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Entscheidungen

StPO

Berufungsverwerfung, Entschuldigung, ärztliches Attest

Gericht / Entscheidungsdatum: BayObLG, Beschl. v. 31.03.2020 - 202 StRR 29/20

Leitsatz: 1. Ärztliche Bescheinigungen und Atteste haben so lange als genügende Entschuldigung zu gelten, als nicht deren Unglaubwürdigkeit oder Unbrauchbarkeit feststeht; dies gilt auch dann, wenn sie dem Gericht lediglich als Kopie oder in digitaler Form per E-Mail übermittelt werden.
2. Etwas anderes kann nur gelten, wenn feststeht, dass die ärztliche Bescheinigung als unglaubwürdig oder unbrauchbar anzusehen oder das Entschuldigungsvorbringen aus der Luft gegriffen oder sonst ganz offensichtlich als ungeeignet anzusehen ist, das Ausbleiben zu entschuldigen. Hierfür ist nicht ausreichend, dass dem Angeklagten aufgrund von unbestätigten Feststellungen einer Anklage in einem anderen Verfahren in anderem Zusammenhang und zu anderen Zeiträumen u.a. Verfälschungen ärztlicher Bescheinigungen zur Last liegen.


In pp.

I. Auf die Revision der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts vom 31. Oktober 2019 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
II. Die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

I.

Das Amtsgericht hat die Angeklagte am 19.12.2018 wegen Erschleichens von Leistungen in fünf Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Monaten verurteilt. Ihre gegen dieses Urteil eingelegte Berufung hat das Landgericht mit dem angegriffenen Urteil vom 31.10.2019 in Anwesenheit des Verteidigers der Angeklagten ohne Verhandlung zur Sache nach § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO verworfen, weil die ordnungsgemäß zur Hauptverhandlung geladene Angeklagte zu dieser weder persönlich erschienen noch durch einen mit schriftlicher Vertretungsvollmacht versehenen Verteidiger vertreten und ihr Ausbleiben auch nicht genügend entschuldigt sei. Zwar habe die Angeklagte am Terminstag um 12.33 Uhr per E-Mail ein Schreiben vom Vortag und ein ebenfalls auf den 30.10.2019 datiertes ärztliches Attest jeweils in Kopie übersandt und in dem vorgenannten Schreiben unter Bezugnahme auf das beigefügte Attest mitgeteilt, dass sie derzeit nicht zur Verhandlung erscheinen könne. Gemäß dem übermittelten und verlesenen Attest der in ihm mit vollständig wiedergegebener Praxisanschrift namentlich benannten beiden Frauenärzte werde testiert, dass bei der Angeklagten eine Schwangerschaft bestehe und die Angeklagte bedingt durch diese an einer ‚Hyperemesis gravidarum' leide; „dringende Bettruhe“ sei „bereits am 02.10.2019 verordnet“ worden. Zur Klärung, „ob das lediglich in Kopie vorliegende Attest vom 30.10.2019“ tatsächlich von den in ihm benannten Frauenärzten ausgestellt worden sei, in welcher Schwangerschaftswoche sich die Angeklagte befinde, in welchem Ausmaß und mit welcher konkreten Symptomatik das attestierte übermäßige Schwangerschaftserbrechen bestehe und ob der Angeklagten deswegen eine Teilnahme an der Hauptverhandlung (tatsächlich) nicht möglich bzw. unzumutbar sei, sei durch den Vorsitzenden in der Berufungshauptverhandlung im Freibeweisverfahren versucht worden, die im Attest benannten Frauenärzte telefonisch zu erreichen. Allerdings habe sich nur ein Anrufbeantworter mit der Auskunft gemeldet, dass die Gemeinschaftspraxis zurzeit nicht besetzt sei und die Öffnungszeiten am Sitzungstag (31.10.2019) von 8.00 Uhr bis 12.00 Uhr sowie von 15.00 Uhr bis 18.00 Uhr und die telefonischen Sprechzeiten von 8.30 Uhr bis 12.00 Uhr und von 15.30 Uhr bis 17.30 Uhr seien.
Das Landgericht wertet das übermittelte Attest unabhängig von diesem Geschehen als „bereits deshalb unbrauchbar, weil es von der Angeklagten nicht im Original, sondern lediglich in Kopie vorgelegt wurde“. Denn ein ärztliches Attest müsse in der Regel im Original vorgelegt werden; die bloße Vorlage einer Kopie genüge „jedenfalls dann nicht, wenn das – angeblich vorhandene – Original des Attests dem Gericht ohne Angabe von Gründen vorenthalten“ werde. Im Übrigen könne die Kammer der per E-Mail übermittelte Kopie eines angeblichen Attests „schon deshalb keinen hinreichenden Beweiswert“ beimessen, weil nicht ersichtlich sei, „dass die Kopie mit einem entsprechenden Originaltext“ übereinstimme. Dies gelte umso mehr, als in der Berufungshauptverhandlung aus Beiakten der Staatsanwaltschaft festgestellt worden sei, dass der Angeklagten in diesem, zwischenzeitlich im Hinblick auf das vorliegende Verfahren gemäß § 154 Abs. 2 StPO eingestellten Verfahren mit zugelassener und in der Berufungshauptverhandlung verlesener Anklageschrift vom 20.03.2019 Betrug mit Urkundenfälschung in sieben tateinheitlichen Fällen zum Nachteil eines Jobcenters zur Last gelegen habe. Auch zur dortigen Hauptverhandlung am 08.07.2019 sei die Angeklagte mit der Begründung, ihre erkrankte Tochter betreuen zu müssen, nicht erschienen. Aus dem der Anklage des beigezogenen Verfahrens zugrunde liegenden Sachverhalt ergebe sich, dass die Angeklagte Leistungen nach dem SGB II unter der bewusst wahrheitswidrigen Angabe des Bestehens einer Schwangerschaft mit einem voraussichtlichen Entbindungstermin am 11.11.2017 beantragt und entsprechend ihrem Tatplan erhöhte Leistungen für ‚werdende Mütter‘ in Höhe einer Überzahlung von 812,54 Euro erhalten habe. Die Angeklagte habe hierzu zur Täuschung des um diesen Betrag geschädigten Jobcenters insgesamt 7 Totalfälschungen eingereicht, nämlich neben einem vermeintlichen Mutterpass 6 ärztliche Atteste, von denen keines von der als Ausstellerin bezeichneten Ärztin unterschrieben worden sei. Es habe deshalb – so die Berufungskammer weiter – zumindest entsprechenden Sachvortrags der Angeklagten dazu bedurft, in welcher Schwangerschaftswoche sie sich aktuell befinde, in welchem Ausmaß und mit welcher konkreten Symptomatik das übermäßige Schwangerschaftserbrechen bestehe und ob die angeblich schon am 02.10.2019 frauenärztlich attestierten Beschwerden auch noch zum Zeitpunkt der Berufungshauptverhandlung fortbestanden. Nur auf dieser Grundlage sei der Kammer eine rechtliche Bewertung ermöglicht, ob die Anwesenheit des Angeklagten in der Hauptverhandlung tatsächlich als unzumutbar anzusehen gewesen sei. Insoweit fehle es jedoch „an jeglichem schlüssigen Vortrag“ der Angeklagten.
Mit ihrer gegen das Verwerfungsurteil mit an diesem Tag eingegangenem handschriftlich verfasstem Verteidigerschreiben vom 13.12.2019 fristgerecht und zeitgleich mit einem – seit dem 08.02.2020 rechtskräftigem Beschluss des Landgerichts vom 09.01.2020 als unbegründet verworfenen – Antrag auf Wiedereinsetzung nach § 329 Abs. 7 StPO eingelegten und begründeten Revision rügt die Angeklagte sinngemäß das Verfahren, nämlich dass ihre Berufung nicht nach § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO hätte verworfen werden dürfen, weil ihr Ausbleiben genügend entschuldigt gewesen sei. Mit weiterem am 14.01.2020 eingegangenen Verteidigerschreiben vom 13.01.2010 wird die „Verletzung materiellen Rechts“ gerügt. Mit unerwidert gebliebener Zuleitungsschrift vom 10.03.2020 beantragt die Generalstaatsanwaltschaft, die Revision durch Beschluss gemäß § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet zu verwerfen.

II.

Die statthafte (§ 333 StPO) sowie form- und fristgerecht eingelegte und begründete Revision führt mit der den Begründungsanforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO genügenden Verfahrensrüge zum Erfolg, weil die Berufungskammer den Begriff der ‚genügenden Entschuldigung‘ im Sinne von § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO verkannt und deshalb das Fernbleiben der Angeklagten in der Berufungshauptverhandlung zu Unrecht als nicht genügend entschuldigt angesehen hat.

1. Die dem Rechtsmittel zum Erfolg verhelfende Rüge der Verletzung des § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO entspricht entgegen der Auffassung der Generalstaatsanwaltschaft und unbeschadet eines nach den Inhalten von handschriftlich abgefasster Einlegungsschrift vom 13.12.2019 und (eigentlicher) Begründungsschrift vom 13.01.2020 nicht ausschließbar unzutreffenden Verständnisses ihres Verfassers von der Einordnung als Verfahrensrüge noch den Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO jedenfalls insoweit, als mit ihr hinreichend bestimmt beanstandet wird, das Landgericht habe die mit dem ärztlichen Attest vom 30.10.2019 vorgetragene Erkrankung der Angeklagten zu Unrecht nicht als genügende Entschuldigung im Sinne von § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO anerkannt (zur Auslegungsfähigkeit oder ggf. Umdeutung des Rügevorbringens und zur Unschädlichkeit schlichter, auch auf einem Irrtum beruhender Falschbezeichnungen aufgrund des in § 300 StPO zum Ausdruck kommenden übergeordneten Rechtgedankens vgl. z.B. OLG Bamberg, Beschl. v. 30.06.2010 – 3 Ss OWi 854/10 = NZV 2011, 44; Urt. v. 24.07.2012 – 3 Ss 62/12 bei juris und Beschl. v. 06.12.2012 – 3 Ss 118/12 bei juris; vgl. auch BVerfG [2. Kammer des Zweiten Senats], Beschl. v. 09.12.2015 – 2 BvR 1043/15 bei juris; OLG Bamberg, Beschl. v. 27.09.2012 – 2 Ss OWi 1189/12 = NStZ 2013, 182 = OLGSt StPO § 300 Nr 3 und zuletzt OLG Saarbrücken, Beschl. v. 16.09.2019 – Ss 44/19 bei juris; ferner Meyer-Goßner/Schmitt StPO 62. Aufl. § 344 Rn. 10 ff.; KK/Gericke StPO 8. Aufl. § 344 Rn. 19 f. und LR/Franke StPO 26. Aufl. § 344 Nr. 70 ff., jeweils m.w.N.). Der geltend gemachte Entschuldigungsgrund selbst und die diesen nach Auffassung der Revision belegenden, durch den Akteninhalt bestätigten entsprechenden Urkunden bzw. Kopien werden bereits in der zusammen mit dem Wiedereinsetzungsgesuch nach § 329 Abs. 7 StPO „für den Fall der Verwerfung des Antrags auf Wiedereinsetzung“ eingereichten Revisionsschrift vom 13.12.2019 vollständig mitgeteilt. Die vom Vorsitzenden der Berufungskammer während der Berufungshauptverhandlung entfalteten freibeweislichen Bemühungen, einen der benannten Ärzte in den Praxisräumen fernmündlich u.a. zu den Umständen und Einzelheiten der Attestausstellung zu befragen und die Gründe des Scheiterns dieser Bemühungen ergeben sich aus deren vergleichsweise ausführlichen Darstellung in den Urteilsgründen, die dem Senat aufgrund der mit Verteidigerschreiben vom 13.01.2020 am 14.01.2020 noch fristgerecht angebrachten (unausgeführten) Sachrüge zugänglich sind. Damit ist sowohl die Beanstandung, das Landgericht habe den Begriff der genügenden Entschuldigung verkannt, als auch diejenige, das Gericht hätte bei Zweifeln am Vorliegen eines hinreichenden Entschuldigungsgrundes den Sachverhalt in dieser Richtung näher aufklären, jedenfalls bei fortbestehenden Zweifeln diese nicht zum Nachteil der Angeklagten werten dürfen, hinreichend mit Tatsachenvortrag belegt (zu den spezifischen Rügeanforderungen der Verletzung des § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO - teilweise auch für die mit diesen weitgehend übereinstimmenden Anforderungen an die Rüge der Verletzung des § 74 Abs. 2 Satz 1 OWiG – vgl. neben BayObLG, Beschl. v. 11.05.1998 – 1 ObOWi 169/98 = BayObLGSt 1998, 79 = StraFo 1999, 26 = NJW 1999, 879 u.a. OLG Bamberg, Beschl. v. 06.03.2013 – 3 Ss 20/13 = OLGSt StPO § 329 Nr 32; 12.09.2006 – 3 Ss OWi 1140/06 = wistra 2007, 79 und 26.02.2008 – 3 Ss 118/07 = OLGSt StPO § 329 Nr. 29; ferner OLG Bamberg, Beschl. v. 14.01.2009 – 2 Ss OWi 1623/08 = NStZ-RR 2009, 150 = VerkMitt 2009, Nr 32 = NZV 2009, 303 = OLGSt OWiG § 74 Nr 20; OLG Hamm, Beschl. v. 29.03.2012 – 5 RVs 99/11; 23.08.2012 – 3 RBs 170/12 und 30.10.2012 – 3 RVs 81/12; OLG Brandenburg, Beschl. v. 15.05.2012 – 53 Ss 60/12 = StraFo 2012, 270; OLG Celle, Beschl. v. 10.11.2011 – 32 Ss 130/11 bei juris; OLG Karlsruhe, Beschl. v. 28.10.2009 - 1 Ss 126/08 = NStZ-RR 2010, 287 sowie zuletzt OLG Saarbrücken a.a.O. und BayObLG, Beschl. v. 06.09.2019 – 202 ObOWi 1581/19 bei juris, jeweils m.w.N.; vgl. auch Meyer-Goßner/Schmitt a.a.O § 329 Rn. 48 und LR/Gössel a.a.O. § 329, Rn. 100 ff.; zur Frage der Bindungswirkung tatsächlicher Feststellungen eines Verwerfungsurteils nach § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO für das Revisionsgericht vgl. BGHSt 28, 384/386 ff.; KK/Paul a.a.O. § 329 Rn. 14 m.w.N.).

2. Die Verfahrensrüge ist auch begründet.

a) Der Begriff der 'genügenden Entschuldigung‘ darf nicht eng ausgelegt werden. Denn § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO enthält eine Ausnahme von dem Grundsatz, dass ohne den Angeklagten nicht verhandelt werden darf. Die Regelung birgt nicht nur die Gefahr eines sachlich unrichtigen Urteils in sich, sondern auch, dass dem Angeklagten das ihm nach Art. 103 Abs. 1 GG verbürgte rechtliche Gehör entzogen wird. Deshalb ist bei der Prüfung der vorgebrachten oder vorliegenden Entschuldigungsgründe eine weite Auslegung zugunsten des Angeklagten geboten.

aa) Eine Entschuldigung ist dann genügend, wenn die im Einzelfall abzuwägenden Belange des Angeklagten einerseits und seine öffentlich-rechtliche Pflicht zum Erscheinen in der Hauptverhandlung andererseits den Entschuldigungsgrund als triftig erscheinen lassen, d.h. wenn dem Angeklagten unter den gegebenen Umständen ein Erscheinen billigerweise nicht zumutbar war und ihm infolgedessen wegen seines Fernbleibens auch nicht der Vorwurf schuldhafter Pflichtverletzung gemacht werden kann. Entscheidend ist dabei nicht, ob sich der Angeklagte genügend entschuldigt hat, sondern ob er (objektiv) genügend entschuldigt ist. Den Angeklagten trifft daher hinsichtlich des Entschuldigungsgrundes grundsätzlich keine Pflicht zur Glaubhaftmachung oder gar zu einem lückenlosen Nachweis; vielmehr muss das Gericht, wenn ein konkreter Hinweis auf einen Entschuldigungsgrund vorliegt, dem im Rahmen seiner Aufklärungspflicht nachgehen (st.Rspr., vgl. z.B. BGHSt 17, 391/396; BGHR StPO § 329 Abs 1 Satz 1 Ladung 1; BayObLGSt 2001, 14/16; 1998, 79/81; BayObLG, Beschl. v. 19.10.2004 - 1 Ob OWi 442/04; OLG Stuttgart DAR 2004, 165, 166; OLG Bamberg, Urt. v. 26.2.2008 - 3 Ss 118/07 = OLGSt StPO § 329 Nr 29 und Beschl. v. 06.03.2013 – 3 Ss 20/13 = OLGSt StPO § 329 Nr 32 sowie - jeweils zur vergleichbaren Rechtslage für § 74 Abs. 2 OWiG - OLG Bamberg, Beschl. v. 12.09.2007 – 3 Ss OWi 1140/06 = wistra 2007, 79 14.01.2009 – 2 Ss OWi 1623/08 = NStZ-RR 2009, 150 = VerkMitt 2009 Nr 32 = NZV 2009, 303 = OLGSt OWiG § 74 Nr 20 28.11.2011 – 3 Ss OWi 1514/11 = ZfSch 2012, 230 = OLGSt StPO § 329 Nr 31 und 29.12.2010 – 2 Ss OWi 1939/10 = NZV 2011, 409 OLG Braunschweig, Beschl. v. 25.03.2010 - 3 Ss [OWiZ] 37/10 bei juris; KG, Beschl. v. 16.06.2010 - 3 Ws [B] 203/10 = VRS 119, 125 = DAR 2011, 146 OLG Bamberg, Beschl. v. 29.10.2018 – 3 Ss OWi 1464/18 = DAR 2019, 100 = NStZ 2019, 527 OLG Zweibrücken, Beschl. v. 19.01.2018 - 1 OWi 2 Ss Bs 84/17 = OLGSt OWiG § 74 Nr 24 KG, Beschl. v. 27.08. 2018 - 3 Ws [B] 194/18 = VRS 134 [2018], 143 und 09.07.2019 – 122 Ss 68/19 bei juris; OLG Brandenburg, Beschl. v. 26.08.2019 – 53 Ss-OWi 173/19 bei juris sowie zuletzt BayObLG, Beschl. v. 06.09.2019 - 202 ObOWi 1581/19 bei juris, jeweils m.w.N.).

bb) Bescheinigungen, insbesondere ärztliche Atteste haben daher so lange als genügende Entschuldigung zu gelten, als nicht deren Unglaubwürdigkeit oder Unbrauchbarkeit feststeht, es sei denn, das Vorbringen ist aus der Luft gegriffen oder sonst ganz offensichtlich ungeeignet, das Ausbleiben zu entschuldigen (BayObLG, Beschl. v. 12.02.2001 – 2St RR 17/01 = BayObLGSt 2001, 14/16). Bloße Zweifel an einer genügenden Entschuldigung dürfen nicht zu Lasten des Angeklagten gehen. Das Gericht ist in diesem Fall vielmehr gehalten, seinen Zweifeln – gegebenenfalls im Wege des Freibeweises – nachzugehen (st.Rspr.; vgl. schon BayObLG, Beschl. v. 11.05.1998 – 1 ObOWi 169/98 = BayObLGSt 1998, 79/82 = StraFo 1999, 26 = NJW 1999, 879).

cc) Die Nachforschungspflicht des Gerichts ist andererseits nicht grenzenlos. Ihre Auslösung setzt (wenigstens) voraus, dass der Angeklagte vor der Hauptverhandlung schlüssig einen Sachverhalt vorträgt oder vortragen lässt, der geeignet ist, sein Ausbleiben genügend zu entschuldigen, dem Gericht somit hinreichende Anhaltspunkte für eine genügende Entschuldigung zur Kenntnis gebracht sind. Nur dann ist er auch nicht verpflichtet, die Richtigkeit seines Vorbringens glaubhaft zu machen und durch Vorlage von geeigneten Unterlagen zu belegen. Eine andere Sicht wäre mit dem Gesetzeszweck, das Verfahren zu beschleunigen und den Angeklagten daran zu hindern, eine gerichtliche Entscheidung nach Gutdünken zu verzögern, indem er der Verhandlung fernbleibt, unvereinbar. In diesen Fällen muss das mit dem Beschleunigungsgebot konkurrierende Streben nach einer möglichst gerechten Sachentscheidung mit der Folge zurück treten, dass im Einzelfall auch ein möglicherweise sachlich unrichtiges Urteil in Kauf zu nehmen ist (BayObLG, Beschl. v. 06.09.2019 - 202 ObOWi 1581/19 bei juris m.w.N).

b) Nachdem die Angeklagte am Terminstag dem Landgericht ihr Schreiben vom Vortag und das ebenfalls als Ausstellungsdatum den 30.10.2019 ausweisende und in der Berufungshauptverhandlung verlesene ärztliche Attest per E-Mail übermittelte, war das Landgericht allein schon aufgrund der damit gegebenen konkreten Hinweise auf einen berechtigten Entschuldigungsgrund auch noch im Zeitpunkt der Hauptverhandlung gehalten, diesen Hinweisen im Rahmen seiner Aufklärungspflicht nachzugehen, insbesondere gegebenenfalls fortbestehende Zweifel selbst durch eine Anfrage bei den aus der augenscheinlich ärztlich unterzeichneten Bescheinigung hervorgehenden Ärzten abzuklären. Davon ist das Landgericht auch selbst ausgegangenen, wie die von ihm im Urteil geschilderten, wenn auch fehlgeschlagenen Bemühungen des Vorsitzenden um eine fernmündliche Abklärung belegen. Weiterer Erläuterungen oder eines weiteren Vortrags der Angeklagten bzw. ihres Verteidigers bedurfte es entgegen der Auffassung des Landgerichts bei dieser Sachlage nicht mehr. Insbesondere durfte die ‚Schlüssigkeit‘ des Entschuldigungsvorbringens nach dem nicht von der Angeklagten zu vertretenden Scheitern der von der Berufungskammer gleichwohl unternommenen freibeweislichen Anstrengungen um weitere Klärung nicht mit dem Argument relativiert werden, Attest und Begleitschreiben seien „lediglich in Kopie“ vorgelegt worden, was schon aufgrund der wegen der Eilbedürftigkeit angezeigten digitalen Übermittlung per E-Mail und der hierdurch bedingten Dateiformate der beigefügten Anlagen gar nicht anders möglich gewesen wäre und überdies auch nicht ausschließt, dass die Originale – wie von der Angeklagten im Übrigen in der E-Mail vom 31.10.2019 ausdrücklich angekündigt – auf dem Postweg versandt wurden. Aus dem gleichen Grund entbehrt aber auch die Annahme, das Original des Attests werde dem Gericht grundlos „vorenthalten“ einer berechtigenden Grundlage. Das Landgericht wäre damit gehalten gewesen, die verbleibende Ungewissheit hinsichtlich der Authentizität des übersandten Attests hinzunehmen und sich mit dem erlassenen Verwerfungsurteil nicht über die fortbestehenden und gerade nicht ausgeräumten Zweifel an der Berechtigung des Entschuldigungsvorbringens hinwegzusetzen.

c) Etwas anderes könnte nur dann gelten, wenn feststünde, dass die vorgelegte ärztliche Bescheinigung als unglaubwürdig oder unbrauchbar anzusehen oder das mit ihr begründete Entschuldigungsvorbringen aus der Luft gegriffen oder aus sonstigen Gründen ganz offensichtlich als ungeeignet anzusehen wäre, das Ausbleiben der Angeklagten zu entschuldigen (BayObLG, Beschl. v. 12.02.2001 – 2St RR 17/01 = BayObLGSt 2001, 14/16). Gründe dieser Art zeigt das angegriffene Urteil allerdings gerade nicht auf, und zwar auch nicht mit dem Hinweis auf bislang unbestätigte Feststellungen einer zugelassenen Anklage in einem anderen, von der Kammer beigezogenen Verfahren zu der Angeklagten dort in völlig anderem Zusammenhang und zu anderen Zeiträumen unter gänzlich anderen Umständen zur Last gelegten Tatvorwürfen, mögen diese auch rein äußerlich betrachtet gewisse Ähnlichkeiten zum hier allein relevanten und vom Senat zu beurteilenden prozessualen Geschehen aufweisen. Allein die Existenz dieser unbestätigten Tatvorwürfe durfte die Berufungskammer deshalb auch nicht zum Anlass nehmen, die Anforderungen an die Substantiierung des Entschuldigungsvorbringens über den erfolgten Sachvortrag der Angeklagten hinaus mit dem Ergebnis zu erhöhen, dass ihrem Entschuldigungsvorbringen jegliche Schlüssigkeit fehle. Da auch sonstige Gründe dafür, dass die übermittelte Bescheinigung als erwiesen falsch oder sonst als offensichtlich unrichtig oder unzureichend anzusehen wäre, nicht ersichtlich sind, blieb für das Landgericht offen, ob der Angeklagten das Erscheinen unter Berücksichtigung der attestierten Krankheit tatsächlich nicht zumutbar oder nicht möglich war, weshalb ihr Ausbleiben nicht als unentschuldigt hätte angesehen werden dürfen.

3. Die ebenfalls erhobene (unausgeführte) Sachrüge, über die der Senat aufgrund der vorstehenden Ausführungen nicht mehr zu entscheiden braucht, führte, da das angefochtene Verwerfungsurteil nach § 329 Abs. 1 StPO keinen sachlich-rechtlichen Inhalt hat, nur zur Prüfung der Frage, ob Verfahrenshindernisse vorliegen (vgl. neben BGHSt 21, 242 und BayObLGSt 2000, 138/140 u.a. OLG Bamberg, Beschl. v. 06.03.2013 – 3 Ss 20/13 = OLGSt StPO § 329 Nr 32; KG, Beschl. v. 16.09.2015 – 121 Ss 141/15 = NStZ 2016, 234 und zuletzt OLG Saarbrücken a.a.O.); solche sind weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.

III.

Nach alledem kann das angefochtene Urteil keinen Bestand haben, weil das Landgericht verfahrensfehlerhaft verbleibende Zweifeln an der ausweislich der Urteilsgründe von ihm selbst für möglich gehaltenen Existenz eines berechtigten und von der Angeklagten ausdrücklich geltend gemachten Entschuldigungsgrundes zu Lasten der Angeklagten gewertet und damit den Ausnahmecharakter der Bestimmung des § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO verkannt hat. Der Senat braucht deshalb nicht mehr darüber zu befinden, ob das Landgericht auch deshalb seine Aufklärungs- und Fürsorgepflicht verletzt hat, weil es nach dem durch die Praxisöffnungs- bzw. sprechzeiten bedingten Scheitern seiner Aufklärungsbemühungen trotz denkbarer weiterer und ebenfalls im Wege des Freibeweises zu bewerkstelligender Möglichkeiten zur Klärung der Sachlage, etwa des Versuchs, einen der behandelnden Frauenärzte unter einer privaten Rufnummer zu erreichen, von einer weiteren Aufklärung abgesehen hat.

IV.

Aufgrund des aufgezeigten Rechtsfehlers ist das angefochtene Urteil einschließlich der Feststellungen aufzuheben (§ 353 StPO) und die Sache gemäß § 354 Abs. 2 Satz 1 StPO zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere kleine Strafkammer des Landgerichts zurückzuverweisen.

V.

Der Senat entscheidet durch Beschluss gemäß § 349 Abs. 4 StPO.


Einsender: RiBayObLG Dr. G. Gieg, Bamberg

Anmerkung:


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