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Entscheidungen

Corona

U-Haft, Fortdauer, Corona, anderer wichtiger Grund

Gericht / Entscheidungsdatum: OLG Stuttgart, Beschl. v. 06.04.2020 – H 4 Ws 71/20

Leitsatz: Einen wichtigen Grund, der die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus rechtfertigt, bilden u.a. nicht behebbare und unabwendbare Schwierigkeiten oder unvorhersehbare Zufälle und schicksalhafte Ereignisse, wie etwa die krankheitsbedingte Verhinderung unentbehrlicher Verfahrensbeteiligter. Auch die Erkrankung eines Verfahrensbeteiligten mit einer hochansteckenden Krankheit, die an sich keinen Hinderungsgrund darstellt, aber eine erhebliche Gefährdung anderer in sich birgt, kann einen solchen Grund darstellen (hier Corona-Pandemie und darauf beruhende Quarantäne-Maßnahme).


In pp.

Die Untersuchungshaft des Angeklagten hat fortzudauern.

Eine etwa erforderliche weitere Haftprüfung durch das Oberlandesgericht findet in drei Monaten statt.

Bis zu diesem Zeitpunkt wird die weitere Haftprüfung dem nach allgemeinen Grundsätzen zuständigen Gericht übertragen.

Gründe

I.

Der am 3. September 2019 vorläufig festgenommene Angeklagte befindet sich seit dem 4. September 2019 aufgrund des Haftbefehls des Amtsgerichts S. vom selben Tag ununterbrochen in Untersuchungshaft.

Der auf Fluchtgefahr gestützte Haftbefehl legt dem Angeklagten gewerbsmäßiges Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in sechs tatmehrheitlichen Fällen gemäß § 1 Abs 1 i.V.m. Anlage II, § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 29 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 3 Satz 2 Nr. 1, § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG zur Last. Der Angeklagte soll von Dezember 2017 bis April 2018 jeweils aufgrund neuen Tatentschlusses in fünf Fällen der gesondert verfolgten T. in S. zwischen 50 und 227 Gramm Methamphetamin zum Grammpreis von 60 Euro verkauft haben, wobei der Angeklagte die Lieferung von 150 Gramm im Dezember 2017 nach Reklamation der schlechten Qualität zurückerhalten haben soll. Ferner soll er am 3. September 2019 in der Wohnung der gesondert verfolgten K. in S. 148,53 und 10,16 Gramm brutto Methamphetamin zum gewinnbringenden Weiterverkauf verwahrt haben.

Mit Anklageschrift vom 18. Dezember 2019 erhob die Staatsanwaltschaft wegen der dargestellten Vorwürfe - sowie wegen zwölf weiterer Taten - Anklage zum Landgericht S.. Danach soll der Angeklagte ferner zu einem nicht mehr genau bestimmbaren Zeitpunkt Ende Oktober bis November 2017 und im Februar / März 2018 in jeweils in einem Fall, bis April 2018 in weiteren vier Fällen, im Zeitraum Mitte Oktober bis Dezember 2018 in weiteren fünf Fällen, zu nicht mehr genau bestimmbaren Zeitpunkten zwischen Sommer 2018 und August 2019 in weiteren fünf Fällen und am 31. August 2019 jeweils mindestens 50 Gramm in zwei Fällen, jeweils mindestens 100 Gramm in 14 Fällen und 55 Gramm Methamphetamin guter Qualität aus den Niederlanden nach S. verbracht und an vier Personen zum gewinnbringenden Preis in zwei Fällen von 5.000 Euro, in vier Fällen von 4.500 Euro, in einem Fall von 4.000 Euro bzw. in vier Fällen zum Grammpreis von 55 Euro und in sechs Fällen zum Grammpreis von 50 Euro verkauft sowie am 2. September 2019 gemeinschaftlich 157,30 Gramm (netto) Methamphetamin aus den Niederlanden nach S. verbracht haben, um es gewinnbringend an den gesondert verfolgten R. zu verkaufen.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten der dem Angeklagten zur Last gelegten Taten wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf den Haftbefehl und die Anklageschrift Bezug genommen.

Die Vorsitzende der zuständigen Strafkammer verfügte am 19. Dezember 2019 die Zustellung der Anklage mit einer Stellungnahmefrist von zwei Wochen und sprach am 2. Januar 2020 mit dem Verteidiger drei Hauptverhandlungstermine ab 21. Februar 2020 ab. Die Eröffnungsentscheidung der Strafkammer erfolgte am 29. Januar 2020 und am selben Tag wurde - entsprechend der vorangegangenen Terminabsprache mit dem Verteidiger - Termin zur Hauptverhandlung auf den 21. Februar 2020 mit Fortsetzungsterminen am 4. und 24. März 2020 bestimmt. Der Haftbefehl wurde an den angeklagten Sachverhalt bisher nicht angepasst.

Die ursprünglich auf drei Verhandlungstage vorgesehene Hauptverhandlung wurde durch Beschluss des Landgerichts vom 23. März 2020 ausgesetzt. Neuer Termin zur Hauptverhandlung soll umgehend nach Aktenrücklauf mit den Verfahrensbeteiligten abgestimmt werden. Das Landgericht erachtet die Fortdauer der Untersuchungshaft für erforderlich und hat dem Oberlandesgericht deshalb die Akten am 23. März 2020 zur Prüfung der Haftfortdauer vorgelegt. Die Generalstaatsanwaltschaft beantragt, die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus anzuordnen. Dem Angeklagten wurde über seinen Verteidiger Gelegenheit gegeben, sich zur Frage der Fortdauer der Untersuchungshaft gegenüber dem Oberlandesgericht zu äußern. Der Verteidiger des Angeklagten beantragt, den Haftbefehl aufzuheben, hilfsweise gegen geeignete Auflagen außer Vollzug zu setzen.

II.

Die nach § 121 Abs. 1, § 122 StPO vorzunehmende Haftprüfung ergibt, dass die Untersuchungshaft über die Dauer von sechs Monaten hinaus aufrechterhalten werden darf.

1. Die fehlende Angabe der gesetzlichen Merkmale der rechtswidrigen Taten im Haftbefehl vom 4. September 2019 steht der Fortdauer der Untersuchungshaft nicht entgegen. Gemäß § 114 Abs. 2 Nr. 2 StPO muss der Haftbefehl - ebenso wie ein Anklagesatz - neben der Schilderung des örtlich und zeitlich umgrenzten Lebenssachverhalts und der Benennung der anzuwendenden Strafvorschriften deren abstrakte Tatbestandsmerkmale enthalten. Die in § 114 Abs. 2 StPO normierte Begründungspflicht dient der Selbstkontrolle der Richter, der Unterrichtung des Angeklagten und seines Verteidigers und der Nachprüfung durch das Rechtsmittelgericht; sie konkretisiert den Anspruch des Angeklagten auf rechtliches Gehör (Graf in Karlsruher Kommentar zur StPO, 8. Aufl., § 114 Rn. 4 mwN). Die fehlende Angabe der gesetzlichen Merkmale der rechtswidrigen Taten macht den Haftbefehl aber nicht unwirksam und hindert die Fortdauer der Untersuchungshaft nicht. Die Sachverhaltsschilderung und die angegebenen Strafvorschriften informieren den Angeklagten über die ihm zur Last gelegten rechtswidrigen Taten, auf die die Anordnung der Untersuchungshaft gestützt wird. Aus dem Anklagesatz der Staatsanwaltschaft vom 18. Dezember 2019 kann der Angeklagte die gesetzlichen Merkmale der rechtswidrigen Taten entnehmen. Hierdurch wird ihm die für seine Verteidigung erforderliche Information vermittelt und sein Anspruch auf rechtliches Gehör in Bezug auf die Untersuchungshaft erfüllt.

2. Der Angeklagte ist nach Aktenlage der ihm im Haftbefehl vom 4. September 2019 zur Last gelegten Taten nach wie vor dringend verdächtig.

Maßgebend für die Beurteilung des dringenden Tatverdachts ist, da in der ausgesetzten Hauptverhandlung weder ein Urteil ergangen noch die Beweisaufnahme abgeschlossen worden ist, entsprechend der Prüfung bei noch nicht begonnener Hauptverhandlung grundsätzlich das sich aus den Akten ergebende Ermittlungsergebnis (vgl. nur Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl., § 112 Rn. 7).

Der dringende Tatverdacht folgt aus dem Ergebnis der bislang durchgeführten polizeilichen Ermittlungen. Er ergibt sich bei vorläufiger Bewertung insbesondere aufgrund folgender Umstände:

Der Angeklagte hat die ihm im Haftbefehl vom 4. September 2019 zur Last gelegten Sachverhalte in seiner Beschuldigtenvernehmung vom 5. November 2019 grundsätzlich eingeräumt und sich zu den Einzelheiten der von ihm getätigten Betäubungsmittelverkäufe geäußert.

Seine geständigen Angaben finden Bestätigung und Ergänzung insbesondere durch die Feststellungen im Urteil des Amtsgerichts S. betreffend die getrennt verfolgte Abnehmerin T. und die Aussagen des getrennt verfolgten R., der Zeuginnen K. und O. sowie die Angaben der ermittlungsführenden Beamten, die Lichtbilder von der Durchsuchung am 3. September 2019, die bei der Durchsuchung am 3. September 2019 sichergestellten Betäubungsmittel und Verpackungsmaterialien sowie die Erkenntnisse aus den ausgewerteten Mobiltelefonen.

Menge, Art und Wirkstoffgehalt der am 3. September 2019 sichergestellten Betäubungsmittel ergeben sich aus dem Untersuchungsbericht des Landeskriminalamtes vom 25. Oktober 2019.

3. Es besteht weiterhin der Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO.

a) Fluchtgefahr ist anzunehmen, wenn die Würdigung aller Umstände des Falles es wahrscheinlicher macht, dass sich der Angeklagte dem Strafverfahren entziehen als dass er sich ihm zur Verfügung halten werde (BGH, Beschluss vom 8. Mai 2014 - 1 StR 726/13, juris). Die Beurteilung der Fluchtgefahr erfordert die Berücksichtigung aller Umstände des Falles, insbesondere der Art der vorgeworfenen Tat, der Persönlichkeit des Angeklagten, seiner Lebensverhältnisse, seines Vorlebens sowie seines Verhaltens vor und nach der Tat (Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl., § 112 Rn. 19). Dabei kann die Straferwartung für sich genommen die Fluchtgefahr in der Regel zwar nicht begründen. Sie ist vielmehr Ausgangspunkt für die Erwägung, ob der durch sie hervorgerufene Fluchtanreiz auch unter Beachtung aller sonstigen Umstände so erheblich ist, dass er die Annahme rechtfertigt, der Angeklagte würde ihm nachgeben und wahrscheinlich flüchten. Je höher die zu erwartende Strafe ist, desto weniger Gewicht ist auf andere Umstände zu legen (Schmitt, aaO, Rn. 24 mwN).

b) Der Angeklagte hat - unabhängig von der exakten Anzahl der ihnen vorgeworfenen Taten und trotz des gewichtigen Geständnisses - mit der Verhängung einer mehrjährigen Freiheitsstrafe weit oberhalb des bewährungsfähigen Bereichs zu rechnen. Ihm liegen mehrere Verbrechen zur Last, mithin eine Vielzahl schwerwiegender Straftaten. Aufgrund der Anzahl der Taten, des Tatbildes und des Unrechtsgehaltes kommen nach vorläufiger Würdigung minder schwere Fälle jeweils nicht in Betracht. Schon der Umfang des Betäubungsmittelhandels und die Art und Gefährlichkeit des Betäubungsmittels lassen eine hohe Sanktion erwarten. Hiervon geht ein sehr erheblicher Fluchtanreiz aus. Schafft die beträchtliche Straferwartung bereits einen Anreiz zur Flucht, so wird dieser durch die persönliche Situation des Angeklagten noch erheblich verstärkt. Dem hohen Fluchtanreiz stehen keinerlei hinreichend tragfähigen Bindungen sozialer, wirtschaftlicher oder familiärer Art gegenüber, die dem Angeklagten ein Untertauchen oder Absetzen ins Ausland nennenswert erschweren würden. Er ist ecuadorianischer Staatsangehöriger und hat nach vorläufiger Würdigung keinen gemeldeten festen Wohnsitz in der Bundesrepublik. Er hielt sich in den letzten Jahren zumindest teilweise in Ecuador, Spanien und in den Niederlanden auf, wo er auch die Schule besuchte. Eine Schwester von ihm lebt in den Niederlanden, mit der er in engem Kontakt steht und von wo er das Methamphetamin nach S. verbracht und an verschiedene Abnehmer gewinnbringend veräußert haben soll. Zudem verfügt er über Kontakte in Spanien, wo ein Cousin lebt. Es ist daher davon auszugehen, dass er sich jederzeit aufgrund der familiären Verbindungen ins Ausland hinwenden und innerhalb der geknüpften Kontakte im Betäubungsmittelmilieu dem weiteren Strafverfahren und einer drohenden Strafvollstreckung entziehen könnte.

Bei Betrachtung all dieser Umstände erachtet der Senat es als wahrscheinlicher, dass der Angeklagte dem in der zu verbüßenden Freiheitsstrafe liegenden Fluchtanreiz nachgeben als dass er sich dem Strafverfahren und vor allem auch dem drohenden langjährigen Strafvollzug stellen wird.

3. Die Untersuchungshaft ist gemessen an der Schwere der Tatvorwürfe und der Höhe der zu erwartenden Strafe und der Stärke des Tatverdachts auch unter Berücksichtigung ihrer Gesamtdauer weiterhin verhältnismäßig (§ 112 Abs. 1 Satz 2 StPO). Durch mildere Maßnahmen im Sinne von § 116 StPO kann der Zweck der Untersuchungshaft nicht erreicht werden.

4. Die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus ist erforderlich, weil ein (anderer) wichtiger Grund bislang den Erlass eines Urteils nicht zugelassen hat (§ 121 Abs. 1 StPO).

a) Das verfassungsrechtlich verankerte Beschleunigungsgebot, das für das gesamte Ermittlungs- und Strafverfahren gilt und bei Vollzug freiheitsentziehender Maßnahmen besondere Beachtung verlangt, gebietet, dass die Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um die notwendigen Ermittlungen mit der gebotenen Schnelligkeit abzuschließen sowie eine gerichtliche Entscheidung über die dem Angeklagten vorgeworfenen Taten herbeizuführen (BVerfG, Kammerbeschluss vom 6. Juni 2007 - 2 BvR 917/07, juris Rn. 22; BGH, Beschluss vom 28. Juli 2016 - AK 41/16, juris). Dabei ist nicht entscheidend, ob eine einzelne verzögert durchgeführte Verfahrenshandlung ein wesentliches Ausmaß annimmt, sondern ob die Verfahrensverzögerungen in ihrer Gesamtheit einen Umfang erreichen, der im Rahmen der Abwägung die Fortdauer der Untersuchungshaft nicht mehr erlaubt (KG Berlin, Beschluss vom 15. August 2013 - 4 Ws 108/13, juris Rn. 10). Überdies sind an den zügigen Fortgang des Verfahrens und an das Vorliegen eines wichtigen Grundes im Sinne von § 121 Abs. 1 StPO umso strengere Anforderungen zu stellen, je länger die Untersuchungshaft andauert (BVerfG in ständiger Rechtsprechung, z.B. Beschluss vom 30. September 1999 - 2 BvR 1775/99 und Beschluss vom 1. August 2018 - 2 BvR 1258/18, juris). Bei entsprechendem Gewicht der zu ahndenden Straftat kann aber auch eine kleine Verfahrensverzögerung noch hinnehmbar sein (BVerfG, Beschluss vom 11. Juni 2018 - 2 BvR 819/18, juris Rn. 29; BVerfG, Beschluss vom 5. Dezember 2005 - 2 BvR 1964/05, juris). Für die Bejahung einer signifikanten Verfahrensverzögerung ist entscheidend, ob sie eine Schwelle erreicht, die im Rahmen der Abwägung die Anordnung einer weiteren Fortdauer der Untersuchungshaft nicht mehr erlaubt (BVerfG, Beschluss vom 13. Mai 2009 - 2 BvR 388/09, juris).

b) Nach diesem Maßstab und den zum jetzigen Zeitpunkt zu stellenden Anforderungen ist die Fortdauer der Untersuchungshaft vorliegend noch gerechtfertigt.

aa) Das Verfahren wurde bislang mit der gebotenen Beschleunigung geführt. Die Ermittlungen des Polizeipräsidiums S. lassen keine verzögerte Bearbeitung erkennen. Am Tag der Festnahme des Angeklagten am 3. September 2019 erfolgten Durchsuchungen und Vernehmungen weiterer tatverdächtiger Personen. Nach Inhaftierung des Angeklagten und insbesondere der Durchführung kriminaltechnischer Maßnahmen im Hinblick auf die Auslesung und Auswertung elektronischer Datenträger des gesondert verfolgten Hallmann wurden überdies Zeugen vernommen und die polizeilichen Ermittlungen nach der Vernehmung des (nunmehr aussagebereiten) Angeklagten am 5. November 2019 und Abfassung eines Ermittlungsberichtes abgeschlossen und der Staatsanwaltschaft vorgelegt, wo die Akten am 3. Dezember 2019 eingingen. Am 18. Dezember 2019 erhob die Staatsanwaltschaft Anklage, welche am selben Tag beim Landgericht einging. Auch gegen das weitere Vorgehen durch das Landgericht ist nichts zu erinnern. Am 19. Dezember 2019 wurde die Zustellung der Anklageschrift unter Gewährung einer zweiwöchigen Erklärungsfrist verfügt. Bereits am 2. Januar 2020 stimmte die Vorsitzende der zuständigen Großen Strafkammer für den Fall der Eröffnung des Hauptverfahrens mögliche Verhandlungstermine mit dem Verteidiger des Angeklagten für Ende Februar und März 2020 ab. Desgleichen zeugen die Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens und Terminierung am 29. Januar 2020 sowie der Beginn und die Fortsetzung der Hauptverhandlung am 21. Februar 2020 und 3. März 2020 von einer zügigen Verfahrensgestaltung durch das Landgericht.

bb) Die nunmehr nach dem zweiten Hauptverhandlungstermin beschlossene Aussetzung der Hauptverhandlung und die damit verbundene gewisse zeitliche Verzögerung sind den besonderen Maßnahmen infolge der COVID-19-Pandemie geschuldet und in Abwägung aller Umstände derzeit noch vertretbar. Dass das Verfahren ausgesetzt wurde, ist ausschließlich durch die in Rede stehende vom Dienstherrn angeordnete zweiwöchige Quarantäne des bisher in den erkennenden Spruchkörper als beisitzender Berufsrichter eingebundenen Richters und mithin einen Umstand veranlasst, auf den die Strafverfolgungsbehörden und das mit der Sache befasste Gericht keinen Einfluss hatten und dem durch geeignete Maßnahmen zumutbar nicht begegnet werden konnte.

Diese Quarantänemaßnahme stellt - entgegen der vom Verteidiger des Angeklagten vertretenen Ansicht - einen anderen wichtigen Grund im Sinne des §121 Abs.1 StPO dar, der die Fortdauer der Untersuchungshaft trotz der hierdurch eingetretenen Verzögerung rechtfertigt. Hintergrund der vom OLG Koblenz mit Beschluss vom 27. September 1996 ((2) 4420 BL - III - 94/96, StV 1997, 146 = NStZ 1997, 252) entschiedenen Haftprüfung, auf die der Verteidiger Bezug nimmt, war eine zur Verfahrensverzögerung führende Überlastung des Gerichts infolge unterbliebener organisatorischer Maßnahmen der Gerichts- und Justizverwaltung, die mit den vorliegenden Gegebenheiten nicht zu vergleichen ist.

Für die Annahme eines „anderen wichtigen Grundes“, der von seinem Gewicht her den in § 121 Abs. 1 StPO namentlich genannten Gründen gleichstehen muss (vgl. Schmitt, aaO, § 121 Rn. 18; Hilger in: Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl., § 121, Rn. 28), kommt es entscheidend darauf an, ob die für die Strafverfolgung verantwortlichen Behörden und Gerichte ihrerseits alle zumutbaren Maßnahmen getroffen haben, das Verfahren so schnell wie möglich abzuschließen und ein Urteil herbeizuführen (vgl. nur BVerfG, Kammerbeschluss vom 4. August 1994 - 2 BvR 1291/94, juris Rn. 13; BGH, Beschluss vom 23. Juli 1991 - AK 29/91, BGHSt 38, 43). Einen wichtigen Grund bilden z. B. nicht behebbare und unabwendbare Schwierigkeiten oder unvorhersehbare Zufälle und schicksalhafte Ereignisse, wie etwa die krankheitsbedingte Verhinderung unentbehrlicher Verfahrensbeteiligter (Schultheis in Karlsruher Kommentar, StPO, 8. Aufl., § 121 Rn. 16 mwN; KG Berlin, Beschluss vom 24. Februar 2009 - 1 Ws 25 - 27/09, juris). Auch die Erkrankung eines Verfahrensbeteiligten mit einer hochansteckenden Krankheit, die an sich keinen Hinderungsgrund darstellt, aber eine erhebliche Gefährdung anderer in sich birgt, kann einen solchen Grund darstellen (OLG Karlsruhe, Beschluss vom 30. März 2020 - HEs 1 Ws 84/20, juris Rn. 11 unter Hinweis auf OLG Hamburg, Beschluss vom 20. November 2015 - 1 Ws 148/15, juris; OLG Hamm, Beschluss vom 17. April 2008 - 4 OBL 18/08, juris: Haftfortdauer bei einer hoch ansteckenden Erkrankung des Angeklagten und Ungewissheit über die Dauer seiner Verhandlungsunfähigkeit). Dem ist nach Auffassung des Senats die Quarantäneanordnung zur Vermeidung der Verbreitung der COVID-19-Pandemie bei einem dem gerichtlichen Spruchkörper angehörenden Richter gleichzusetzen. Hierbei handelt es sich um einen anderen, auf den Verfahrensgang ausstrahlenden Umstand außerhalb des Einwirkungsbereichs der Justiz.

Die in Rede stehende nicht vorhersehbare Quarantänemaßnahme stand der planmäßigen Fortführung der Hauptverhandlung entgegen. Die von der Strafkammer getroffene Entscheidung, die Hauptverhandlung auszusetzen, erfolgte auf Grundlage der Entwicklung der Erkenntnisse der Wissenschaft zu dem neuartigen Coronavirus und dem prognostizierten Fortschreiten der Pandemie und orientierte sich an der maßgeblichen Empfehlung der Landesregierung Baden-Württemberg zur Bewältigung der COVID-19-Pandemie (vgl. insbesondere den Erlass des Ministeriums der Justiz und für Europa vom 14. März 2020 JUMRI-JUM-1400-3/1/3), was sich in Ermangelung eigener gerichtlicher und sonstig wissenschaftlich augenblicklich vorhandener Sachkunde des Gerichts auch aufdrängt. Nachdem das für die Empfehlung der Landesregierung und den Erlass des Justizministeriums maßgebliche Prinzip der Kontaktvermeidung nicht nur dem unmittelbaren Schutz von erhöht gefährdeten Personen, sondern vornehmlich der gesamtgesellschaftlich notwendigen Verringerung der Infektionsrate dient, bestand die Notwendigkeit einer Aussetzung der Hauptverhandlung, die bei Beginn und Unterbrechung der Hauptverhandlung nicht abzusehen war. Die Aussetzung der Hauptverhandlung war bei den vorliegenden Gegebenheiten unumgänglich. Die rechtliche Möglichkeit einer Unterbrechung der Hauptverhandlung über drei Wochen hinaus (§ 229 Abs. 1 StPO) bestand zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Aussetzung der Hauptverhandlung noch nicht, da das Gesetz zur Abmilderung der Folgen der COVID-19-Pandemie im Zivil-, Insolvenz und Strafverfahrensrecht vom 27. März 2020 erst am 28. März 2020 in Kraft getreten ist (BGBl. 2020 Teil I Nr. 14 vom 27. März 2020, S. 574). Mit diesem Gesetz ist in § 10 des Einführungsgesetzes zur Strafprozessordnung (EGStPO) nunmehr ein befristeter Hemmungstatbestand für die Unterbrechung einer strafgerichtlichen Hauptverhandlung geschaffen worden, der auf die aktuellen Maßnahmen zur Vermeidung der Verbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 abstellt. Damit soll verhindert werden, dass eine Hauptverhandlung aufgrund der aktuellen Einschränkungen des öffentlichen Lebens ausgesetzt und neu begonnen werden muss. Der Tatbestand ist weit gefasst und erfasst sämtliche Gründe, die der ordnungsgemäßen Durchführung einer Hauptverhandlung aufgrund von Infektionsschutzmaßnahmen entgegenstehen (vgl. BT- Drucks. 19/18110, S. 32 f.). Unter Zugrundelegung und Berücksichtigung dieser Erwägungen sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass die Entscheidung der Strafkammer vom 23. März 2020 leichtfertig oder unter Verkennung der hohen Bedeutung des Freiheitsgrundrechts des inhaftierten Angeklagten getroffen wurde.

Ausweislich der Darlegungen im Vorlageschreiben der Vorsitzenden vom 23. März 2020 und des damit vorgelegten Telefonvermerks vom 23. März 2020 zwischen dem Berichterstatter und dem Präsidenten des Landgerichts ist von einem Ende der Quarantäne mit Ablauf des 5. April 2020 auszugehen. Insoweit ist nichts dagegen zu erinnern, dass sich die Strafkammer bei der Aussetzungsentscheidung offenbar von der Annahme leiten ließ, nach Beendigung der Quarantänemaßnahme Anfang April eine Neuterminierung vornehmen zu können. Aus dem Erlass des Justizministeriums Baden-Württemberg vom 14. März 2020 und der Verordnung der Landesregierung Baden-Württemberg über infektionsschützende Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus SARS-CoV-2 (CoronaVO) vom 17. März 2020, wonach öffentliche Schulen oder Hochschulen (§§ 1 und 2 CoronaVO) sowie andere Einrichtungen (§ 4 CoronaVO) am 20. April 2020 wieder ihren Betrieb aufnehmen können sollen, ergeben sich zumindest nachvollziehbare Hinweise darauf, dass die Gefährdungslage ab Ende April 2020 die Durchführung der Hauptverhandlung in dieser Sache zulassen könnte. Zwar ist dies wegen der dynamischen, in weiten Teilen unvorhersehbaren Entwicklung der Pandemie und ihrer Auswirkungen keineswegs sicher. Jeglicher Grundlage entbehrt diese optimistische Annahme jedoch nicht (so auch OLG Karlsruhe, aaO, Rn. 13). Im Übrigen sind bevorstehende, bereits zum gegenwärtigen Zeitpunkt absehbare weitere Verfahrensverzögerungen - die nicht anders zu behandeln wären als bereits eingetretene (vgl. BVerfG, stattgebender Kammerbeschluss vom 29. November 2005 - 2 BvR 1737/05, juris Rn. 32 mwN) - nicht ersichtlich. Vor diesem Hintergrund ist mit einem zeitnahen Neubeginn der Hauptverhandlung zu rechnen und von einer straffen, den verfassungsgerichtlichen Vorgaben zur notwendigen Verhandlungsdichte in Haftsachen genügenden Terminierung auszugehen.

Der Senat geht davon aus, dass die Strafkammer unverzüglich nach Rückgabe der Akten einen neuen Termin zur Hauptverhandlung bestimmen wird und das Verfahren schnellstmöglich durchgeführt und jedenfalls in erster Instanz beendet werden kann.

Wenngleich eine bereits erfolgte Terminabsprache bzw. detaillierte Angaben zur Terminauslastung der Strafkammer wünschenswert gewesen wären, ist die Schwelle zu einer nicht hinnehmbaren Verfahrensverzögerung vor dem Hintergrund des bisherigen Verfahrensganges bei der erforderlichen Gesamtschau und Gesamtabwägung unter Berücksichtigung des hohen Gewichts der Tatvorwürfe sowie der durch die Neuterminierung bewirkten Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus noch nicht überschritten. Bei seiner Beurteilung hat der Senat überdies berücksichtigt, dass sich der Angeklagte bei dem nach der derzeitigen Beurteilung frühestmöglichen Beginn der Hauptverhandlung Anfang Mai 2020 längstens acht Monate in Untersuchungshaft befunden haben wird. Dies ist vorliegend noch vertretbar, da der Strafkammer eine frühere Neuterminierung aufgrund der beschriebenen Gegebenheiten nicht möglich war, was angesichts der relativ geringen Verzögerung noch hinnehmbar ist.

Für das weitere Verfahren weist der Senat vorsorglich auf Folgendes hin:

Falls die Hauptverhandlung entgegen der Erwartungen nicht zeitnah durchgeführt werden kann, werden strengere Anforderungen an die zur Sicherung der Hauptverhandlung zu ergreifenden Maßnahmen zu stellen sein. So wird das Gericht zu prüfen haben, welche konkreten Maßnahmen ergriffen werden können, um das Infektionsrisiko während und im unmittelbaren Umfeld der Verhandlung auf ein vertretbares Maß zu senken; eine Beschränkung des Publikums auf ein gesetzlich zulässiges Maß (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt aaO, GVG § 169 Rn. 5) kann in diesem Zusammenhang in Erwägung gezogen werden. Jedenfalls sind die Anstrengungen und die der Durchführung der Hauptverhandlung entgegenstehenden Gründe zu dokumentieren, um die Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Fortdauer der Untersuchungshaft im Hinblick auf § 121 Abs. 1 und 2 StPO sowie dem allgemeinen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu ermöglichen.

5. Die Übertragung der Haftprüfung auf das allgemein zuständige Gericht beruht auf § 122 Abs. 3 Satz 3 StPO.


Einsender: RA H. Stehr, Göppingen

Anmerkung:


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