Diese Homepage verwendet Cookies, um Inhalte und Anzeigen zu personalisieren, Funktionen für soziale Medien anbieten zu können und die Zugriffe auf die Website zu analysieren. Außerdem gebe ich Informationen zu Ihrer Nutzung meiner Website an meine Partner für soziale Medien, Werbung und Analysen weiter.

OK Details ansehen Datenschutzerklärung

Entscheidungen

Gebühren

Pauschgebühr, Oktoberfestattentat, Höhe der Pauschgebühr, berücksichtigungsfähige Tätigkeiten

Gericht / Entscheidungsdatum: OLG München, Beschl. v. 22.01.2021 - 1 AR 251/20 - 266/20

Leitsatz: 1. Das Verfahren betreffend die Ermittlungen zum "Oktoberfestattentat war sowohl "besonders schwierig“ als auch "besonders umfangreich“ im Sinn des § 51 Abs 1. RVG.
2. Die gesetzlichen Gebühren sind für den bestellten bzw. beigeordneten Rechtsanwalt nicht zumutbar, wenn sie auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass ihm eine besondere Form der Indienstnahme Privater zu öffentlichen Zwecken abverlangt wird, ein unzumutbares Sonderopfer bedeuten würden.
3. Zur Frage, welche Tätigkeiten bei einem Verletztenbeistand für die Gewährung einer Pauschgebühr berücksichtigungsfähig sind.
4. Zur Bemessung der Pauschgebühr erheblich über dem Doppelten der Wahlanwaltshöchstgebühren.


Oberlandesgericht München
1 AR 251/20 - 1 AR 266/20

In dem Strafverfahren
gegen Unbekannt
wegen Mordes u.A.

hier: Antrag des Rechtsanwalts pp. auf Gewährung einer Pauschvergütung für seine Tätigkeit als Verletztenbeistand für die Geschädigten pp.

erlässt das Oberlandesgericht München - 1. Strafsenat - durch die unterzeichnenden Richter am 22. Januar 2021 folgenden

Beschluss

1. Rechtsanwalt pp. wird für seine Tätigkeit als bestellter Verletztenbeistand für die Geschädigten des Bombenanschlages vom 26.09.1980 (Oktoberfestattentat) pp.im Ermittlungsverfahren des Generalbundesanwaltes, Gz.: 1 BJs 201/80-2, eine Pauschgebühr in Höhe von 36.600,-- Euro bewilligt. Der weitergehende Antrag wird zurückgewiesen.
2. Beträge, die als gesetzliche Gebühren für den vorgenannten Verfahrensabschnitt bereits festgesetzt und ausgezahlt wurden, sind auf die bewilligte Pauschvergütung anzurechnen.
3. Für die Festsetzung der Auslagen des Antragstellers einschließlich der Mehrwertsteuer aus dem Gesamtbetrag und für die Anweisung der Vergütung ist der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle des Ermittlungsrichters beim Bundesgerichtshof zuständig.

Gründe:

I.

1. Am 26.09.1980 wurde gegen 22:20 Uhr am Haupteingang der Theresienwiese in München ein Sprengkörper gezündet. Auf der Theresienwiese fand seit dem 20.09.1980 das alljährliche, von vielen Menschen besuchte Oktoberfest statt. Durch die Explosion inmitten der Menschenmenge wurden dreizehn Personen getötet, mehr als 200 Menschen erlitten - z.T. schwerste - Verletzungen. Nach dem Ergebnis der Ermittlungen hatte der bei dem Anschlag selbst getötete Gundolf Köhler den Sprengsatz gebaut, ihn zum Tatort gebracht und gezündet.

Das vom Generalbundesanwalt gegen den Beschuldigten pp. ("Wehrsportgruppe pp. "), weitere 5 Beschuldigte und Unbekannt geführte Ermittlungsverfahren wurde mit Verfügung vom 23.11.1982 gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellt, nachdem sich der Verdacht weder gegen die Beschuldigten noch gegen unbekannte Mittäter erhärten ließ.

Nachdem die förmliche Wiederaufnahme von Ermittlungen zunächst mit Verfügung vom 05.06.1984 abgelehnt worden war, nahm der Generalbundesanwalt mit Verfügung vom 05.12.2014 die Ermittlungen gegen Unbekannt wieder auf. Das Ermittlungsverfahren wurde -nach der Durchführung weiterer, äußerst umfangreicher Ermittlungen - mit Verfügung vom 06.07.2020 erneut gem. § 170 Abs. 2 StPO eingestellt.

2.Der Antragsteller wurde im Oktober 1982 von den Geschädigten pp und pp. mandatiert, bestellte sich mit Schriftsatz vom 14.10.1982 gegenüber dem Generalbundesanwalt und verfolgte diesem gegenüber in den Folgejahren im Auftrag der Geschädigten das Ziel die Einstellung der Ermittlungen zu verhindern bzw. ihre Wiederaufnahme zu erreichen. Im Jahr 2008 wurde ihm von den gleichen Geschädigten erneut eine schriftliche Vollmacht erteilt; der Antragsteller zeigte mit Schriftsätzen vom 05.12.2008 und 30.01.2009 unter Vollmachtsvorlage gegenüber dem Generalbundesanwalt deren Vertretung an - er sei beauftragt „im Lichte neuerer kriminaltechnischer Erkenntnismöglichkeiten sowie sonstiger neuer Informationen (...) eine Wiederaufnahme der Ermittlungen zu erreichen." In der Folgezeit korrespondierte er weiterhin mit dem Generalbundesanwalt und verschiedenen Institutionen (u.A. dem Landeskriminalamt, dem Bayerischen Staatsminister des Inneren und dem Bundesminister der Justiz und nahm auch Einsicht in verschiedene Spurenakten bis er mit Schriftsatz vom 25.09.2014 außerdem die Vertretung der Geschädigten pp, pp. und pp. sowie pp. anzeigte und erneut die Wiederaufnahme der Ermittlungen ins-besondere die Beiziehung verschiedener näher bezeichneter Akten beantragte, was dann - wie ausgeführt - am 05.12.2014 geschah.

Mit Beschlüssen des Ermittlungsrichters beim Bundesgerichtshof vom 08.02.2016, vom 09.02.2016 und vom 02.11.2017 wurde der Antragsteller den im Tenor bezeichneten 16 Geschädigten gem. § 406g Abs. 1, 3 Satz 1 Nr. 1 StPO a.F., 406h Abs. 1 S. 1, Abs. 3 S. 1 Nr. 1 n.F., § 397a Abs. 1 StPO als Beistand beigeordnet.

Zur Entscheidung über seinen Antrag vom 28.04./25.05.2016 auf Gewährung eines Vorschusses i.H.v. 88.000,- bis 110.000,- Euro auf eine Pauschgebühr erklärte sich der Ermittlungsrichter beim Bundesgerichtshof mit Beschluss vom 08.06.2016 für unzuständig. Der Senat hat den Antrag mit Beschluss vom 01.06.2017 zurückgewiesen. Wegen der Einzelheiten wird auf die Beschlüsse verwiesen.

Mit Schriftsatz vom 19.10.2020 beantragt der Antragsteller nunmehr, ihm eine Pauschgebühr zwischen 130.000,- und 160.000,- Euro zzgl. MWSt. zu bewilligen. Die Vertreterin der Bezirksrevisorin hält in ihrer Stellungnahme vom 30.11.2020 eine Pauschvergütung in Höhe des Doppelten der Wahlverteidigerhöchstgebühren (welche 1.830,- Euro betragen würden) „zuzüglich eines gewissen Zuschlags im Hinblick auf die Vertretung von 15 Mandanten" für angemessen. Der Antragsteller ist dem mit Schriftsatz vom 10.12.2020 entgegen getreten und hält an seinem Antrag fest.

II.

Der Antrag auf Gewährung einer Pauschvergütung gem. § 51 Abs. 1 RVG erweist sich im tenorierten Umfang als begründet; im darüber hinaus gehenden Umfang war der Antrag zurückzuweisen.
1. Der Senat ist aus den im Beschluss des Ermittlungsrichters beim Bundesgerichtshof vom 08.06.2016 bezeichneten Gründen zur Entscheidung berufen. Gem. Beschluss des Einzelrichters vom 04.01.2021 ist die Entscheidung vom Senat in der Besetzung mit 3 Richtern zu treffen,

2. Dem Antragsteller steht als beigeordnetem Beistand der vorbezeichneten Verletzten eine Pauschgebühr zu. Das Verfahren war ohne Zweifel sowohl besonders umfangreich als auch besonders schwierig, weshalb die gesetzlichen Gebühren nicht zumutbar wären, § 51 Abs. 1 RVG. Der Anspruch ist fällig und nicht verjährt.

a) Der „Umfang der Sache" bemisst sich zum einen nach dem zeitlichen Aufwand, den der Rechtsanwalt auf die Sache verwenden musste. Der Umfang ist „besonders", wenn er erheblich über dem Zeitaufwand liegt, den ein Rechtsanwalt einem durchschnittlichen Verfahren gleicher Art zu widmen hätte.

Zum anderen bemisst sich der Umfang der Sache nach objektiven Kriterien wie dem Umfang der Akten, der Anzahl der Hauptverhandlungstage und ihrer Dauer, etwaigen Schriftsätzen und Besprechungsterminen sowie besonderen Erschwernissen wie psychisch erkrankten Beschuldigten, während die bloße Fremdsprachigkeit und Auslandsbezüge für sich allein keine Besonderheit mehr darstellen. Auch hier ist das „durchschnittliche" Verfahren als Vergleichsmaßstab heranzuziehen (vgl. zum Ganzen: Burhoff in Gerold/Schmidt, Komm. zum RVG, 24. Aufl., Rn. 15ff zu § 51).

Daran gemessen war das Verfahren zweifellos besonders umfangreich.

Der vom Antragsteller errechnete Aufwand von 1.382 Arbeitsstunden kann zwar aus nachfolgend näher ausgeführten Gründen nicht vollständig herangezogen werden - der Aufwand übersteigt dennoch die üblicherweise von einem Verletztenbeistand zu erbringende Leistung ganz erheblich.

Auch gemessen an objektiven Kriterien war das Verfahren besonders umfangreich: Allein die Einstellungsverfügung des Generalbundesanwalts vom 06.07.2020 umfasst 216 Seiten. Auch der Schlussvermerk des Bayerischen Landeskriminalamts „Soko 26. September" vom 13.11.2019 war mit 172 Seiten außergewöhnlich umfangreich. Im Ermittlungsverfahren, dessen Hauptakten 155 LO umfasste, wurden beigezogene Akten mit einem Umfang von über 300.000 Seiten und 770 Spuren und 1081 Unterspuren verfolgt, 1008 Vernehmungen durchgeführt und mit Hilfe von insgesamt 2.600 Lichtbildern unter Verwendung zeitgenössischen Kartenmaterials und eines aktuellen Laserscans eine aufwändige 3-D Rekonstruktion zur virtuellen Tatortbegehung hergestellt.

b) Eine Sache ist „besonders schwierig" i.S.d. § 51 RVG, wenn das Verfahren aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen über das Maß vergleichbarer Verfahren hinaus besonders verwickelt ist. Bei der Beurteilung dieser Frage kann zum einen auf Äußerungen des Vorsitzenden des Tatgerichts - bzw. der Steile, die das Verfahren geführt hat - und insbesondere seine Begründung zurückgegriffen werden. Zum anderen können Schwierigkeiten der Beweislage, insbesondere die Zuziehung von Gutachtern, prozessuale Besonderheiten und spezielle Rechtsfragen die Sache besonders schwierig machen (Gerold/Schmidt a.a.O. Rn 28ff.).

Daran gemessen war das Verfahren betreffend die Ermittlungen zum „Oktoberfestattentat" besonders schwierig:

Es waren komplexe Strukturen in rechtsextremen Zusammenhängen zu durchdringen, die teilweise Jahrzehnte alt waren. Dazu waren (z.T. als Verschlusssache klassifizierte) Dokumente verschiedener Stellen zunächst zu erlangen, was bereits eine besondere Herausforderung dar-stellte, und sodann auszuwerten. Für den Antragsteller stellte sich das Verfahren überdies auf Grund seiner Betreuung schwer traumatisierter Geschädigter als besonders schwierig und belastend dar.

c) Die gesetzlichen Gebühren würden 828,-- Euro betragen. Dass dieser Betrag angesichts vor-genannter Umstände nicht zumutbar wäre, liegt auf der Hand. Dabei kommt es nach Auffassung des Senats nicht darauf an, ob die Versagung einer Pauschgebühr für den Rechtsanwalt „existenzbedrohend" wäre - dieses Kriterium wird in Anlehnung an die diesbezügliche Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 01.06.2011 (1 BvR 3171/10, juris) vielmehr bei der Entscheidung, ob ein Vorschuss zu zahlen ist, herangezogen (vgl. auch den im vorliegenden Verfahren ergangenen Senatsbeschluss vom 01.06.2017,1 AR 208/17). Es kommt auch nicht zentral darauf an, ob der Rechtsanwalt einen wesentlichen Teil seiner beruflichen Tätigkeit auf das Verfahren aufgewendet hat, wenngleich dieser Umstand im Bejahungsfall erhöhend berücksichtigt werden kann. Maßgeblich ist vielmehr, ob die gesetzlichen Gebühren für den bestellten Rechtsanwalt auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass ihm eine besondere Form der Indienstnahme Privater zu öffentlichen Zwecken abverlangt wird (vgl. BVerfG, 06.11.1984, 2 BvL 16/83, BVerfGE 68, 237 <253 ff>), ein unzumutbares Sonderopfer bedeuten würden (BGH, B. v. 01.06.2015, 4 StR 267/11). Hierbei ist nach ständiger Senatsrechtsprechung eine Gesamtschau aller be- und entlastenden Faktoren für den Rechtsanwalt ausschlaggebend (so auch Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin, Beschluss vom 22. April 2020 — VerfGH 177/19 —, juris, NStZ RR 2020, S. 191/192). Vorliegend fallen die ausgeführten belastenden Umstände derart überwiegend ins Gewicht, dass demgegenüber entlastende Momente, wie der Umstand, dass sich die vom Antragsteller errechnete Gesamtarbeitszeit von 1382 Stunden auf über 400 Monate durchgreifen.

d) Der mithin grundsätzlich gegebene Anspruch auf Bewilligung einer Pauschgebühr ist fällig.

Mit der Einstellungsverfügung vom 06.07.2020 wurde das Verfahren abgeschlossen. Der Verfahrensabschluss ist nach ständiger Senatsrechtsprechung Voraussetzung der Fälligkeit (vgl. den vorzitierten Senatsbeschluss vom 01.06.2017, sowie Senatsbeschluss v. 19.12.2017,1 AR 495+526/17; so auch OLG Gelle B. 16.6.16, 1 Ars 34/16 P, KG Berlin, Beschluss vom 15. April 2015 — 1 ARs 22/14 —, OLG Bamberg, B. v. 07.06.2017, 10 AR 30/16, NStZ-RR 2017, 392). Dass eine Einstellungsverfügung gem. § 170 Abs. 2 StPO - wie gerade auch das vorliegende Ermittlungsverfahren zeigt - nicht „rechtskräftig" werden kann, schadet nach der Überzeugung des Senats nicht, denn sonst würde in einem eingestellten Verfahren ein Pauschvergütungsanspruch niemals fällig.

e) Der Anspruch ist nicht verjährt.

Das Verfahren wurde - wie ausgeführt - mit Verfügung vom 06.07.2020 gem. § 170 Abs. 2 StPO eingestellt. Damit begann die 3-jährige Verjährungsfrist zu laufen (Gerold/Schmitt, a.a.O., Rn. 52 f zu § 51 RVG), die ersichtlich nicht abgelaufen ist.

3. Die zu gewährende Pauschvergütung erscheint dem Senat mit 36.600,-- Euro angemessen aber auch ausreichend.

Hierfür sind folgende Überlegungen ausschlaggebend:

a) Bei der Bemessung der Pauschgebühr können Tätigkeiten des Antragstellers, die dieser in den 1980-er Jahren erbracht hat, nicht berücksichtigt werden. Dabei kann dahinstehen, ob - wie die Vertreterin der Bezirksrevisorin und der Generalbundesanwalt meinen - längst Verjährung eingetreten ist, oder ob dies - weil die Einstellungsverfügung vom 23.11.1982 das Ermittlungsverfahren gerade nicht endgültig beendet hat - nicht der Fall ist. Entscheidendes Kriterium für die Festsetzung einer Pauschgebühr ist - wie ausgeführt - die „Unzumutbarkeit" der gesetzlichen Gebühren für den beigeordneten Rechtsanwalt. Maßgeblich sind mithin Billigkeitserwägungen, die es ausschließen, Tätigkeiten, die fast 40 Jahre zurückliegen, noch zu vergüten. Der Senat ist der Auffassung, dass der Rechtsgedanke der Verwirkung, welche von der Verjährung unabhängig ist (vgl. BGH, Urteil vom 26. Mai 1992 — VI ZR 230/91 —, juris), bei diesen Erwägungen zu berücksichtigen ist. Das erforderliche Zeitmoment bedarf angesichts mehrerer verstrichener Jahrzehnte keiner besonderen Begründung. Von der Rechtsprechung (z.B. BGH, Urteil vom 30. Oktober 2009 — V ZR 42/09 —, juris) für eine „Verwirkung" verlangte weitere objektive Umstände, die beim Anspruchsgegner das Vertrauen wachsen lassen konnten, nicht mehr in Anspruch genommen zu werden, liegen ebenfalls nahe: Der Antragsteller hat nach eigenen Angaben in den 1980er Jahren - neben Kostenerstattungen - lediglich ca. 900,-- DM Honorar erhalten. Er hat es sodann über 30 Jahre lang bei dieser geringen Summe bewenden lassen und sich auch nicht anlässlich der „Neumandatierung" Im Jahr 2008 um Zahlungen der Mandantschaft oder Dritter bemüht, sondern erst im Jahr 2016/2017 - also weitere 8 bis 9 Jahre später - insgesamt 3.950,-- Euro vereinnahmt.

b) Bei der Bemessung der Pauschvergütung sind jedoch die Tätigkeiten des Antragstellers seit seiner erneuten Vertretungsanzeige vom 05.12.2008 (einschließlich der dafür erforderlichen „Vorarbeiten" seit 2006) zu berücksichtigen. Die Beiordnung durch den Ermittlungsrichter beim Bundesgerichtshof vom 08./09.02.2016 wirkte gebührenrechtlich zurück (§ 48 Abs. 6 RVG, vgl. Gerold/Schmidt a.a.O., Rn. 201 zu § 48 RVG); davon sind nach der Auffassung des Senats auch solche Tätigkeiten umfasst, die vor der förmlichen Wiederaufnahme der Ermittlungen mit Verfügung des Generalbundesanwalts vom 05.12.2014 vom Antragsteller mit dem Ziel der Wiederaufnahme unternommen wurden, da jedenfalls seit seiner neuen Bestellung klar war, dass seine nunmehrigen Bemühungen, Anregungen, Anträge, Einlassungen etc. bei der Entscheidung über die Wiedereröffnung des Verfahrens zu berücksichtigen sein würden.

c) Auch sind, wie der Antragsteller zutreffend vorträgt, keinesfalls nur solche Tätigkeiten berücksichtigungsfähig, die den Geschädigten unmittelbar zu Gute kamen, also „Beistand" im engeren Sinne, z.B. bei der Erlangung von Entschädigung nach dem OEG. Den Geschädigten kam es vielmehr auch und gerade darauf an, die sogenannte „Einzeltäterthese", die zur Einstellung der Ermittlungen am 23.11.1982 führte, zu hinterfragen. Unabhängig davon, ob sich diese These oder die vermutete Beteiligung Dritter an dem Bombenanschlag nach Jahrzehnten noch erhärten ließen oder nicht, kann es nach Auffassung des Senats den Verletzten im Sinne des Opferschutzes nicht versagt werden, sich in die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft „einzumischen", um eigene Klarheit über den Hergang des ihnen zugefügten Unrechts zu erlangen. Dass dies dem Willen des Gesetzgebers entspricht, folgt bereits aus dem in § 406e Abs. 1 S. 1 StPO niedergelegten Akteneinsichtsrecht des Verletzten und etlichen weiteren Verletztenrechten, wie dem Recht, als Nebenkläger an der Hauptverhandlung teilzunehmen und dort eigene Rechte wahrzunehmen und gehört zu werden (vgl. § 397 Abs. 1 StPO einschließlich des Beweisantragsrechts aus § 244 Abs. 3 bis 6 StPO sowie des Erklärungsrechts, insbesondere des Rechts zum Schlussvortrag (vgl. §§ 257, 258 StPO).

Der Verletzte soll damit vom Verfahrensobjekt zum Verfahrenssubjekt werden; er hat nicht nur -als ineffektiv erkannte - Defensiv-, sondern „Offensivrechte" (Anders, ZStW 2012, 374-410, juris). Das damit einhergehende Recht des Verletzten auf „aktive Einflussnahme" (Anders a.a.O.) auf das Strafverfahren kann nach Auffassung des Senats nicht darauf beschränkt bleiben, sich mit den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft auseinander zu setzen und sich ggf. nach der Ermittlung des Täters im Strafverfahren einzubringen.

Auch im Lichte des bereits fast 20 Jahre alten Rahmenbeschlusses des Europäischen Rates vom 15.03.2001 über die Stellung von Opfern in Strafverfahren (2001/220/JI, Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften L 82/1), dessen Art. 3 S. 1 lautet: „Die Mitglieder gewährleisten, dass das Opfer im Verfahren gehört werden und Beweismittel liefern kann" (Hervorhebung Senat), steht für den Senat außer Frage, dass Verletzten im Strafverfahren eine eigene, aktive Rolle zusteht.

Ob und in welchem Umfang der Verletztenbeistand diese Verletztenrechte im Ermittlungsverfahren ausübt, muss - vergleichbar dem Verteidigungsverhalten auf Seiten des Beschuldigten - dem pflichtgemäßen Ermessen des Rechtsanwalts überlassen bleiben. Zwar kann auch im Rahmen der Entscheidung über die Zubilligung einer Pauschgebühr nicht außer Betracht bleiben, ob die jeweils entfaltete anwaltliche Tätigkeit bei objektiver Betrachtung zur ordnungsgemäßen Wahrnehmung des Mandats tatsächlich geboten bzw. bei Zubilligung eines entsprechenden Ermessens-spielraums zumindest noch als objektiv sinnvoll anzusehende Handlung zur Wahrung der Interessen des Vertretenen anzusehen war (ständige Senatsrechtsprechung, z.B. B. v. 27.09.2016, 1 AR 293/16; so auch OLG Hamm, Beschluss vom 14. Januar 2013 — 111-5 RVGs 108/12 —, juris, m.w.N.). Die umfängliche Tätigkeit des Antragstellers, die auch und gerade Ermittlungstätigkeit war, ist vorliegend angesichts der überaus schwerwiegenden Tat einerseits und der auch aus der Sicht des Senats jedenfalls aus damaliger Sicht nicht völlig fernliegenden Hinweise auf weitere Täter keinesfalls als sachwidrige Wahrnehmung des Mandats anzusehen.

Der Senat ist daher, anders als die Generalbundesanwaltschaft und die Vertreterin der Bezirksrevisorin, der Auffassung, dass auch diejenigen Tätigkeiten des Antragstellers seit dem Jahr 2006, die auf die Aufklärung der Tat vom 26.09.1980 und ihrer Hintergründe zielten, von seiner Beauftragung als Vertreter der Verletzten umfasst waren und gebührenrechtlich ins Gewicht fallen.

d) Die Höhe der festzusetzenden Pauschgebühr kann vorliegend die Wahlverteidigerhöchstgebühren und auch deren Doppeltes überschreiten.

aa) Die Überschreitung der vom Gesetzgeber grundsätzlich für angemessen erachteten Wahl-verteidigerhöchstgebühren bei der Festsetzung einer Pauschvergütung (BT-Drucks. 15/1971 S. 2, 146) kommt zwar nur in extremen Ausnahmefällen in Betracht, denn diesen wird - anders als Pflichtverteidigern - kein Beitrag für das Allgemeinwohl (BVerfG, Beschluss vom 20. März 2007 - 2 BvR 51/07 —, juris) abverlangt. Erforderlich sind daher Umstände, die weit über die - ohnehin schon außergewöhnlichen - Gründe, die zur Festsetzung einer Pauschgebühr berechtigen, hin-ausgehen. Das OLG Bamberg folgert daraus, dass Gebühren oberhalb der Wahlverteidiger-höchstgebühren grundsätzlich gar nicht in Betracht kommen (OLG Bamberg, B. v. 15.12.2015, 10 AR 29/15). Das OLG München will dagegen für Extremfälle, bei denen die Bemühungen des Pflichtverteidigers auch durch die Wahlverteidigerhöchstgebühren nicht mehr in entferntesten abgegolten werden, die Festsetzung einer Pauschgebühr oberhalb dieser Grenze nicht völlig ausschließen (B. v. 21.01.2016, 1 AR 477/15; so auch OLG Nürnberg, B. v. 30.12.2014, 2 AR 36/14, juris). In Betracht kommen insbesondere solche Fälle, in denen die Gebührenordnung - z.B. mangels abrechenbarer Termine - die Tätigkeiten des Anwalts nicht mehr angemessen erfassen kann.

Ein solcher Fall liegt hier vor. Auch die Wahlverteidigerhöchstgebühren i.H.v. 1830,-- Euro würden die Anstrengungen des Antragstellers nicht im entferntesten vergüten.

bb) Einer höheren Festsetzung als der doppelten Wahlbeistandsgebühr steht der Rechtsgedanke des § 42 Abs. 1 S. 4 RVG zwar im Grundsatz, aber nicht absolut und immer entgegen, da Wahlbeistände - anders als Pflichtbeistände - eine höhere Vergütung frei vereinbaren und insoweit auf außergewöhnlich umfangreiche Belastungen reagieren können (Senatsbeschluss v. 14.10.2015, 1 AR 367/15, (3-fache Wahlverteidigerhöchstgebühr), Senatsbeschluss 18.10.2019, 1 AR 322/19 (5-fache Wahlverteidigerhöchstgebühr); so auch insoweit überzeugend Gerold/Schmitt, a.a.O. Rn 41 zu § 51 RVG m.w.N.).

Der Senat ist bei der Überschreitung dieser für Wahlverteidiger vom Gesetzgeber errichteten Schwelle zwar äußerst zurückhaltend, da, wie ausgeführt, Wahlverteidiger anders als Pflichtverteidigern nicht von der Allgemeinheit in Anspruch genommen werden und ihnen insoweit grundsätzlich höhere Gebühren als Pflichtverteidigern zustehen - vorliegend würde jedoch auch eine Gebühr von insgesamt 3.660,-- Euro dem Antragsteller ein Sonderopfer im Sinne des § 51 Abs. 1 S. 1 RVG auferlegen.

e) Nach ständiger Senatsrechtsprechung (z.B. 1 AR 97/18, B. v. 23.05.2018) kommt eine Berechnung der Pauschgebühr anhand der Arbeitszeit des Rechtsanwalts in Form eines „Stundenlohns" nicht in Betracht. Die aufgewendete Arbeitszeit ist vielmehr Indiz für Umfang und Schwierigkeit des Verfahrens, nicht unmittelbarer Maßstab für die Entscheidung über die Pauschvergütung (BGH Rpfleger 1996, 169 Rdn. 9 nach juris). Das Rechtsanwaltsvergütungsgesetz will zwar im Gegensatz zur Bundesrechtsanwaltsgebührenordnung den Zeitaufwand des Rechtsanwalts stärker berücksichtigen. Es hat aber nicht Zeithonorare eingeführt, sondern es grundsätzlich bei Betragsrahmengebühren belassen (vgl. OLG Hamm Beschluss vom 13.03.2013 - 5 RVGs 108/12, Rdn. 19 nach juris) und lediglich bei den Terminsgebühren hinsichtlich der Zeitdauer der Hauptverhandlungstermine Abstufungen eingeführt (zit. OLG Nürnberg, Beschluss vom 30. Dezember 2014 — 2 AR 36/14 —, juris).

Dies vorausgeschickt, kann bei der Bemessung der Pauschgebühr der immense Aufwand, den der Antragsteller angesichts des vorbeschriebenen Umfanges des Verfahrens betrieben hat, nicht außer Acht gelassen werden. Der Senat ist davon überzeugt, dass der Antragsteller fast 1000 Stunden berücksichtigungsfähige Arbeitszeit seit 2008 aufgewendet hat. Er selbst teilt mit, er habe in den Jahren 1982 bis 2006, die der Senat aus vorbezeichneten Gründen für nicht berücksichtigungsfähig hält, insgesamt 410 Stunden aufgewendet. Bringt man diese von den 1382 Stunden in Abzug, die der Antragsteller - ohne weiteres glaubhaft - für seine gesamte Tätigkeit errechnet hat, bleibt ein Arbeitsaufwand, der den Rahmen einer „gewöhnlichen" Beistandschaft bei weitem sprengt und zur Bewilligung einer großzügigen Pauschvergütung Anlass gibt.

f) Ebenfalls fällt ins Gewicht, dass der Antragsteller schwer traumatisierte Verletzte zu betreuen hatte. Beispielhaft sei auf den Geschädigten pp. verwiesen, der in seiner Mail vom 21.07.2014 die von ihm unmittelbar miterlebte Explosion und deren jahrzehntelangen schweren Folgen für seinen Lebensweg schilderte. Dass Schilderungen wie diese, die bereits beim Lesen erschüttern, den Antragsteller, der sich persönlich um die Geschädigten bemühte, besonders belasteten, bedarf keiner weiteren Begründung. Auch dieser Umstand ist nach ständiger Senatsrechtsprechung gebührenerhöhend zu berücksichtigen (z.B. Senatsbeschluss vom 08.10.2020, 1 AR 128/20).

g) Der Antragsteller war 16 Geschädigten beigeordnet. Auch wenn eine entsprechende Vervielfachung der ihm zustehenden Gebühren nicht in Betracht kommt, ist der mit der Vielfachvertretung verbundene erhöhte Aufwand selbstverständlich bei der Bemessung der Pauschgebühr erhöhend zu berücksichtigen.

h) Schließlich ist zu berücksichtigen, dass das Verfahren, was bereits die Dauer der erneuten Ermittlungen von 5 1/2 Jahren nahe legt, im höchsten Maße kompliziert und verwickelt war. Der Antragsteller hat sich, was der Inhalt seiner zahlreichen Schriftsätze beweist, zum „Experten" des Oktoberfestattentates entwickelt. Ausweislich dem der Einstellungsverfügung vom 06.07.2020 zu Grunde liegenden Vermerk des Generalbundesanwalts war der Hinweis des Antragstellers auf eine neue Spur ("Spur pp.") der Anlass für die Wiederaufnahme der Ermittlungen.

i) Gegenüber den den Antragsteller belastenden Umständen fallen entlastende Umstände kaum ins Gewicht. Die von ihm vereinnahmten 3.950,-- Euro sind zwar in der anzustellenden Gesamtschau zu berücksichtigen (OLG Hamm, Beschluss vom 14. Januar 2013 —111-5 RVGs 108/12, juris, m.w.N.), sie sind angesichts des zu berücksichtigenden Zeitraums von fast 15 Jahren jedoch nicht schwerwiegend und führen nicht zu einer merklichen Minderung des Pauschgebührenanspruchs.

Allerdings muss der Antragsteller - anders als z.B. Verteidiger in langdauernden Hauptverhandlungen, die neben ihrer Verteidigertätigkeit praktisch keine anderen Mandate mehr annehmen können - nicht für weitergehende wirtschaftliche Einschränkungen entschädigt werden. Wenn der von ihm betriebene Aufwand und die mit dem Verfahren verbundenen Belastungen auch groß waren - sie erstreckten sich doch auf einen so langen Zeitraum, dass der Antragsteller an anderweitigem Erwerb nicht dauerhaft gehindert war.

Unter Abwägung aller Umstände erscheint dem Senat eine Pauschgebühr in Höhe des 20-fachen der Wahlbeistandshöchstgebühren (mehr als dem 44-fachen der gesetzlichen Gebühren) angemessen, aber auch ausreichend.

Sollten bereits Beträge als gesetzliche Gebühren festgesetzt und ausgezahlt worden sein, sind sie auf die Pauschvergütung anzurechnen.

Der darüber hinausgehende Antrag, der fast das 90-fache der Wahlverteidigerhöchstgebühren (bzw. mehr als das 193-fache der gesetzlichen Gebühren) erreicht, war dagegen zurückzuweisen.

Der Senat kann sich bei der Festsetzung von Pauschgebühren nicht völlig vom gesetzlichen Gebührenkonzept lösen. Auch wenn dieses ersichtlich nicht für Ausnahmeverfahren wie das Ermittlungsverfahren zum Oktoberfestattentat ersonnen wurde, wollte der Gesetzgeber den Verletztenbeistand im Ermittlungsverfahren nicht mit Beiständen und Verteidigem im - womöglich langdauernden - Hauptverfahren gleichstellen, denen ggf. erheblich höhere Gebühren zugebilligt werden.

IV.

Für die Festsetzung der Auslagen des Antragstellers einschließlich der Mehrwertsteuer aus dem Gesamtbetrag und für die Anweisung der Vergütung ist der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle des Ermittlungsrichters beim Bundesgerichtshof, welcher den Antragsteller beigeordnet hat, zuständig, § 55 Abs. 1 S. 2 RVG.


Einsender: RA W. Dietrich M.A., München

Anmerkung:


zurück zur Übersicht

Die Nutzung von Burhoff-Online ist kostenlos. Der Betrieb der Homepage verursacht aber für Wartungs-, Verbesserungsarbeiten und Speicherplatz laufende Kosten.

Wenn Sie daher Burhoff-Online freundlicherweise durch einen kleinen Obolus unterstützen wollen, haben Sie hier eine "Spendenmöglichkeit".