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Entscheidungen

Corona

U-Haft, Haftfortdauer, Corona, Sicherungsverteidiger, anderer wichtiger Grund

Gericht / Entscheidungsdatum: OLG Stuttgart, Beschl. v. 06.04.2020 - H 4 Ws 72/20

Leitsatz: 1. Nicht behebbare unabwendbare Schwierigkeiten oder unvorhersehbare Zufälle und schicksalhafte Ereignisse, wie etwa die krankheitsbedingte, zur Aussetzung der Hauptverhandlung zwingende Verhinderung unentbehrlicher Verfahrensbeteiligter stellen einen wichtigen Grund im Sinne des § 121 Abs. 1 StPO dar.
2. Ein solcher wichtiger Grund kann auch in der aktuell rapide fortschreitenden COVID-19-Pandemie bestehen, wenn sich das Gericht nicht in der Lage sieht, das Ansteckungsrisiko der Verfahrensbeteiligten, der Bediensteten des Gerichts, der Sicherheitsbeamten und des Publikums im Einklang mit den Vorschriften über das Verfahren, namentlich der zur Sicherung der Verteidigungsrechte und zur Gewährleistung der Öffentlichkeit der Hauptverhandlung, auf ein vertretbares Maß zu reduzieren.
3. Dem zur Entscheidung berufenen Spruchkörper steht bei der Einschätzung, ob und welche Maßnahmen zur Senkung des Ansteckungsrisikos geeignet und zumutbar sind, ein – vom Oberlandesgericht im Haftprüfungsverfahren nach § 121 ff. StPO nur eingeschränkt überprüfbarer– Beurteilungsspielraum zu.
1. -3. Anschluss an OLG Karlsruhe, Beschl. v. 30. März 2020 - HEs 1 Ws 84/20s
4. Dabei wird allerdings - auch unter Berücksichtigung der hohen Bedeutung des Rechts, von einem Verteidiger des Vertrauens verteidigt zu werden - ernsthaft zu prüfen sein, ob die Bestellung eines anderen Verteidigers erforderlich wird, wenn allein das besondere Gesundheitsrisiko des bisherigen Pflichtverteidigers einem dem Beschleunigungsgebot entsprechenden Fortgang des Verfahrens entgegenstehen sollte.


H 4 Ws 72/20

Oberlandesgericht Stuttgart
4. STRAFSENAT

Beschluss
vom 6. April 2020

in dem Strafverfahren gegen

Verteidiger:
wegen Verstoßes gegen das BtMG

Die Untersuchungshaft des Angeklagten hat fortzudauern.

Eine etwa erforderliche weitere Haftprüfung durch das Oberlandesgericht findet in drei Monaten statt.

Bis zu diesem Zeitpunkt wird die Haftprüfung dem nach allgemeinen Grundsätzen zuständigen Gericht übertragen.

Gründe:

I.

Der Angeklagte befindet sich nach vorläufiger Festnahme am 8. Oktober 2019 seit 9. Oktober 2019 aufgrund des an diesem Tag erlassenen und eröffneten Haftbefehls des Amtsgerichts H. in Untersuchungshaft.

Dem Angeklagten wird in dem wegen Fluchtgefahr erlassenen Haftbefehl vorgeworfen, ab der zweiten Septemberhälfte 2019 im Raum H. und Umgebung einen gewinnbringenden Handel mit Marihuana mit einem Mindestwirkstoffgehalt von 10 % THC, mit Haschisch mit einem Mindestwirkstoffgehalt von 5 % THC sowie mit clonazepamhaltigen Tabletten (Rivotril) und buprenorphinhaltigen Tabletten (Subutex) getrieben zu haben, um sich auf diese Weise eine Einnahmequelle von einigem Umfang, einiger Dauer und zur Erzielung beträchtlicher Gewinne zu verschaffen. Dabei soll er diesem Zusammenhang am 28. oder 29. September 2019 während eines Besuchs beim Zeugen und Anzeigeerstatter M. eine Plastiktüte mit insgesamt 523,6 Gramm Marihuana in dessen Garage deponiert haben, um dieses Rauschgift bis zum gewinnbringenden Weiterverkauf dort zu lagern. Außerdem soll der Angeklagte dem M. eine weitere Tüte mit Marihuana, die ebenfalls rund 500 Gramm Marihuana enthielt, das der Angeklagte zum gewinnbringenden Weiterverkauf vorrätig hielt, gezeigt haben (Tat 1). Weiter soll der Angeklagte am 8. Oktober 2020 gegen 12.08 Uhr in H. in einer Plastiktüte 910 clonazepamhaltigen Tabletten (Rivotril), 952 buprenorphinhaltige Tabletten mit dem Handelsnamen Subutex und in seiner Jackentasche zwei Haschischbrocken mit einem Gesamtgewicht von circa 157 Gramm mit sich geführt haben, um all dies gewinnbringend weiterzuverkaufen. Außerdem soll er 2540 verschreibungspflichtige Tabletten mit dem Wirkstoff Pregabalin sowie einen gefälschten französischen Reisepass mit sich geführt haben (Tat 2).

In der mittlerweile zum Amtsgericht – Schöffengericht – H. erhobenen Anklage wird ihm weiter vorgeworfen, dass er die Tabletten und das Haschisch in den Tagen zuvor in Frankreich erworben, übernommen und nach Deutschland verbracht habe. Außerdem soll er zusätzlich eine gefälschte französische Identitätskarte sowie einen gefälschten französischen Führerschein bei sich gehabt haben. Alle drei Dokumente lauten auf eine nichtexistierende Person. Der Angeklagte soll die Dokumente mit sich getragen haben, um im Zusammenhang mit seinen illegalen Arznei- und Betäubungsmittelgeschäften seine Identität zu verschleiern, etwa bei einem Grenzübertritt oder bei der Anmietung eines Fahrzeugs für Beschaffungsfahrten.

Das mit der Sache befasst Amtsgericht hat einen zunächst auf 20. März 2020 bestimmten Termin zur Hauptverhandlung auf Antrag des Pflichtverteidigers am 16. März 2020 wegen der COVID-19-Pandemie aufgehoben und neuen Termin zur Hauptverhandlung auf den 21. April 2020 bestimmt. Es hält die Haftfortdauer für erforderlich und hat am 16. März 2020 die Akten zur Haftprüfung gemäß § 122 StPO dem Oberlandesgericht vorgelegt. Die Generalstaatsanwaltschaft beantragt, Haftfortdauer über sechs Monate hinaus anzuordnen.

II.

Die nach § 121 Abs. 2, § 122 StPO vorzunehmende Haftprüfung ergibt, dass die Untersuchungshaft über die Dauer von sechs Monaten hinaus aufrechterhalten werden darf.

1. Der Angeklagte ist dringend verdächtig, die im Haftbefehl des Amtsgerichts aufgeführten zwei Taten des unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Mengen begangen zu haben. Hinzukommt, dass mittlerweile der dringende Verdacht besteht, dass er wegen der Tat 2 auch wegen einer tateinheitlichen unerlaubten Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit vorsätzlichem unerlaubtem Handeltreiben mit verschreibungspflichtigen Arzneimitteln sowie wegen des Verschaffens von drei falschen amtlichen Ausweisen schuldig ist.

Der dringende Tatverdacht ergibt sich aus den im wesentlichen Ermittlungsergebnis der Anklageschrift dargestellten Beweismitteln, auf welche der Senat nach eigener Prüfung der Beweislage Bezug nehmen kann. Der dringende Tatverdacht ergibt sich dabei im Wesentlichen durch die Angaben des Zeugen und Hinweisgebers Mohamed Tamim, auf Grund dessen Angaben auch die Festnahme des Angeklagten und die Sicherstellung der Betäubungsmittel und Arzneimittel erfolgen konnte. Weiter wird der Angeklagte, der bisher keine Angaben macht, u. a. durch die Angaben der Polizeibeamten S. und E. zur Festnahme und Sicherstellung der Beweismittel sowie durch die kriminaltechnischen Gutachten zu Untersuchungen des Landeskriminalamts hinsichtlich der Totalfälschungen der sichergestellten Ausweisdokumente und zur Analyse und Bewertung der sichergestellten Betäubungsmittel und Arzneimittel schwer belastet.

2. Der Haftgrund der Fluchtgefahr nach § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO liegt vor.

Wenngleich die Straferwartung für sich betrachtet die Fluchtgefahr in der Regel nicht begründen kann, ist sie der Ausgangspunkt für die Erwägung, ob der in ihr liegende Anreiz zur Flucht auch unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände so erheblich ist, dass er die Annahme rechtfertigt, ein Angeklagter werde ihm nachgeben und wahrscheinlich flüchten (Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl., § 112 Rn. 24 mwN). Je höher die zu erwartende Strafe ist, desto weniger Gewicht ist auf weitere Umstände zu legen (OLG Hamm NStZ-RR 2010, 158; Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, aaO).

Zunächst steht im Falle einer Verurteilung des bisher schweigenden Angeklagten angesichts der eingeführten Menge an Betäubungsmittel bei Tat 2 eine ausgesprochen hohe (Gesamt-)Straferwartung im Raum. Diese leitet sich bei der Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge aus dem anzuwendenden Strafrahmen des § 30 Abs. 1 BtMG mit einer Mindeststrafe von zwei Jahren ab. Die Annahme eines minder schweren Falls und somit die Möglichkeit einer zur Bewährung aussetzungsfähigen Strafe scheint mit Blick auf den Unrechtsgehalt des Tuns schon angesichts der Menge und Vielfalt der Substanzen und des Versuchs, den Zeugen M. in sein Unrecht zu verstricken, alles andere als naheliegend. Der Angeklagte hat die Taten nur sehr kurz nach Entlassung aus dem Vollzug, mutmaßlich von Ersatzfreiheitsstrafe(n), begangen und muss somit als besonders rechtsfeindlich und unbelehrbar gelten.

Zur hohen Straferwartung treten weitere fluchtbegründende Umstände hinzu. Der An-geklagte mit algerischer Staatsangehörigkeit hatte vor der Festnahme keinen gemeldeten festen Wohnsitz im Inland und unterhielt offenkundig rege Beziehungen ins Ausland, besonders zu Landsleuten in Frankreich. Fluchthemmende Bindungen im Inland weist er nicht auf, er ist ledig und lebte offenkundig nach seinen Angaben gegenüber dem Zeugen M. schon seit langer Zeit vom Betäubungsmittelhandel. Dabei hat er Kontakte zu Lieferanten und organisierten, arbeitsteiligen und auf Konspiration bedachten Betäubungsmittelhändlern. Durch seine Kontakte ins Drogenmilieu hat er - so ist dringend zu befürchten - genügend Möglichkeiten und Kontaktpersonen, die ihn bei einer Flucht oder einem Untertauchen unterstützen würden, zumal er durch das Mitsichführen von total gefälschten Dokumenten beweisen hat, dass er willens und in der Lage ist, sich durch konspirative Maßnahmen Strafverfolgungsmaßnahmen zu entziehen.

All diese Faktoren begründen in der Gesamtschau eine so instabile Lebenssituation, die ebenso wie die dargelegte Straferwartung die dringende Besorgnis nährt, dass sich der Angeklagte dem weiteren Verfahren und einer ggf. drohenden sehr langen Strafvollstreckung durch Flucht oder zumindest Untertauchen entziehen würde.

3. Der weitere Vollzug der Untersuchungshaft steht weder zu der Bedeutung der Sache noch zur Straferwartung außer Verhältnis (§ 112 Abs. 1 Satz 2, § 120 Abs. 1 Satz 1 StPO). Durch weniger einschneidende Maßnahmen (§ 116 StPO) kann der Fluchtgefahr weder durch Sicherheitsleistungen noch durch Auflagen effektiv entgegengewirkt werden.

4. Auch die besonderen Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus liegen vor. Das in Haftsachen geltende Gebot der besonderen Verfahrensbeschleunigung ist gewahrt. Wegen eines wichtigen Grundes, welcher die Fortdauer der Untersuchungshaft rechtfertigt, konnte ein Urteil noch nicht ergehen (§ 121 Abs. 1 StPO).

a) Bei der Anordnung und Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft ist stets das Span-nungsverhältnis zwischen dem in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleisteten Recht des Einzelnen auf persönliche Freiheit und den unabweisbaren Bedürfnissen einer wirksamen Strafverfolgung zu beachten. Grundsätzlich darf nur einem rechtskräftig Verurteiltem die Freiheit entzogen werden. Der Entzug der Freiheit eines der Straftat lediglich Verdächtigen ist wegen der Unschuldsvermutung, die ihre Wurzel im Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG hat und auch in Art. 6 Abs. 2 EMRK ausdrücklich hervorgehoben ist, nur ausnahmsweise zulässig. Dabei muss den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlich und zweckmäßig erscheinenden Freiheitsbeschränkungen der Freiheitsanspruch des noch nicht rechtskräftig verurteilten Beschuldigten als Korrektiv gegenübergestellt werden, wobei dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eine maßgebliche Bedeutung zukommt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 23. Januar 2019 – 2 BvR 2429/18 -, NJW 2019, 915 mwN). Dabei sind an den zügigen Fortgang des Verfahrens und an das Vorliegen eines wichtigen Grundes im Sinne von § 121 Abs. 1 StPO umso strengere Anforderungen zu stellen, je länger die Untersuchungshaft andauert (BVerfG in ständiger Rechtsprechung, z. B. Beschluss vom 23. Januar 2008 - 2 BvR 262/07, juris Rn. 40 ff.).

Bei der Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch des Untersuchungsgefangenen und dem Strafverfolgungsinteresse des Staates kommt es vor allem auf die durch objektive Kriterien bestimmte Angemessenheit der Verfahrensdauer an, die von der Komplexität der Rechtssache, dem Umfang der Ermittlungen, einem möglichen Auslandsbezug und der Anzahl der beteiligten Personen abhängig sein kann. Zu würdigen sind auch die voraussichtliche Gesamtdauer des Verfahrens und die für den Fall einer Verurteilung konkret im Raum stehende Straferwartung. Dabei ist nicht entscheidend, ob eine einzelne verzögert durchgeführte Verfahrenshandlung ein wesentliches Ausmaß annimmt, sondern ob die Verfahrensverzögerungen in ihrer Gesamtheit einen Umfang erreichen, der im Rahmen der Abwägung die Fortdauer der Untersuchungshaft nicht mehr erlaubt (KG Berlin, StV 2014, 233 ff.). Von dem Beschuldigten nicht zu vertretende, sachlich nicht gerechtfertigte und vermeidbare erhebliche Verfahrensverzögerungen stehen regelmäßig einer weiteren Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft entgegen.

b) Nach diesem Maßstab und den zum jetzigen Zeitpunkt zu stellenden Anforderungen ist die Fortdauer der Untersuchungshaft vorliegend noch gerechtfertigt. Das Verfahren wurde bisher mit der gebotenen Beschleunigung geführt. Nach der vorläufigen Festnahme des Angeklagten ermittelte die Polizei ohne nennenswerte Bearbeitungslücken. U. a. mussten kriminaltechnische Gutachten eingeholt und die sichergestellten Mobilfunkgeräte und SIM-Karten ausgewertet werden. Bereits am 18. Dezember 2019 konnten die Akten der Staatsanwaltschaft vorgelegt werden. Sie verfasste am 7. Januar 2020 die Anklageschrift, die am 9. Januar 2020 beim Amtsgericht einging. Der Vorsitzende des Schöffengerichts verfügte noch an diesem Tag unter Gewährung einer einwöchigen Erklärungsfrist die Zustellung der Anklage. Bereits am 6. Februar 2020 eröffnete der Vorsitzende das Hauptverfahren und bestimmte nach Absprache mit dem mittlerweile zum Pflichtverteidiger beigeordneten Rechtsanwalt als Verhandlungstermin den 20. März 2020. Am 16. März 2020 beantragte der Verteidiger eine Verlegung des Hauptverhandlungstermins, weil er (gerichtsbekannt) gesundheitlich massiv durch einen Herzinfarkt vorgeschädigt sei und deshalb zu einer Risikogruppe für die aktuell grassierende Coronainfektion zähle. Der Vorsitzende kam diesem Antrag nach und sprach noch am selben Tag, dem 16. März 2020, telefonisch einen neuen Hauptverhandlungstermin mit dem Verteidiger für den 21. April 2020 ab und verfügte sofort die Verlegung des Hauptverhandlungstermins. Der neue Hauptverhandlungstermin soll somit nur zwei Tage nach Ablauf der im Erlass des Justizministeriums vom 14. März 2020 angeordneten Schutzmaßnahmen zum 19. April 2020 stattfinden. Eine frühere Terminierung schien dem Vorsitzenden nach seiner Einschätzung angesichts der geltenden „Isolationsmaßnahmen“ auch unter Berücksichtigung der aktuell für den Verteidiger bestehenden massiven Gesundheitsgefahr nicht möglich.

Nachdem die Eröffnung des Hauptverfahrens nur knapp einen Monat nach Anklageeingang beschlossen wurde, der Beginn der Hauptverhandlung nur gut eineinhalb Monate später und insgesamt nach weniger als sechs Monaten Inhaftierung anstehen sollte und nach Planung des Vorsitzenden und angesichts der erdrückenden Beweislage realistischerweise sogar ein Urteil erster Instanz an diesem Tag zu erwarten war, ist der Verfahrensverlauf bis zur Aufhebung des Termins vom 20. März 2020 in keiner Weise zu beanstanden und entsprach in jedem Belang dem Beschleunigungsgebot.

Es besteht ein anderer wichtiger Grund im Sinne des § 121 Abs. 1, Abs. 3 Satz 3 StPO, der es rechtfertigt, den Vollzug der Untersuchungshaft gegen den Angeklagten über sechs Monate hinaus aufrechtzuerhalten. Die Verlegung der Hauptverhandlung unter Anordnung der Fortdauer der Untersuchungshaft war hier aus sachlichen Gründen zwingend geboten bzw. unumgänglich; sie beruht nicht auf vermeidbaren, den Strafverfolgungsbehörden zuzurechnenden Fehlern oder Versäumnissen, vielmehr beruht die Aussetzung der Hauptverhandlung auf außergewöhnlichen und von niemandem zu vertretenden Umständen. Nicht behebbare unabwendbare Schwierigkeiten oder unvorhersehbare Zufälle und schicksalhafte Ereignisse, wie etwa die krankheitsbedingte, zur Aussetzung der Hauptverhandlung zwingende Verhinderung unentbehrlicher Verfahrensbeteiligter stellen einen wichtigen Grund im Sinne des § 121 Abs. 1 StPO dar (vgl. OLG Karlsruhe, Beschluss vom 30. März 2020 - HEs 1 Ws 84/20 - juris unter Hinweis auf BVerfG, Beschluss vom 12. Dezember 1973 – 2 BvR 558/73 –, BVerfGE 36, 264). Auch die Erkrankung eines Verfahrensbeteiligten mit einer hochansteckenden Krankheit, die an sich keinen Hinderungsgrund darstellt, aber eine erhebliche Gefährdung anderer in sich birgt, kann einen solchen Grund darstellen (vgl. OLG Hamburg, Beschluss vom 20. November 2015 – 1 Ws 148/15 –, juris). In Anbetracht der zwischenzeitlich als nachgewiesen anzusehenden hohen Ansteckungsgefahr, der vermutlich hohen Anzahl unentdeckter Infektionen und des derzeit noch nicht abschließend einschätzbaren Ausmaßes schwerer bis tödlicher Krankheitsverläufe kann ein solcher wichtiger Grund deshalb auch in der aktuell rapide fortschreitenden COVID-19-Pandemie bestehen, wenn sich das Gericht – wie hier – nicht in der Lage sieht, das Ansteckungsrisiko der Verfahrensbeteiligten, der Bediensteten des Gerichts, der Sicherheitsbeamten und des Publikums im Einklang mit den Vorschriften über das Verfahren, namentlich der zur Sicherung der Verteidigungsrechte und zur Gewährleistung der Öffentlichkeit der Hauptverhandlung, auf ein vertretbares Maß zu reduzieren (vgl. OLG Karlsruhe, aaO). Dem zur Entscheidung berufenen Spruchkörper steht bei der Einschätzung, ob und welche Maßnahmen zur Senkung des Ansteckungsrisikos geeignet und zumutbar sind, ein – vom Senat nur eingeschränkt überprüfbarer– Beurteilungsspielraum zu (OLG Karlsruhe, aaO). Es ist nicht zu beanstanden, dass sich das Amtsgericht hier auf Grundlage der Entwicklung der Erkenntnisse der Wissenschaft zu diesem neuartigen Virus und dem prognostizierten Fortschreiten der Pandemie an der maßgeblichen Empfehlung der Landesregierung Baden-Württemberg zur Bewältigung der COVID-19-Pandemie (vgl. insbesondere den Erlass des Ministeriums der Justiz und für Europa vom 14. März 2020, JUMRI-JUM-1400-3/1/3) orientiert hat, was sich in Ermangelung eigener gerichtlicher und sonstig wissenschaftlich augenblicklich vorhandener Sachkunde des Gerichts auch aufdrängt. Nachdem das für die Empfehlung der Landesregierung und den Erlass des Justizministeriums maßgebliche Prinzip der Kontaktvermeidung auch dem unmittelbaren Schutz von erhöht gefährdeten Personen dient und mit dem Verteidiger einer der direkten Verfahrensbeteiligten zu einer akuten Risikogruppe gehört, bestand für das Schöffengericht hier Anlass zu prüfen, ob die Hauptverhandlung wie geplant durchgeführt werden kann oder zu verschieben ist. Es ist kein Anhaltspunkt dafür ersichtlich, dass die Entscheidung hier leichtfertig, gar willkürlich oder unter Verkennung der hohen Bedeutung des Freiheitsgrundrechts des inhaftierten Angeklagten getroffen worden wäre.

Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass das Schöffengericht sofort entschieden hat, wann die Hauptverhandlung durchgeführt werden soll und damit ein Urteil zu erwarten ist. Insoweit ist nichts dagegen zu erinnern, dass sich das Amtsgericht offenbar bei der Aussetzungsentscheidung von der Annahme leiten ließ, die Hauptverhandlung bereits am 21. April 2020 durchführen zu können. Zwar ist dies wegen der dynamischen, in weiten Teilen unvorhersehbaren Entwicklung der Pandemie und ihrer Auswirkungen keineswegs sicher. Jeglicher Grundlage entbehrt diese optimistische Annahme jedoch nicht. So ergeben sich nicht nur aus dem Erlass des Justizministeriums Baden-Württemberg vom 14. März 2020, sondern auch aus der Verordnung der Landesregierung Baden-Württemberg über infektionsschützende Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus SARS-CoV-2 (CoronaVO) vom 17. März 2020, wonach öffentliche Schulen oder Hochschulen (§§ 1 und 2 CoronaVO) sowie andere Einrichtungen (§ 4 CoronaVO) am 20. April 2020 wieder ihren Betrieb aufnehmen sollen, zumindest nachvollziehbare Hinweise darauf, dass die Gefährdungslage jedenfalls die Durchführung der Hauptverhandlung in dieser Sache mit einer überschaubaren Anzahl Beteiligter und voraussichtlich nur relativ kurzer Dauer bei Anwendung sichernder Vorsorgemaßnahmen und unter Wahl eines ausreichend großen Verhandlungssaal, in dem die einzuhaltenden Abstände gewahrt werden können, zulassen könnte. Jedenfalls kann auch bei der derzeitig nicht absehbaren Entwicklung der COVID-19-Pandemie die vom Vorsitzenden derzeit beabsichtige Anberaumung des neuen Hauptverhandlungstermins nicht als ersichtlich undurchführbar bewertet werden.

Angesichts der zu erwartenden Strafe, des bisher zügigen Verfahrensverlaufs und der Dauer der bisherigen Untersuchungshaft ist deren Fortdauer auch noch verhältnismäßig.
Für das weitere Verfahren weist der Senat vorsorglich auf Folgendes hin: Das Gewicht des Freiheitsanspruchs des Angeklagten vergrößert sich regelmäßig gegenüber dem Strafverfolgungsinteresse mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft; an einen zügigen Fortgang des Verfahrens sind daher umso strengere Anforderungen zu stellen, je länger die Untersuchungshaft bereits andauert (Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl. 2019, § 121 Rn. 1 mwN). Falls sich entgegen der Annahme des Vorsitzenden des Schöffengerichts die Gefährdungslage zum 21. April 2020 noch nicht in einem Maße verbessert haben sollte, dass die Hauptverhandlung ohne Weiteres durchgeführt werden kann, werden deshalb auch strengere Anforderungen an die zur Sicherung der Durchführung der Hauptverhandlung zu ergreifenden Maßnahmen zu stellen sein. So wird das Gericht zu prüfen haben, welche konkreten Maßnahmen ergriffen werden können, um das Infektionsrisiko während und im unmittelbaren Umfeld der Verhandlung auf ein vertretbares Maß zu senken, wobei eine sachkundige Beratung, bspw. durch das Gesundheitsamt, angezeigt erscheint; eine Beschränkung des Publikums auf ein gesetzlich zulässiges Maß (vgl. Schmitt aaO, GVG § 169 Rn. 5) kann in diesem Zusammenhang in Erwägung gezogen werden. Sollten die erforderlichen Maßnahmen nicht in dem üblichen Sitzungssaal des Schöffengerichts umsetzbar sein, wird zudem die Verlegung der Hauptverhandlung in einen anderen Saal, gegebenenfalls sogar außerhalb des Amtsgerichts, zu erwägen sein. Auch wird - auch unter Berücksichtigung der hohen Bedeutung des Rechts, von einem Verteidiger des Vertrauens verteidigt zu werden - ernsthaft zu prüfen sein, ob die Bestellung eines anderen Verteidigers erforderlich wird, wenn allein noch das besondere Gesundheitsrisiko des bisherigen Pflichtverteidigers einem dem Beschleunigungsgebot entsprechenden Fortgang des Verfahrens entgegenstehen sollte. Jedenfalls sind die Anstrengungen des Gerichts und die der Durchführung der Hauptverhandlung entgegenstehenden Gründe zu dokumentieren, um die Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Fortdauer der Untersuchungshaft im Hinblick auf § 121 Abs. 1, Abs. 2 StPO sowie den allgemeinen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu ermöglichen.

Die Übertragung der Haftprüfung auf das allgemein zuständige Gericht beruht auf § 122 Abs. 3 Satz 3 StPO.


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