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Entscheidungen

StPO

Pflichtverteidiger, Jugendschöffengereicht, Anklage

Gericht / Entscheidungsdatum: LG Saarbrücken, Beschl. v. 11.02.2020 - 3 Qs 11/20

Leitsatz: Die Voraussetzungen der notwendigen Verteidigung nach § 68 Nr. 1 JGG n.F. i.V.m. § 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO n.F. liegen auf jeden Fall vor, wenn zum Jugendschöffengericht angeklagt ist. Maßgebend ist allein, ob die Hauptverhandlung im ersten Rechtszug vor einem der in § 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO n.F. genannten Gerichte stattfinden wird.


3 Qs 11/20

Landgericht Saarbrücken

Beschluss

In der Strafsache
gegen pp.

Verteidiger:

wegen gefährlicher Körperverletzung u.a.
hier: sofortige Beschwerde gegen Ablehnung Pflichtverteidigerbeiordnung

hat die Jugendkammer 1 des Landgerichts Saarbrücken nach Anhörung der Staatsanwaltschaft am 11.02.2020 beschlossen:

I. Auf die sofortige Beschwerde der Angeklagten wird der Beschluss des Amtsgerichts— Jugendschöffengericht — in Saarbrücken vom 17.01.2020 aufgehoben.
II. Der Angeklagten wird Herr Rechtsanwalt pp. als Pflichtverteidiger beigeordnet.
III. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die der Beschwerdeführerin hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen hat die Landeskasse zu tragen.

Gründe:

Mit Anklageschrift vom 06.11.2019 erhob die Staatsanwaltschaft gegen die Angeklagte und den Mitangeklagten pp. Anklage zum Amtsgericht— Jugendschöffengericht — in Saarbrücken wegen Körperverletzung in Tateinheit mit versuchter Nötigung. Die mittlerweile 17 Jahre alte Angeklagte war zum Tatzeitpunkt 16 Jahre alt. Der Auszug aus dem Bundeszentralregister des Bundesamtes der Justiz vom 24.06.2019 betreffend die Angeklagte weist zwei Einträge aus. Bei einem der Verfahren wurde nach § 45 Abs. 1 JGG von der Verfolgung abgesehen. Mit rechtskräftigem Urteil des Amtsgerichts Saarbrücken vom 01.02.2019 wurden der Angeklagten wegen vorsätzlicher Körperverletzung in Tatmehrheit mit Diebstahl Arbeitsleistungen auferlegt. Der Mitangeklagte pp. ist bereits mehrfach strafrechtlich in Erscheinung getreten und wurde zuletzt mit rechtskräftigem Urteil des Amtsgerichts Saarbrücken vom 25.01.2019 zu einer Jugendstrafe von sechs Monaten verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde.

Mit Beschluss vom 21.11.2019 hat das Amtsgericht dem Mitangeklagten pp. einen Pflichtverteidiger beigeordnet. Mit weiterem Beschluss vom 02.01.2020 hat das Amtsgericht die Anklage der Staatsanwaltschaft Saarbrücken gegen beide Angeklagte zugelassen und das Hauptverfahren vor dem Amtsgericht— Jugendschöffengericht — in Saarbrücken eröffnet.

Der (Wahl-)Verteidiger der Angeklagten hat mit Schriftsatz vom 07.01.2020 beantragt, ihn als Pflichtverteidiger beizuordnen. Mit Verfügung vom 09.01.2020 hat der Vorsitzende des Jugendschöffengerichts darauf hingewiesen, dass kein Fall der notwendigen Verteidigung bei der Angeklagten vorliege, da die Anklage lediglich im Hinblick auf die Vorstrafensituation des Mitangeklagten pp. zum Jugendschöffengericht erhoben worden sei. Nachdem der Verteidiger der Angeklagten mit weiterem Schriftsatz vom 15.01.2020 erklärt hat, dass an dem Beiordnungsantrag festgehalten werde, hat das Amtsgericht mit Beschluss vom 17.01.2020 den Antrag der Angeklagten auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers abgelehnt. Zur Begründung hat das Amtsgericht ausgeführt, § 68 Nr. 5 JGG sei nach dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Jugendstrafverfahren eine im Verhältnis zu § 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO speziellere Regelung im Jugendstrafrecht. Die Verweisungsnorm des § 68 Nr. 1 JGG sei wegen der spezielleren Regelung in § 68 Nr. 5 JGG einschränkend dahingehend auszulegen, dass § 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO gerade nicht in Bezug genommen werde. Auch gelte die Regelung des § 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO nur für denjenigen Angeklagten, wegen dem Anklage zum Jugendschöffengericht erhoben worden sei, bei dem also eine entsprechende Rechtsfolge drohe. Mitangeklagte, denen eine solche Rechtsfolge nicht drohe, da sie nur aufgrund der Umstände des Falles mitangeklagt sind, seien nicht erfasst. Dies sei der Vorschrift des § 68 Nr. 5 JGG eindeutig zu entnehmen, jedenfalls sei § 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO über den Gesetzeswortlaut hinausgehend so auszulegen.

Der Verteidiger hat mit Schriftsatz vom 27.01.2020 erklärt, den Beiordnungsantrag zurückzunehmen und mit gleichem Schriftsatz einen neuen Pflichtverteidigerbeiordnungsantrag nach § 68 Nr. 1 JGG i.V.m. § 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO gestellt. Mit Verfügung vom gleichen Tag hat der Vorsitzende darauf hingewiesen, dass eine Rücknahme des Antrags nicht möglich sei, da über den Antrag bereits in der Sache entschieden worden sei.

Die Angeklagte hat gegen den ablehnenden Beschluss vom 17.01.2020, ihrem Verteidiger am 22.01.2020 zugegangen, mit Schriftsatz ihres Verteidigers vom 28.01.2020, eingegangen beim Amtsgericht Saarbrücken am gleichen Tag, „Beschwerde" eingelegt, und beantragt, den angefochtenen Beschluss aufzuheben und ihr einen Pflichtverteidiger beizuordnen. Zur Begründung hat sie vorgetragen, aus § 68 Nr. 1 JGG i.V.m. § 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO ergebe sich eindeutig, dass auch bei ihr ein Fall der notwendigen Verteidigung vorliege. Der Vorschrift des § 68 JGG sei nicht zu entnehmen, dass Nr. 5 der Vorschrift der Regelung in Nr. 1 vorgehe. Auch der Sinn und Zweck spreche für die Beiordnung eines Pflichtverteidigers in vorliegender Konstellation. Das Gesetz unterscheide in § 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO nicht, wegen welchem Angeklagten und aus welchem Grund eine Verhandlung vor dem Schöffengericht stattfinde, Darüber hinaus sei zu berücksichtigen, dass dem Mitangeklagten ein Pflichtverteidiger bestellt worden sei.

II.

Das als sofortige Beschwerde auszulegende (§ 300 StPO) Rechtsmittel ist zulässig, insbesondere statthaft (§ 142 Abs. 7 S. 1 StPO) sowie fristgemäß eingelegt (§ 311 Abs. 2 StPO), und hat auch in der Sache Erfolg,

Die Voraussetzungen der notwendigen Verteidigung nach § 68 Nr. 1 JGG nF i.V.m. § 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO nF liegen vor.

1. Nach der Bestimmung des § 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO in der Fassung des am 13.12.2019 in Kraft getretenen Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung, welches die sog. Prozesskostenhilferichtlinie (Richtlinie (EU) 2016/1919 vom 26.11.2010) in deutsches Recht umgesetzt hat, liegt ein Fall der notwendigen Verteidigung u.a. dann vor, wenn zu erwarten ist, dass die Hauptverhandlung im ersten Rechtszug vor dem Schöffengericht statt-findet. Weiterer Voraussetzungen bedarf es nicht.

a) Bereits nach der bisherigen Rechtslage war gemäß § 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO aF für den Fall notwendiger Verteidigung allein maßgebend, dass die Hauptverhandlung im ersten Rechtszug vor dem Oberlandesgericht oder dem Landgericht stattfindet. § 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO aF erfasste alle Verfahren, die im ersten Rechtszug vor den genannten Gerichten verhandelt wurden, und zwar auch dann, wenn diese Gerichte sachlich unzuständig waren (vgl. BeckOK StPO/Krawczyk, 35. Ed. 1.10.2019, StPO § 140 Rn. 3; KK-StP0Millnow, 8. Aufl. 2019, StPO § 140 Rn. 8; KMR-StPO/Hainzmann, 62, EL, § 140, Rn. 7; Lüderssen in: Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl. 2007, § 140, Rn. 21; Meyer-Goßner/Schmitt, 62. Aufl. 2019, § 140, Rn. 11; MüKoStPO/Thomas/Kämpfer, 1. Aufl. 2014, StPO § 140 Rn. 12; SSW-StPO/Beulke, 4. Aufl. 2020, § 140, Rn. 12). Entscheidend war ausschließlich die tatsächliche Verhandlung bzw. der Anklageadressat und nicht die formelle Zuständigkeit für die erste Instanz (vgl. MüKoStPO/Thomas/Kämpfer aaO).

b) In gleicher Weise findet die Bestimmung in § 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO nF Anwendung, wonach die Verteidigungsrechte des Angeklagten nicht eingeschränkt, sondern in zeitlicher und sachlicher Hinsicht erweitert werden sollten. Ausgangspunkt für die Beurteilung ist danach nicht mehr das Hauptverfahren, sondern bereits das Ermittlungs- und das Zwischenverfahren (vgl. ST-Drucks 19/13829, S. 32). In sachlicher Hinsicht bleibt aber die rein tatsächliche Beurteilung maßgebend ist, ob die Hauptverhandlung im ersten Rechtszug vor einem der in § 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO nF genannten Gerichte stattfinden wird (vgl. BT-Drucks. 19/13829, aaO). Dabei geht der Gesetzgeber davon aus, dass immer dann, wenn Anklage zu einem der genannten Gerichte erhoben worden ist, die Erwartung im Sinne der Nr. 1 grundsätzlich gegeben ist (BT-Drucks 19/13829, aaO). Die Beurteilung erfolgt im Zwischenverfahren aus Sicht des Gerichts, bei dem Anklage erhoben ist, wobei die Erwartung dann entfällt, wenn das Gericht zur Auffassung gelangt, dass das Verfahren vor einem nicht unter § 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO nF genannten Gericht zu eröffnen ist (BT-Drucks 19/13829, aaO).

2. Diese, an den tatsächlichen Verfahrensumständen ausgerichtete Beurteilung, gilt auch im Fall von § 68 Nr. 1 JGG nF. Nach dieser Vorschrift liegt ein Fall der notwendigen Verteidigung im Jugendstrafverfahren vor, wenn im Verfahren gegen einen Erwachsenen ein Fall der notwendigen Verteidigung vorliegen würde.

a) Bereits nach § 68 Nr. 1 JGG aF verwies die Vorschrift unter anderem auf § 140 Abs. 1 StPO aF (vgl. BeckOK JGG/Noak, 15. Ed. 1.11.2019, JGG § 68 Rn. 19; Diemer/Schatz/Sonnen, JGG, 7. Aufl. 2015, § 68, Rn. 9; Eisenberg JGG, 20. Aufl. 2018, JGG § 68 Rn. 21; Ostendorf, JGG, 10. Aufl. 2016, § 68, Rn. 7). Auch in diesem Zusammenhang kam es nach alter Rechtslage bislang ausschließlich darauf an, ob die Hauptverhandlung im ersten Rechtszug vor einem höheren Gericht als dem Amtsgericht stattfindet, mithin war nicht entscheidend, ob die Zuständigkeit in zutreffender Weise angenommen worden ist (vgl. Eisenberg aaO).

b) Hieran hat sich auch durch das am 17.12.2019 in Kraft getretene Gesetz zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im. Jugendstrafverfahren, das der Umsetzung der Richtlinie (EU) 2016/800 vom 11.05.2016 über Verfahrensgarantien in Strafverfahren für Kinder, die Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren sind, dient, nichts geändert (vgl. BT-Drucks 19/13837, S. 27). Die Fälle der notwendigen Verteidigung sind in § 68 JGG und § 140 Abs. 1 StPO vom Gesetzgeber selbst abstrakt festgelegt (BT-Drucks 19/13837, aaO). In diesen Fällen der vom Gesetz bestimmten notwendigen Verteidigung kann nicht von der Unterstützung durch einen Rechtsbeistand abgewichen werden (BT-Drucks 19/13837, aaO).

c) Auch vermittelt die Bestimmung des § 68 Nr. 5 JGG nF keinen ausschließenden Vorrang vor der Regelung in § 68 Nr. 1 JGG. Gegen eine solche Annahme spricht bereits die Systematik der Bestimmung. Sowohl in der bisherigen Fassung als auch in der aktuellen Fassung ist die Aufzählung in den Nummern 1 bis 5 alternativ („oder"). Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der Gesetzesbegründung. Auch Sinn und Zweck sprechen dafür, § 68 Nr. 5 JGG nF keine Vorrangstellung gegenüber § 68 Nr. 1 JGG nF einzuräumen. Denn durch den Verweis des § 68 Nr. 1 JGG nF auf § 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO nF soll der Beschuldigte im Jugendstrafverfahren den gleichen Schutz wie ein Erwachsener genießen. Kommt es aber bei einem Erwachsenen — wie dargelegt — bei einem Fall des § 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO nF nicht auf die Straferwartung, sondern auf den Umstand an, dass zu erwarten ist, dass die Hauptverhandlung vor dem Schöffengericht stattfindet, so kann im Jugendstrafverfahren über § 68 Nr. 1 JGG nF nichts anderes gelten.

3. Ausgehend hiervon ist der Angeklagten pp. ebenfalls ein Pflichtverteidiger beizuordnen. Entscheidend ist allein, dass — wie hier - eine Hauptverhandlung im ersten Rechtszug vor dem (Jugend-) Schöffengericht zu erwarten ist.

Die Kostenentscheidung folgt aus einer entsprechenden Anwendung des § 467 Abs. 1 StPO (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, 62. Aufl. 2019, § 473, Rn. 2).

Saarbrücken, den 11.02.2020 Landgericht — Jugendkammer I


Einsender: RA M. Müller, Saarbrücken

Anmerkung:


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