeugnis- und/oder Aussageverweigerungsrecht verfügen - sowie den beteiligten Polizeibeamten übersichtlich, ein psychiatrisches Schuldfähigkeitsgutachten ist nicht erforderlich, auch hält sich der Aktenumfang mit insgesamt etwa knapp 1000 Seiten noch im durchschnittlichen Bereich. Insgesamt bewegt sich das Verfahren damit - vom Tötungsvorsatz abgesehen - sowohl hinsichtlich seiner Komplexität als auch seines Umfangs in einem Bereich, der selbst beim Schöffengericht nicht ungewöhnlich ist.

Nachdem von einer Eröffnungsreife des Verfahrens jedenfalls zum Zeitpunkt der Abfassung des neunseitigen Beschlusses vom 20. August 2018, durch den der Antrag des Angeschuldigten auf Aufhebung, hilfsweise auf Außervollzugsetzung des Haftbefehls zurückgewiesen worden ist, vorlag, hätte - eine ausreichende Personal- und Sachausstattung vorausgesetzt - mit der Hauptverhandlung bis zum Haftprüfungstermin am 16. Oktober 2018, jedenfalls aber innerhalb von drei Monaten nach Eröffnungsreife begonnen werden können, zumal auch der Verteidiger des Angeschuldigten an 14 Tagen zwischen Ende August und dem 16. Oktober 2018 verfügbar gewesen wäre. Weder die besondere Schwierigkeit noch der besondere Umfang der Ermittlungen bedingen einen Hauptverhandlungsbeginn erst neun Monate nach Inhaftierung des Angeschuldigten am 16. Januar 2019. Auch die Tatsache, dass der Vorsitzende der Strafkammer Mitte September 2018 überraschend für längere Zeit erkrankte, ändert hieran nichts, da kammerintern eine Umverteilung der Geschäfte erfolgte und Verfahren durch den Stellvertreter verhandelt werden. Noch weit vor der Erkrankung des Vorsitzenden, bereits am 8. August 2018, wurden Termine erst ab Dezember 2018 abgefragt und mit Verfügung vom 13. August 2018 ein Verfahrensbeginn ab 16. Januar 2019 in Aussicht gestellt.

Auch kommt eine Fortdauer der Untersuchungshaft nicht wegen eines anderen wichtigen Grundes nach § 121 Abs. 1 StPO in Betracht. Ein solcher läge nur dann vor, wenn das Verfahren durch Umstände verzögert würde, denen die Strafverfolgungsbehörden nicht durch geeignete Maßnahmen hätten entgegenwirken können (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, aaO, § 121, Rn. 21 mwN). Die Überlastung eines Gerichts kommt als wichtiger Grund nur in Betracht, wenn sie kurzfristig und weder vorhersehbar noch vermeidbar wäre (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, aao, § 121 Rn. 21a mwN).

Das ist vorliegend nicht der Fall. Die 9. Große Strafkammer des Landgerichts Stuttgart hat zu ihrer Termins- und Belastungssituation mitgeteilt, dass sie sich aufgrund einer außergewöhnlichen Ballung von Faktoren nicht imstande sehe, das Verfahren innerhalb des Zeitraums nach § 121 StPO zu verhandeln. Die mit einer Vielzahl von teilweise umfangreichen Schwurgerichtsverfahren befasst Kammer habe bereits vor Eingang des vorliegenden Verfahrens Hauptverhandlungstermine in neun Haftsachen anberaumt bzw. verbindlich mitgeteilt und die Terminbelastung teilweise nur dadurch bewerkstelligen können, dass halbe Verhandlungstage die Durchführung von zwei gesonderten Verfahren an einem Tag ermöglicht haben. Überdies haben Kammermitglieder in der zweiten Jahreshälfte Urlaubstage zurückgeben müssen, um Verhandlungen fortsetzen zu können.

Die Kammer verhandelt(e) im September 2018 bereits an 13 Werktagen, im Oktober 2018 an elf Werktagen, im November 2018 an zehn Werktagen und im Dezember 2018 an sieben Werktagen, mithin zwei- bis dreimal die Woche, in der Regel in mehreren Verfahren parallel. Unter Berücksichtigung auch der weiteren zeitlich und inhaltlich anspruchsvollen Dienstgeschäfte wie das Vorbereiten von Verfahrensakten und Hauptverhandlungsterminen sowie das Absetzen von Urteilen ist eine höhere Verhandlungsdichte nicht möglich. Die terminliche Auslastung der 9. Großen Strafkammer macht deutlich, dass der Zeitverzug zwischen Eröffnungsreife Ende August 2018 und dem voraussichtlichen Beginn der Hauptverhandlung am 16. Januar 2019 mehr als vier Monate später ausschließlich auf die Belastung der Kammer mit anderen Haftsachen zurückzuführen ist.

Diese nicht nur vorübergehende Überlastung der 9. Großen Strafkammer war für Verwaltung und Präsidium des Landgerichts Stuttgart auch vorhersehbar. Von den bereits vor dem vorliegenden Strafverfahren bei der 9. Großen Strafkammer des Landgerichts Stuttgart eingegangenen näher bezeichneten neun Haftsachen mussten ab Juni 2018 insgesamt sechs Verfahren dem Oberlandesgericht Stuttgart zur Haftprüfung vorgelegt werden. Bereits durch Senatsbeschluss vom 13. Juni 2018 (H 4 Ws 125/18) wurde auf die momentane starke Belastungssituation der Kammer hingewiesen. Durch Senatsbeschluss vom 12. Juli 2018 (H 4 Ws 162/18) wurde erneut auf eine mögliche dauerhafte Überlastung der 9. Großen Strafkammer des Landgerichts Stuttgart hingewiesen. Schon im April 2018 war die Gerichtsverwaltung durch eine erste Haftprüfungsentscheidung des Oberlandesgerichts Stuttgart in Bezug auf ein Verfahren der 9. Großen Strafkammer des Landgerichts Stuttgart darauf hingewiesen worden, dass Engpässe in der Geschäftslage eine Haftfortdauer in der Regel nur rechtfertigen können, wenn sie kurzfristig und nicht oder kaum vorhersehbar sowie unvermeidbar sind (Beschluss vom 24. April 2018, H 1 Ws 33/18). Weiter hat das Oberlandesgericht Stuttgart in seiner Entscheidung vom 18. Juli 2018 (H 1 Ws 68/18) im Hinblick auf die Belastung der 9. Großen Strafkammer durch die Formulierung, dass die Fortdauer der Untersuchungshaft noch gerechtfertigt ist, zum Ausdruck gebracht, dass eine weitere mangelhafte Personalausstattung beziehungsweise Überlastung der 9. Großen Strafkammer und dadurch bedingte Verfahrensverzögerungen der besonderen Bedeutung des Freiheitsgrundrechts aus Artikel 2 Abs. 2 Satz 2 GG nicht mehr gerecht werden.

Zwar wurde der 9. Großen Strafkammer des Landgerichts Stuttgart nach einer Überlastungsanzeige an das Präsidium vom 19. Juli 2018 ab dem 1. Oktober 2018 eine weitere Richterin mit 0,5 AKA zugewiesen, wodurch in einer Mitte August 2018 eingegangenen weiteren Haftsache zur Vermeidung einer erneuten Haftprüfung durch das Oberlandesgericht Stuttgart fünf Hauptverhandlungstermine ab Mitte November 2018 abgesprochen werden konnten, weshalb das Oberlandesgericht Stuttgart in seinem Haftfortdauerbeschluss vom 28. August 2018 (H 6 Ws 139/18) noch von einer nur temporären Überlastung der Schwurgerichtskammer ausgegangen ist. Wie jedoch die weiterhin erst auf Mitte Januar 2019 geplante Hauptverhandlung in diesem Verfahren zeigt, war diese Maßnahme nicht ausreichend, um der Überlastung wirksam abzuhelfen und für eine ausreichende Beschleunigung im Verfahren des Angeschuldigten zu sorgen.

Zur Durchführung eines geordneten Strafverfahrens und zur Sicherstellung der Strafvollstreckung kann die Untersuchungshaft dann nicht mehr als notwendig erkannt werden, wenn ihre Fortdauer durch Verfahrensverzögerungen verursacht ist, die ihre Ursache nicht in dem konkreten Strafverfahren haben und daher von dem Beschuldigten nicht zu vertreten, sondern vermeidbar und sachlich nicht gerechtfertigt sind. Entsprechend dem Gewicht der zu ahnenden Straftat können zwar kleinere Verfahrensverzögerungen die Fortdauer der Untersuchungshaft rechtfertigen. Allein die Schwere der Tat und die sich daraus ergebende Straferwartung vermögen aber bei erheblichen, vermeidbaren und dem Staat zuzurechnenden Verfahrensverzögerungen nicht zur Rechtfertigung einer ohnehin schon lang andauernden Untersuchungshaft dienen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 1. August 2018, 2 BvR 1258/18, juris Rn. 26). Die nicht nur kurzfristige Überlastung eines Gerichts kann insofern niemals Grund für die Anordnung der Haftfortdauer sein. Vielmehr kann die nicht nur kurzfristige Überlastung des Gerichts selbst dann die Fortdauer der Untersuchungshaft nicht rechtfertigen, wenn sie auf einem Geschäftsanfall beruht, der sich trotz Ausschöpfung aller gerichtsorganisatorischen Mittel und Möglichkeiten nicht mehr innerhalb angemessener Fristen bewältigen lässt. Die Überlastung eines Gerichts fällt - anders als unvorhersehbare Zufälle und schicksalhafte Ereignisse - in den Verantwortungsbereich der staatlich verfassten Gemeinschaft. Dem Beschuldigten darf daher nicht zugemutet werden, eine längere als die verfahrensangemessene Aufrechterhaltung des Haftbefehls nur deshalb in Kauf zu nehmen, weil der Staat es versäumt, seiner Pflicht zur verfassungsgemäßen Ausstattung der Gerichte zu genügen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 11. Juni 2018, 2 BvR 819/18, juris Rn. 30).

Aus den genannten Gründen kann die sich seit April 2018 abzeichnende dauerhafte Überlastung der 9. Großen Strafkammer des Landgerichts Stuttgart daher die Fortdauer der Untersuchungshaft vorliegend nicht mehr als anderer wichtiger Grund im Sinne von § 121 Abs. 1 StPO rechtfertigen.

Es ist absehbar, dass die 9. Große Strafkammer des Landgerichts Stuttgart das vorliegende Verfahren nicht mit der in Haftsachen gebotenen Beschleunigung betreiben kann. Selbst eine geplante Einrichtung einer neuen (Hilfs-)Schwurgerichtskammer beim Landgericht Stuttgart kann die bereits eingetretene Verfahrensverzögerung in diesem Verfahren nicht mehr beseitigen.

Der Haftbefehl des Amtsgerichts Stuttgart vom 16. April 2018 (Gz. 27 Gs 2833/18) gegen den Angeschuldigten ist aufzuheben (§ 121 Abs. 2, Abs. 1StPO).


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