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Entscheidungen

Corona

Haftbeschwerde, dringender Tatverdacht, abgeschlossene Hauptverhandlung, Haftfortdauer, schicksalhaftes Ereignis, Corona-Pandemie

Gericht / Entscheidungsdatum: OLG Jena, Beschl. v. 30.04.2020 - 1 Ws 146/20

Leitsatz: 1. Die Bewertung des dringenden Tatverdachts, die das erkennende Gericht während laufender bzw. aufgrund bereits (durch Urteil) abgeschlossener Hauptverhandlung vornimmt, unterliegt im Haftbeschwerdeverfahren nur in eingeschränktem Umfang der Überprüfung durch das Beschwerdegericht.
2. Zur Rechtfertigung der Haftfortdauer bei Verfahrensverzögerungen durch unvorhersehbare, schicksalhafte Ereignisse (Stichwort: Corona-Pandemie).


Oberlandesgericht Jena
1 Ws 146/20

Beschluss

In dem Strafverfahren
gegen pp.
wegen Vergewaltigung u. a.
hier: Haftbeschwerde

hat auf die Beschwerde des Angeklagten gegen den Haftfortdauerbeschluss des Landgerichts - 3. Strafkammer - Erfurt vom 26.03.2020 der 1. Strafsenat des Thüringer Oberlandesgerichts in Jena durch Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht, Richter am Oberlandesgericht und Richter am Sozialgericht am 30.04.2020 beschlossen:

Die Beschwerde wird auf Kosten des Angeklagten verworfen.

Gründe:

I.

Der Angeklagte wurde am 02.04.2019 aufgrund des ihm am 03.04.2019 eröffneten Haftbefehls des Amtsgerichts Weimar vom 13.03.2019 festgenommen und befindet sich seitdem ununterbrochen in Untersuchungshaft.

Mit an die Anklage vom 05.06.2019 angepasstem und dem Angeklagten am Tag seines Erlasses eröffneten - auf den Haftgrund der Fluchtgefahr und subsidiär den der Wiederholungsgefahr gestützten - Haftbefehl des Amtsgerichts Weimar vom 25.06.2019 wird dem Angeklagten sexuelle Belästigung und Vergewaltigung vorgeworfen (§§ 177 Abs. 1, Abs. 5 Nr. 1, Nr. 3, Abs. 6 Nr. 1, 184i Abs. 1, Abs. 3, 53 StGB). Konkret wird ihm zur Last gelegt, die am pp. geborene pp. am 09.03.2018 berührt und an deren Hose gegriffen sowie versucht zu haben, die Hose zu öffnen und mit dieser am 06.03.2019 in seinem Kleinlastwagen zu einem von M. aus in Richtung M. gelegenen abgelegenen Waldstück gefahren und dort mit ihr - unter Abschneidung des einzigen Fluchtweges - gegen ihren erkannten Willen unter anderem den Oralverkehr vollzogen zu haben, indem er sie am Kopf festgehalten und ihr sein Glied in den Mund geschoben und hiernach ge-schlechtsverkehrähnliche Bewegungen ausgeführt habe und - nachdem sich die Geschädigte seinem Griff entwinden konnte - vor deren Augen weiter an seinem Glied bis zum Samenerguss manipuliert zu haben.

Mit Beschluss vom 25.06.2019 ließ das Amtsgericht Weimar die Anklage zur Hauptverhandlung zu, eröffnete das Hauptverfahren vor dem Jugendschöffengericht als Jugendschutzgericht und ordnete die Fortdauer der Untersuchungshaft aus dem Haftbefehl des Amtsgerichts Weimar vom 25.06.2019 an.

Im Ergebnis der vom 17.07. bis 02.10.2019 (6 Verhandlungstage) andauernden Hauptverhandlung sprach das Amtsgericht Weimar den Angeklagten mit Urteil vom 02.10.2019 der Vergewaltigung und der sexuellen Belästigung schuldig, verurteilte ihn zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 3 Jahren und 7 Monaten und ordnete mit Beschluss vom selben Tag die Fortdauer der Untersuchungshaft an.

Gegen das Urteil vom 02.10.2019 haben der Angeklagte mit Schriftsätzen seiner Verteidiger jeweils vom 04.10.2019 und die Staatsanwaltschaft mit Schriftsatz vom 03.10.2019 (letztere unter Beschränkung auf den Rechtsfolgenausspruch) Berufung eingelegt.

Seine auf den 09.12.2019 und den 15.01.2020 datierenden - gleichlautenden - Anträge auf mündliche Haftprüfung nahm der Angeklagte im Termin zur Haftprüfung am 07.02.2020 zurück.

Mit Verfügung vom 10.02.2020 bestimmte der Vorsitzende der 3. Strafkammer des Landgerichts Erfurt Termin zur Berufungshauptverhandlung auf den 26.03.2020 und Termine zur Fortsetzung auf den 27. und 30.03. sowie den 20., 23. und 24.04.2020.

Mit Beschluss vom 18.03.2020 hob der Vorsitzende alle Termine ab dem 26.03.2020 auf und kündigte an, dass neuer Termin von Amts wegen ergehe. Zur Begründung ist ausgeführt, dass wegen der Corona-Pandemie aus Schutzgründen nicht verhandelt werde.

Mit Schriftsatz seines Verteidigers PP2. vom 19.03.2020 stellte der Angeklagte Antrag auf mündliche Haftprüfung, Aufhebung des Haftbefehls des Amtsgerichts Weimar vom „13.03.2019“ und hilfsweise Gewährung von Haftverschonung.

Das Landgericht - 3. Strafkammer - Erfurt hat die Anträge nach Einholung einer Stellungnahme der Staatsanwaltschaft Erfurt mit näher begründetem Beschluss vom 26.03.2020 zurückgewiesen, Fortdauer der Untersuchungshaft angeordnet und hinsichtlich des weiteren Verfahrensgangs u. a. darauf hingewiesen, dass davon ausgegangen werde, dass die Berufungshauptverhandlung noch vor dem Sommer 2020 stattfinden könne.

Gegen den seinen Verteidigern am 30.03. bzw. 01.04.2020 zugestellten Haftfortdauerbeschluss richtet sich die mit Schriftsatz des Verteidigers PP1. am 08.04.2020 beim Landgericht Erfurt eingelegte und mit ihrer Einlegung näher begründete Beschwerde des Angeklagten vom selben Tag.

Das Landgericht Erfurt hat der Beschwerde mit Beschluss vom 14.04.2020 nicht abgeholfen und deren Vorlage an den Senat veranlasst.

Die Thüringer Generalstaatsanwaltschaft hat die Akten dem Senat am 22.04.2020 vorgelegt und in ihrer Stellungnahme vom 21.04.2020 beantragt, die Beschwerde als unbegründet zu verwerfen.

Dem ist der Angeklagte mit Schriftsatz seines Verteidigers PP1. vom 29.04.2020 entgegengetreten. Die weiteren Verfahrensbeteiligten haben von der ihnen eingeräumten Gelegenheit zur Stellungnahme keinen Gebrauch gemacht.

II.

1. Gegenstand des Beschwerdeverfahrens ist - als letzte vorausgegangene Haftentscheidung - der Haftfortdauerbeschluss des Landgerichts Erfurt vom 26.03.2020. Dass sich der Haftprüfungsantrag des Verteidigers PP2. vom 19.03.2020 unzutreffend gegen den zwischenzeitlich durch den Haftbefehl des Amtsgerichts Weimar vom 25.06.2020 vollständig ersetzen Haftbefehl desselben Gerichts vom „13.03.2020“ richtet - was auch das Landgericht übersieht, das den Haftbefehl des Amtsgerichts Weimar vom 25.06.2019 als „Haftfortdauerbeschluss“ bezeichnet - ist insoweit unschädlich.

Die zutreffend gegen die letzte Haftentscheidung der Strafkammer vom 26.03.2020 gerichtete Beschwerde des Verteidigers P. ist zulässig (§§ 117 Abs. 2, 304 Abs. 1 StPO), bleibt aber aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung und den ergänzenden Ausführungen der Thüringer Generalstaatsanwaltschaft in deren Stellungnahme vom 21.04.2020, auf die der Senat jeweils vorab Bezug nimmt, in der Sache ohne Erfolg.

2. Gemäß § 112 Abs. 1 StPO darf gegen einen Beschuldigten die Untersuchungshaft angeordnet werden, wenn er der ihm vorgeworfenen Tat(en) dringend verdächtig ist, ein Haftgrund besteht und die Untersuchungshaft zu der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung nicht außer Verhältnis steht.

Diese Voraussetzungen liegen hier weiterhin vor.

a) Das Fortbestehen des dringenden Tatverdachts der sexuellen Belästigung und Vergewaltigung ist vorliegend bereits durch die Gründe des Urteils des Amtsgerichts Weimar vom 02.10.2019 hinreichend belegt.

Die Bewertung des dringenden Tatverdachts, die das erkennende Gericht während laufender bzw. - wie hier - aufgrund bereits (durch Urteil) abgeschlossener Hauptverhandlung vornimmt, unterliegt im Haftbeschwerdeverfahren nur in eingeschränktem Umfang der Überprüfung durch das Beschwerdegericht (vgl. BGH NJW 2017, 341; ferner BGH NStZ-RR 2013, 16; BGH NStZ-RR 2013, 86; BGH StV 2000, 505; Senat, Beschl. v. 08.05.2014, 1 Ws 176/14, m. w. N., bei juris). Da die Hauptverhandlung regelmäßig eine bessere Erkenntnisgrundlage als der Akteninhalt vermittelt, ist nach Erlass eines nicht rechtskräftigen Urteils für die Annahme dringenden Tatverdachts grundsätzlich auf die Würdigung des Tatgerichts zurückzugreifen. Sie beruht auf dem Ergebnis der in der Hauptverhandlung durchgeführten Beweisaufnahme und Erörterung, mithin auf Erkenntnismöglichkeiten, die vom Beschwerdegericht nicht anders nachzuvollziehen sind, als sie das Urteil vermittelt. Die Verurteilung des Angeklagten in erster Instanz belegt daher in der Regel den dringenden Tatverdacht oder ist zumindest ein starkes Indiz für sein Vorliegen (OLG Hamm, Beschl. v. 05.06. 2008, Az. 3 Ws 220/08, m. w. N., bei juris). Das Beschwerdegericht hat demgegenüber keine eigenen unmittelbaren Erkenntnisse über den Verlauf der Beweisaufnahme und darf dementsprechend in die Beurteilung des dringenden Tatverdachts durch das Tatgericht nur dann eingreifen, wenn die angefochtene Haftentscheidung auf einer in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht unvertretbaren Wertung der für und gegen einen dringenden Tatverdacht sprechenden Umstände beruht bzw. wenn Anhaltspunkte für eine grob fehlerhafte Verkennung oder unzureichende Berücksichtigung wesentlicher Gesichtspunkte durch das Tatgericht vorliegen (vgl. Senat, Beschl. v. 14.10.2014, 1 Ws 469/14; KK-Graf, StPO, 8. Aufl., § 112 Rn. 7a).

Nach durch Urteil abgeschlossener Hauptverhandlung kommt eine Aufhebung des Haftbefehls durch das Beschwerdegericht mithin nur ganz ausnahmsweise bei offenkundiger Begründetheit des Rechtsmittels in Betracht (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl., § 117 Rn. 11b). Letzteres vermag der Senat nach Kenntnisnahme von den Urteilsgründen - ebenso wie die zuständige Berufungskammer in ihrem Haftfortdauerbeschluss vom 26.03.2020 - auch unter Berücksichtigung des gesamten Akteninhalts und der Beschwerdebegründung nicht zu erkennen.

b) Es bestehen weiterhin die Haftgründe der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 1 Nr. 2 StPO) und - subsidiär - der Wiederholungsgefahr (§ 112a Abs. 1 Nr. 1 StPO).

aa) Fluchtgefahr liegt vor, wenn die Würdigung aller Umstände des Einzelfalles es wahrscheinlicher macht, dass sich der Beschuldigte dem Strafverfahren entzieht, als dass er sich diesem zur Verfügung halten werde. Die Beurteilung der Fluchtgefahr erfordert die Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles, insbesondere der Art der dem Beschuldigten vorgeworfenen Tat, dessen Persönlichkeit, seiner Lebensverhältnisse, seines Vorlebens und seines Verhaltens vor und nach der Tat. Eine erhebliche Straferwartung kann allein die Fluchtgefahr nicht begründen. Sie ist jedoch Ausgangspunkt für die Erwägung, ob der in ihr liegende Anreiz zur Flucht auch unter Be-rücksichtigung aller sonstigen Umstände so erheblich ist, dass sich die Annahme rechtfertigt, der Beschuldigte werde diesem Anreiz wahrscheinlich nachgeben und flüchtig werden. Je größer die Straferwartung ist, desto weniger Gewicht ist auf weitere Umstände zu legen (vgl. Senat, Beschl. v. 29.11.2010, 1 Ws 457/10, Rn. 14, juris).

Vorliegend hat der Angeklagte wegen der ihm zur Last gelegten Straftaten, hinsichtlich derer er bereits in 1. Instanz zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 3 Jahren und 7 Monaten verurteilt worden ist, auch im Ergebnis der Berufungshauptverhandlung mit einer mehrjährigen empfindlichen Freiheitsstrafe zu rechnen, zumal mit Blick auf die Berufung der Staatsanwaltschaft das nicht unerhebliche Risiko besteht, dass die Berufungskammer (die bereits im Rahmen des Termins zur mündlichen Haftprüfung am 07.02.2020 darauf hingewiesen hatte, dass in Erwägung gezogen werden müsse, die Sache auch mit Blick auf ein weiteres anhängiges Verfahren gegen den Angeklagten der großen Strafkammer vorzulegen, da die Strafgewalt der Berufungskammer gegebe-nenfalls nicht ausreichen könnte) auf eine das bisherige Strafmaß übersteigende Freiheitsstrafe erkennt und weitere gesondert verfolgte und teilweise bereits angeklagte Straftaten im Raume stehen.

Daran ändern auch die mit der Beschwerde vorgebrachten Umstände nichts. Zwar kann insbesondere die geltend gemachte Rückkehr des Angeklagten von einer USA-Reise in Kenntnis des gegen ihn geführten Ermittlungsverfahrens und des gegen ihn erlassenen Haftbefehls ein gewichtiges Indiz gegen eine Fluchtgefahr darstellen. Insoweit ist aber zu berücksichtigen, dass die Ermittlungen seinerzeit noch am Anfang standen und der Angeklagte erkennbar noch davon ausgegangen war, die Angelegenheit „geregelt“ zu bekommen, wie sein Einwirken auf die Geschädigte noch am 06.03.2019 und auf den Zeugen pp. am 09.03.2019 belegt.

Auch den vermeintlich stabilen Familienverhältnissen kommt keine ausreichend fluchthemmende Wirkung zu, da der Angeklagte - selbst wenn seine Ehe noch Bestand und er regelmäßig Kontakt zu seiner Ehefrau haben sollte - zumindest konkret befürchten muss, dass sich seine - erheblich jüngere - Ehefrau aufgrund der zahlreichen - auch über das hiesige Verfahren hinausgehenden - Vorwürfe und auch von ihr gehegten Verdachte gegen den Angeklagten von ihm abwendet, zumal sie sich ausweislich ihrer Einlassungen im Rahmen der Vernehmungen am 25.04. und 26.07. 2019 - bereits von dem durch den Angeklagten selbst eingeräumten Geschehen - von ihm betrogen fühlt und angegeben hat, als Ehefrau verletzt und enttäuscht zu sein. Dass die dem Angeklagten vorgeworfene Vergewaltigung nunmehr über 1 Jahr zurückliegt, ohne dass eine Trennung bekannt geworden ist, steht dem nicht entgegen, da die Ehefrau des Angeklagten insoweit geäußert hat, dass eine Klärung nicht „zu diesem Zeitpunkt, sondern zu Hause“ stattfinden solle. Schließlich vermag auch die mehrfach herausgestellte Geschäftstätigkeit des Angeklagten das Risiko einer Flucht nicht nennenswert zu verringern. Insoweit muss der Angeklagte - ungeachtet der Frage, welche Auswirkungen die derzeitigen pandemiebedingten Einschränkungen auf den Bestand der durch den Angeklagten betriebenen Unternehmen haben - befürchten, dass sein unternehmerischer Ruf bereits durch das bisherige Verfahren erheblich gelitten hat und er seine Unternehmen im Falle des Eintritts der Rechtskraft seiner Verurteilung bis zur Entlassung aus der dann noch zu vollstreckenden Strafhaft ohnehin nicht mehr selbst wird führen können, selbst wenn er aus der Untersuchungshaft entlassen und sich um aktuelle Geschäfte kümmern würde.

bb) Daneben besteht - subsidiär - unverändert der Haftgrund der Wiederholungsgefahr, § 112a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO. Insoweit verweist der Senat auf die auch unter Berücksichtigung des Beschwerdevorbringens unverändert zutreffenden Erwägungen des Amtsgerichts Weimar im Haftbefehl vom 25.06.2019, die durch die zwischenzeitlich erfolgte erstinstanzliche Verurteilung wegen zweier Delikte mit sexuellem Bezug (davon eine Katalogtat i. S. d. § 112a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO) noch unterstrichen werden.

c) Die Verhältnismäßigkeit der Untersuchungshaft (§ 112 Abs. 1 Satz 2 StPO) ist mit Blick auf die Schwere des Schuldvorwurfs und die mit der erstinstanzlichen Verurteilung bereits konkretisierte Straferwartung, die mit 3 Jahren und 7 Monaten die Dauer der bisher seit dem 02.04.2019 vollzogenen Untersuchungshaft deutlich übersteigt, gewahrt.

3. Eine Aussetzung des Vollzugs nach § 116 StPO ist nicht möglich, weil der Zweck der Untersuchungshaft nicht durch geeignete mildere Maßnahmen erreicht werden kann. Nicht zuletzt in Anbetracht der hohen Straferwartung und der Erwägungen unter II.2.b) sieht der Senat keine ausreichende Vertrauensgrundlage, um dem Angeklagten Haftverschonung gewähren zu können. Dass die Staatsanwaltschaft „zu Beginn des Ermittlungsverfahrens“ von der Möglichkeit einer Außervollzugsetzung gegen Kaution in Höhe ausgegangen ist, wie die Verteidigung einwendet, ändert daran nichts.


4. Der Fortdauer der Untersuchungshaft steht bislang auch nicht die mit der Beschwerde gerügte Verletzung des Beschleunigungsgebots in Haftsachen entgegen.

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. etwa BVerfG, Beschluss vom 22.01.2014, Az. 2 BvR 2248/13, 2 BvR 2301/13, bei juris) setzt das verfassungsrechtliche Erfordernis der Verhältnismäßigkeit des Grundrechtseingriffs der Dauer der Untersuchungshaft unabhängig von der Straferwartung in dem zu sichernden Verfahren eine weitere Grenze, die mit dem verfassungsrechtlich in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG verankerten Beschleunigungsgrundsatz in Zusammenhang steht (vgl. BVerfGE 20, 45, 49; 53, 152, 158).

Der Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen verlangt, dass die Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um die notwendigen Ermittlungen mit der gebotenen Schnelligkeit abzuschließen und eine gerichtliche Entscheidung über die einem Beschuldigten vorgeworfenen Taten herbeizuführen, denn zur Durchführung eines geordneten Strafverfahrens und zur Sicherstellung der Strafvollstreckung kann die Untersuchungshaft dann nicht mehr als notwendig anerkannt werden, wenn ihre Fortdauer durch vermeidbare Verzögerungen verursacht ist. Von dem Beschuldigten nicht zu vertretende, sachlich nicht gerechtfertigte und vermeidbare Verfahrensverzögerungen stehen daher regelmäßig einer weiteren Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft entgegen (BVerfG, a. a. O.; Senat, Beschluss vom 23.01.2019, 1 Ws 13/19, Rn. 17 juris).

Gemessen daran ist der bisherige Verfahrensgang nicht zu beanstanden. Insbesondere ist nach der - mittlerweile ständigen - Senatsrechtsprechung nichts gegen den mit der Beschwerde primär angegriffenen Beschluss des Landgerichts Erfurt vom 18.03.2020 zu erinnern, mit dem die in den Monaten März und April 2020 zunächst vorgesehenen Verhandlungstermine wieder aufgehoben wurden. Denn diesem Aufschub der Hauptverhandlung liegt mit den zum betreffenden Zeitpunkt nach wissenschaftlichen Erkenntnissen dringend gebotenen und nicht nur bundes-, sondern weltweit ergriffenen pandemiebedingten Gefahrenabwehrmaßnahmen im Gesundheitssektor zum Schutz der Gesamtbevölkerung (COVID-19) ein nachvollziehbarer und wichtiger Grund im Sinne des § 121 Abs. 1 StPO zu Grunde (vgl. u. a. OLG Karlsruhe, Beschluss vom 30.03.2020, HEs 1 Ws 84/20, juris), der eine Verletzung des Beschleunigungsgebots ausschließt.

Hierzu hat der Senat in jüngster Vergangenheit - u. a. mit Blick auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Rechtfertigung der Haftfortdauer bei Verfahrensverzögerungen durch unvorhersehbare, schicksalhafte Ereignisse (vgl. etwa BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 23.01. 2019, 2 BvR 2429/18, juris) - bereits mehrfach entschieden, dass eine aus der pandemiebedingten Verschiebung von Hauptverhandlungen resultierende Verlängerung der Untersuchungshaft, die auf ein außerhalb der Sphäre der Justiz liegendes schicksalhaftes Ereignis zurückgeht, von den Betroffenen in gewissen Grenzen hinzunehmen ist (u. a. Beschl. v. 20.03.2020, Az. 1 Ws 77/20, u. v. 08.04.2020, 1 Ws 109/20). Dies gilt auch für den vorliegenden Fall, zumal die Hauptverhandlung nach derzeitiger - nicht zu beanstandender - Planung der Strafkammer jedenfalls zeitnah „noch vor dem Sommer“, mithin spätestens Juni 2020 beginnen soll.

Unangebracht erscheint in diesem Kontext der Vorwurf des Verteidigers PP2., dass die Berufungskammer seit über einem Monat „im Stillstand“ verharre, da bekanntermaßen erst mit der Dritten Thüringer Verordnung über erforderliche Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 (3. ThürSARS-CoV-2 EindmaßnVO) vom 18.04.2020 die Beschränkungen des öffentlichen Lebens teilweise zurückgenommenen wurden, ohne dass im Zeitpunkt des Inkrafttretens am 20.04.2020 absehbar war, wie sich die Lockerungen auf die erst zwei Wochen später seriös bewertbare Entwicklung der Infektionszahlen auswirkt.

Die darüber hinaus im Schriftsatz vom 20.04.2020 gewählte Formulierung „Totschlagsargument „Corona-Virus'“, mit der eine vermeintlich unnötige Verzögerung zu Lasten des „bereits seit über 13 Monaten in Untersuchungshaft“ befindlichen Angeklagten angeprangert werden soll, gerät angesichts der in zahllosen amtlichen Erklärungen und zuverlässigen Medien hinlänglich erläuterten Problemstellung der unbedingten Vermeidung einer drohenden - und in einigen Staaten mit einer Vielzahl von Todesfällen leidvoll erfahrenen - Überforderung des Gesundheitssystems bereits in den Bereich der Geschmacklosigkeit.

Soweit in diesem Zusammenhang betont wird, dass die Untersuchungshaft des Angeklagten bereits mehr als 1 Jahr andauert, führt dies ebenfalls zu keiner anderen Beurteilung, zumal während dieser Zeit bereits ein Urteil gegen den Angeklagten ergangen ist. Zwar gewinnt im Rahmen der gebotenen Abwägung des Freiheitsanspruchs des Untersuchungsgefangenen gegenüber dem Strafverfolgungsinteresse des Staates ersterer mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft an Gewicht. Allerdings vergrößert sich mit einer gerichtlichen Verurteilung auch das in die Abwägung einzustellende Gewicht des staatlichen Strafanspruchs, weil aufgrund einer durchgeführten Beweisaufnahme die Begehung einer Straftat durch den Verurteilten als erwiesen angesehen worden ist. Der Umstand, dass das Urteil noch nicht rechtskräftig ist, rechtfertigt keine andere Beurteilung. Die Einlegung eines Rechtsmittels hindert lediglich die Vollstreckung der durch das angegriffene Urteil ausgesprochenen Sanktionen bis zur Überprüfung durch das nächsthöhere Gericht. Sie beseitigt indessen nicht die Existenz des angegriffenen Urteils und damit den Umstand, dass auf der Grundlage eines gerichtlichen Verfahrens bereits ein Schuldnachweis gelungen ist (vgl. BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 29.12.2005, 2 BvR 2057/05, juris).

Ungeachtet dessen weist der Senat vorsorglich darauf hin, dass es angesichts der nach Maßgabe der 3. ThürSARS-CoV-2 EindmaßnVO vom 18.04.2020 teilweise zurückgenommenen Beschränkungen, die auch nach Ablauf der Inkubationszeit von ca. 2 Wochen keine Verschärfung erfahren haben, mit Blick auf den Freiheitsanspruch des - zwar immerhin in einem ersten Rechtszug, aber noch nicht rechtskräftig verurteilten - Angeklagten nunmehr geboten erscheint, unter Ausschöpfung der Möglichkeiten des Infektionsschutzes bei richterlichen Amtshandlungen, deren Ausgestaltung nach Art und Weise gem. § 3 Abs. 3 der 3. ThürSARS-CoV-2 EindmaßnVO dem Richter überlassen bleibt, alsbald auf eine zeitnahe Neuterminierung hinzuwirken.

5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 StPO.


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