Gericht / Entscheidungsdatum: LG Magdeburg, Beschl. 15.05.2020 - 25 Qs 47/20 u. 48/20
Leitsatz: Ein Verbrechen wird einem Beschuldigten dann zur Last gelegt, wenn dem Beschuldigten förmlich, also in der Anklageschrift, dem Eröffnungsbeschluss oder einer Nachtragsanklage ein Verbrechen i.S.d. § 12 StGB "zur Last gelegt wird. Dem Beschuldigten wird jedoch auch im Stadium des Ermittlungsverfahrens "ein Verbrechen zur Last gelegt, wenn wegen eines solchen (lediglich) ermittelt wird.
LG Magdeburg
25 Qs 47/20 u., 48/20
Beschluss
In den Beschwerdesachen
gegen pp.
hat die 5. Große Strafkammer des Landgerichts Magdeburg durch die unterzeichnenden Richter am 04. Juni 2020 beschlossen:
Auf die sofortigen Beschwerden der Beschwerdeführer wird der Beschluss des Amtsgerichts Halberstadt vom 15.04.2020 - Az. 3 Gs 855 Js 81720/19 (164/20) - auf Kosten der Landeskasse, die auch die notwendigen Auslagen der Beschwerdeführer zu tragen hat, aufgehoben.
Dem Beschwerdeführer zu 1. wird Rechtsanwalt J. F. aus Br. als Pflichtverteidiger bestellt.
Der Beschwerdeführerin zu 2. wird Rechtsanwalt A. F. aus B. als Pflichtverteidiger bestellt.
I.
Die Staatsanwaltschaft M. führt gegen die Beschwerdeführer ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts des unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln.
Dem Ermittlungsverfahren liegt konkret zugrunde, dass der Zeuge D. anzeigte, dass die Beschwerdeführer in der Wohnung der Beschwerdeführerin zu 2. Methamphetamin (Crystal Meth) und Cannabis seit längerer Zeit in großen Mengen verkaufen. Am 17.03.2020 erfolgten die Durchsuchungen der Wohnungen der Beschwerdeführer, wobei in der Wohnung der Beschwerdeführerin zu 2. die Ermittlungsbehörden insgesamt 2,3 g Methamphetamin sicherstellten.
Der Beschwerdeführer zu 1. befand sich in einem anderen Ermittlungsverfahren aufgrund des Haftbefehls des Amtsgerichts Wernigerode - 6 Gs 835 Js 70451/20 (5/20) - seit dem 23.01.2020 in Untersuchungshaft. Mit Beschluss vom 23.01.2020 bestellte das Amtsgericht Wemigerode für den Beschwerdeführer zu 1. Rechtsanwalt J. F. aus Br. für die Haftbefehlsverkündung als Pflichtverteidiger.
Unter dem 04.03.2020 zeigte Rechtsanwalt J. F. die Verteidigung des Beschwerdeführers zu 1. an und beantragte die Bestellung als Pflichtverteidiger. Rechtsanwalt J. F. führte in der Antragsschrift aus, dass gegen den Beschwerdeführer zu 1. in dem Verfahren - 6 Gs 835 Js 70451/20 (5/20) - Untersuchungshaft vollstreckt werde und er für den Fall der Beiordnung das Wahlmandat niederlege.
Unter dem 12.03.2020 zeigte Rechtsanwalt A. F. aus B. die Verteidigung der Beschwerdeführerin zu 2. an und beantragte die Bestellung als Pflichtverteidiger. Rechtsanwalt A. F. führte in der Antragsschrift aus, dass der Beschwerdeführerin zu 2. möglicherweise ein Verbrechen zur Last gelegt werde und er für den Fall der Beiordnung das Wahlmandat niederlege.
Am 24.03.2020 endete die Untersuchungshaft des Beschwerdeführers zu 1. in dem Verfahren 6 Gs 835 Js 70451/20.
Mit Beschluss vom 15.04.2020 - Az. 3 Gs 855 Js 81720/19 (164/20) -, dem Beschwerdeführer zu 1. am 22.04.2020 und der Beschwerdeführerin zu 2. am 23.04.2020 zugestellt, lehnte das Amtsgericht Halberstadt die Bestellung von Rechtsanwalt J. F. als Pflichtverteidiger des Beschwerdeführers zu 1. und die Bestellung von Rechtsanwalt A. F. als Pflichtverteidiger der Beschwerdeführerin zu 2. ab. Zur Begründung führte das Gericht aus, dass die Voraussetzungen für eine Bestellung nicht vorlägen, da die Beschwerdeführer bereits jeweils einen Verteidiger gewählt hätten und die Anklageschrift noch nicht zugestellt worden sei. Ein Antrag der Staatsanwaltschaft gemäß § 141 Abs. 3 StPO liege nicht vor. Zudem sei dem Beschwerdeführer zu 1. durch das Amtsgericht Wernigerode Rechtsanwalt J. F. durch gesonderten Beschluss als Pflichtverteidiger bestellt worden, soweit gegen ihn die Untersuchungshaft vollstreckt werde.
Am 23.04.2020 legte Rechtsanwalt A. F. für die Beschwerdeführerin zu 2. gegen den Beschluss vom 15.04.2020 sofortige Beschwerde ein. Für den Fall der Beiordnung sei die Niederlegung des Wahlmandats angekündigt worden, so dass für die Argumentation des Amtsgerichts Halberstadt, dass die Beschwerdeführerin zu 2. bereits verteidigt werde, kein Raum bleibe. Im Übrigen sei die Beiordnung im Ermittlungsverfahren nach den neugeschaffenen Vorschriften der §§ 140, 141, 142 StPO beantragt worden. Danach stehe der Beschwerdeführerin zu 2. ein eigenes Antragsrecht zu und ein Antrag der Staatsanwaltschaft sei nicht erforderlich.
Am 24.04.2020 legte Rechtsanwalt J. F. für den Beschwerdeführer zu 1. gegen den Beschluss vom 15.04.2020 sofortige Beschwerde ein. Es sei anerkannt in der Rechtsprechung, dass selbst ohne Zusatzerklärung in dem Antrag auf Bestellung als Pflichtverteidiger konkludent die Niederlegung des Wahlmandats enthalten sei. Zudem sei durch die neugeschaffenen Vorschriften nun auch der Beschuldigte antragsberechtigt. Auch bis zur Erhebung der Anklage müsse nicht mehr gewartet werden. Der Verweis, dass dem Beschwerdeführer zu 1. in einem anderen Verfahren ein Pflichtverteidiger bestellt worden sei, sei unverständlich.
Unter dem 06.05.2020 nahm die Staatsanwaltschaft zu den Beschwerden der Beschwerdeführer Stellung. Es werde lediglich unsubstantiiert gemutmaßt, dass ein Verbrechen vorliegen könne. Darüber hinaus habe der Gesetzgeber in § 141 Abs. 1 StPO nun klargestellt, dass in den Fällen der notwendigen Verteidigung, bei denen dem Beschuldigten der Tatvorwurf eröffnet worden sei und dieser noch keinen Verteidiger habe, ein solcher zu bestellen sei. Durch die Neueinfügung des Wortes und sei demonstrativ klargestellt worden, dass der Beschuldigte für die Bestellung keinen (Wahl-)Verteidiger haben dürfe.
II.
Die zulässigen sofortigen Beschwerden sind begründet.
Es liegt jeweils ein Fall der notwendigen Verteidigung nach §§ 140 Abs. 1 Nr. 2, 141 Abs. 1 S. 1 StPO vor und dem Beschwerdeführer zu 1. ist daher Rechtsanwalt J. F. aus Br. und der Beschwerdeführerin zu 2. Rechtsanwalt A. F. aus B. als Pflichtverteidiger zu bestellen.
Nach § 140 Abs. 1 Nr. 2. StPO liegt ein Fall der notwendigen Verteidigung vor, wenn dem Beschuldigten ein Verbrechen zur Last gelegt wird.
Ein Verbrechen wird einem Beschuldigten dann zur Last gelegt, wenn dem Beschuldigten förmlich, also in der Anklageschrift, dem Eröffnungsbeschluss oder einer Nachtragsanklage ein Verbrechen i.S.d. § 12 StGB zur Last gelegt wird. Dem Beschuldigten wird jedoch auch im Stadium des Ermittlungsverfahrens ein Verbrechen zur Last gelegt, wenn wegen eines solchen (lediglich) ermittelt wird (vgl. zum Ganzen: Weiler in Dölling/Duttge/König/Rössner, Gesamtes Strafrecht 4. Auflage 2017, § 140 StPO Rn. 5; Thomas/Kämpfer in Kanuer/Kudlich/Schneider, Münchener Kommentar zur StPO, 1. Auflage 2014, § 140 Rn. 13; Krawczyk in Graf, BeckOK StPO mit RiStBV und MiStra, Stand: 01.01.2020, § 140 Rn. 6; Bendtsen in Poller/Härtl/Köpf, Gesamtes Kostenhilferecht, 3. Auflage 2018, § 140 StPO Rn. 45). Diesem letzten Aspekt, der Betrachtung des Tatvorwurfes bereits im Ermittlungsverfahren, kommt durch das Gesetz zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung vom 10.12.2019 nun eine zentrale Bedeutung zu. So heißt es in der Begründung des Gesetzesentwurfes: Schließlich soll die Neuregelung innerhalb des Kataloges des § 140 Abs. 1 StPO ein Perspektivenwechsel vollzogen werden, weg von der Hauptverhandlung hin zum Ermittlungsverfahren. Ursprünglich erfolgte die Beurteilung, ob ein Fall der notwendigen Verteidigung vorliegt, auf der Basis des Standes nach Eröffnung des Hauptverfahrens. Mit wachsender Erkenntnis der weichenstellenden Bedeutung des Ermittlungsverfahrens für das weitere Verfahren erfolgte über § 141 Absatz 3 Satz 1 und 2 StPO eine zeitliche Vorverlagerung der notwendigen Verteidigung. [...] Die schon in § 141 Absatz 3 StPO angelegte Vorverlagerung des Zeitpunkts, ab dem ein Fall notwendiger Verteidigung gegeben ist, will der Entwurf - zumal ein Antragsrecht des Beschuldigten sowie eine gebundene Entscheidung des Gerichts im Ermittlungsverfahren eingeführt werden soll - mittels einer neuen Struktur der Vorschriften verdeutlichen (BT-Drucks. 19/13829, S. 31).
Danach wird den Beschwerdeführern ein Verbrechen zur Last gelegt, da jedenfalls die Ermittlungen der Ermittlungsbehörden auch das Verbrechen des unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge nach § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG umfassen. So wurden zwar bei der Durchsuchung der Wohnung der Beschwerdeführerin zu 2. Betäubungsmittel sichergestellt, die lediglich eine geringe Menge darstellen dürften. Allerdings ergibt sich der Verdacht des unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge aus den Angaben des Zeugen D., welche letztlich von den Ermittlungsbehörden auch Anlass für eine längerfristige Observation (§ 163 f StPO) der Beschwerdeführer und die Durchsuchung der Wohnungen waren. Danach hätten die Beschwerdeführer langfristig in dem Haus der Beschwerdeführerin zu 2. mit Methamphetamin und Cannabis gehandelt. Der Beschwerdeführer zu 1. habe die Betäubungsmittel durchsichtigen Tüten entnommen und in kleine Tüten abgefüllt. Die Portionierung habe der Zeuge selbst beobachtet. Das Cannabis sei von der Menge wenigstens eine volle Einkaufstüte gewesen. Von dem Methamphetamin hätten beide immer kleinere Tüten mit jeweils ein 1 bis 3 g dabeigehabt. Der Zeuge wisse von dem Beschwerdeführer 1. selbst, dass dieser mehrere Kilogramm Cannabis im Monat verkaufe.
Die Angaben des Zeugen D. deuten auf Betäubungsmittel in nicht geringen Mengen i.S.d. § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG hin. Eine Verurteilung gestützt auf diese Angaben ist nicht ausgeschlossen. Eine nähere Konkretisierung der Mengen und Verkaufsmodalitäten durch beispielsweise weitere Vernehmungen des Zeugen D. bleibt zunächst den Ermittlungsbehörden vorbehalten. Des Weiteren hat der Zeuge D. auch Namen (und teilweise Telefonnummern) von weiteren Zeugen angeben, die ebenfalls von den Beschwerdeführern Betäubungsmittel erworben haben sollen. Insofern kann vorliegend nicht davon ausgegangen werden, dass der Tatverdacht des unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge mangels diesbezüglicher Funde bei den erfolgten Wohnungsdurchsuchungen (bereits) ausgeräumt ist.
Des Weiteren ist den Beschwerdeführern auch aufgrund des Vorliegens eines Falls der notwendigen Verteidigung auf ihren Antrag gegenwärtig ein Pflichtverteidiger zu bestellen.
Nach der Neufassung des § 141 Abs. 1 S. 1 StPO vom 10.12.2019 wird in den Fällen der notwendigen Verteidigung dem Beschuldigten, dem der Tatvorwurf eröffnet worden ist und der noch keinen Verteidiger hat, unverzüglich ein Pflichtverteidiger bestellt, wenn der Beschuldigte dies nach Belehrung ausdrücklich beantragt.
Während dem Beschuldigten nach der alten Fassung vom 17.08.2017 ein Verteidiger erst mit Aufforderung zur Erklärung über Anklageschrift und im Ermittlungsverfahren nur nach Antrag der Staatsanwaltschaft gemäß § 141 Abs. 3 StPO a.F. zu bestellen war, steht dem Beschuldigten nach der Neufassung im Ermittlungsverfahren demnach nun ein eigenes Antragsrecht zu. Soweit das Amtsgericht Halberstadt in dem angefochtenen Beschluss vom 14.04.2020 die Ablehnung darauf stützt, dass kein Antrag der Staatsanwaltschaft nach § 141 Abs. 3 StPO gestellt worden sei, nimmt es auf eine Vorschrift Bezug, die mit der Neufassung gestrichen worden ist. Die vorliegenden eigenen Anträge der Beschwerdeführer sind ausreichend.
Die Bestellung ist auch zu bewirken, obwohl die Beschwerdeführer zum Zeitpunkt des Antrages bereits jeweils einen (Wahl-)Verteidiger hatten.
Das von Rechtsprechung und Literatur einhellig vertretene Verständnis von § 141 Abs. 1 StPO a.F., wonach die Voraussetzung dem Angeschuldigten, der noch keinen Verteidiger hat auch dann erfüllt ist, wenn der Wahlverteidiger im Moment der Bestellung sein Wahlmandat niederlegt, beansprucht auch nach der Neufassung von § 141 Abs. 1 StPO weiterhin Gültigkeit. Dies wurde in der Begründung zum Gesetzesentwurf ausdrücklich klargestellt. Danach ist Grundvoraussetzung für die Antragstellung, dass der Beschuldigte noch keinen Verteidiger hat oder der gewählte Verteidiger bereits mit dem Antrag ankündigt, das Wahlmandat mit der Bestellung niederzulegen (BT-Drucks. 19/13829, S. 36).
Letztlich ist für die Kammer entgegen den Ausführungen des Amtsgerichts Halberstadt nicht ersichtlich, aus welchen Gründen die Bestellung von Rechtsanwalt J. F. als Pflichtverteidiger des Beschwerdeführers zu 1. in einem anderen Ermittlungsverfahren die Bestellung im hiesigen Verfahren hindern sollte.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 467 Abs. 1 StPO analog.
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