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Entscheidungen

Verwaltungsrecht

Entziehung der Fahrerlaubnis, unschlüssiges SV-Gutachten, eigene Erwägungen des VG

Gericht / Entscheidungsdatum: OVG Münster, Beschl. v. 16.02.2021 – 16 B 1496/20

Leitsatz: 1. Gemäß Nr. 9.2.2 der Anlage 4 zur FeV ist bei gelegentlicher Einnahme von Cannabis die Fahreignung nur gegeben, wenn zwischen Konsum und Fahren getrennt werden kann und kein zusätzlicher Gebrauch von Alkohol oder anderen psychoaktiv wirkenden Stoffen, eine Störung der Persönlichkeit oder kein Kontrollverlust vorliegt.
2. Ist ein Gutachten aus sich heraus nicht nachvollziehbar oder fehlt es ihm aus anderen Gründen an der Schlüssigkeit, kann dieser Mangel nicht durch eigene Erwägungen des Gerichts behoben werden. Das Gericht darf sich nicht an die Stelle des oder der sachverständigen Gutachter(s) begeben, weil ihm hierfür regelmäßig die einschlägige Fachkunde fehlt.


In pp.

Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Arnsberg vom 21. September 2020 – mit Ausnahme der Streitwertfestsetzung – geändert und die aufschiebende Wirkung der Klage 6 K 378/20 gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 10. Januar 2020 wiederhergestellt, soweit darin die Fahrerlaubnis des Antragstellers entzogen und ihm aufgegeben wird, seinen Führerschein unverzüglich nach Zustellung dieser Verfügung, spätestens jedoch bis zum 20. Januar 2020 dem Straßenverkehrsamt des Antragsgegners zu übersenden oder auszuhändigen. Dem Antragsgegner wird aufgegeben, dem Antragsteller vorläufig seinen Führerschein zurückzugeben.

Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.

Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge.

Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 2.500,- Euro festgesetzt.

Gründe

Die Beschwerde des Antragstellers ist zulässig und in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet. Aus den mit der Beschwerde dargelegten Gründen (§ 146 Abs. 4 Sätze 3 und 6 VwGO) ergibt sich, dass dem Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes insoweit zu entsprechen ist, als der Antragsteller die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage 6 K 378/20 gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 10. Januar 2020 gegen die darin erfolgte Entziehung seiner Fahrerlaubnis und gegen die Aufforderung zur unverzüglichen Übersendung oder Aushändigung seines Führerscheins an den Antragsgegner sowie die Rückgabe seines Führerscheins an ihn, den Antragsteller, begehrt. Soweit er ferner die Anordnung der aufschiebenden Wirkung in Bezug auf die Zwangsgeldandrohung in dem angefochtenen Bescheid erreichen will, ist hierfür ein Rechtsschutzbedürfnis nicht gegeben.

Die im vorliegenden Verfahren nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO vorzunehmende Interessenabwägung fällt im zuvor genannten Umfang zugunsten des Antragstellers aus, denn bei summarischer Prüfung sprechen gewichtige Gründe dafür, dass seine Klage zum Aktenzeichen 6 K 378/20 insoweit Erfolg haben wird.

Die in dem Bescheid des Antragsgegners vom 10. Januar 2020 erfolgte Entziehung der Fahrerlaubnis des Antragstellers erweist sich voraussichtlich als rechtswidrig, weil die Voraussetzungen hierfür nicht vorliegen. Gemäß § 3 Abs. 1 Satz 1 StVG, § 46 Abs. 1 Satz 1 FeV hat die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sich deren Inhaber als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist. Für diese Entscheidung, die nicht im Ermessen der Fahrerlaubnisbehörde steht, muss die Fahrungeeignetheit des Betroffenen feststehen. Dieses Erfordernis ist und war im maßgeblichen Zeitpunkt für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Entziehungsverfügung, dem Zeitpunkt ihres Erlasses,
vgl. insoweit BVerwG, Urteile vom 11. Dezember 2008 - 3 C 26.07 -, juris, Rn. 16, und vom 11. April 2019 - 3 C 14.17 -, juris, Rn. 11,
nicht gegeben. Es steht nicht fest, dass der Antragsteller zum Führen von Kraftfahrzeugen – hier der Gruppe 1 – ungeeignet ist. Zum Zeitpunkt des anlassgebenden Vorfalls, der Verkehrskontrolle am 30. Mai 2019, war der Antragsteller gelegentlicher Konsument von Cannabis. Dies ergibt sich aus seinen Angaben im Rahmen seiner medizinisch-psychologischen Begutachtung durch das Medizinisch-Psychologische Institut der U. O. N. GmbH & Co. KG, denen zufolge er erstmalig mit 17 Jahren Cannabis probiert, anschließend von Dezember 2017 bis Januar 2018 unregelmäßig konsumiert und von April 2019 bis Mai 2019 zweimal in der Woche insgesamt ein Gramm geraucht habe. Den gelegentlichen Konsum dieses Betäubungsmittels hat er auch im gerichtlichen Verfahren nicht in Abrede gestellt.

Gemäß Nr. 9.2.2 der Anlage 4 zur FeV ist bei gelegentlicher Einnahme von Cannabis die Fahreignung nur gegeben, wenn zwischen Konsum und Fahren getrennt werden kann und kein zusätzlicher Gebrauch von Alkohol oder anderen psychoaktiv wirkenden Stoffen, eine Störung der Persönlichkeit oder kein Kontrollverlust vorliegt. Dass der Antragsteller diese Voraussetzungen nicht erfüllt, namentlich nicht zwischen Konsum von Cannabis und Fahren trennen kann, ist nicht nachgewiesen.

Eine entsprechende Annahme ergibt sich nicht aus dem medizinisch-psychologischen Gutachten des Medizinisch-Psychologischen Instituts der U. O. N. GmbH & Co. KG vom 18. November 2019. Dieses Gutachten ist keine taugliche Beurteilungsgrundlage für die Feststellung der Fahrungeeignetheit des Antragstellers, weil es unter erheblichen Mängeln leidet. Der Antragsteller weist in seiner Zulassungsbegründung zu Recht daraufhin, dass dieses Gutachten nicht schlüssig ist. Ein – wie hier – nach § 46 Abs. 3, § 14 Abs. 1 Satz 3 FeV angeordnetes medizinisch-psychologisches Gutachten, das zu einem für den Betroffenen negativen Schluss kommt, muss nachvollziehbar aufzeigen, dass und warum ein solcher Schluss im Einzelfall gerechtfertigt ist. Diesem Erfordernis wird das Gutachten vom 18. November 2019 nicht gerecht.

Das Gutachten gelangt zu dem Ergebnis, dass der Antragsteller ein Kraftfahrzeug der Gruppe 1 zwar sicher führen könne, es jedoch zu erwarten sei, dass er künftig ein Kraftfahrzeug unter dem Einfluss von Betäubungsmitteln führen werde (S. 13 des Gutachtens). Dem liegt die Feststellung zugrunde, dass bei dem Antragsteller eine fortgeschrittene Drogenproblematik vorliege, so dass ein Abstinenzbeleg in der Regel über 12 Monate bzw. Belege über den konsequenten Verzicht auf jeden Drogenkonsum zu fordern sei bzw. seien (S. 12 und 14 des Gutachtens). Das Gutachten legt aber nicht plausibel dar, aus welchem Grund bei dem Antragsteller von einer fortgeschrittenen Drogenproblematik auszugehen ist, und, worauf auch der Antragsteller hinweist, woraus die Forderung nach einer Drogenabstinenz resultiert.

Zu der Annahme einer fortgeschrittenen Drogenproblematik bei dem Antragsteller gelangt das Gutachten nach der Darstellung der medizinischen und psychologischen Untersuchungsbefunde, die u. a. eine ausführliche Wiedergabe der eigenen Angaben des Antragstellers enthalten, und nach den Feststellungen, dass aus verkehrsmedizinischer Sicht keine Befunde erhoben worden seien, die unter Berücksichtigung der Grundsätze der Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung das ausreichend sichere Führen von Kraftfahrzeugen ausschlössen, körperliche Zeichen für einen aktuellen Drogenmissbrauch oder für Auswirkungen eines früheren Drogenkonsums nicht nachweisbar seien und die Analyse der Urinprobe keine Hinweise auf einen Drogenkonsum ergeben habe und damit in Übereinstimmung mit den Angaben zum aktuellen Drogenverzicht stehe. Inwieweit gleichwohl von einer fortgeschrittenen Drogenproblematik beim Antragsteller auszugehen ist, welche aus dessen Untersuchung gewonnenen fachlichen Erkenntnisse hierfür aus welchen Gründen maßgeblich sind, legt das Gutachten auch in der nachfolgenden psychologischen Beurteilung jedenfalls nicht hinreichend dar. Denn hieraus ergibt sich schon nicht, inwieweit die dort aufgeführten, aus verkehrspsychologischer Sicht beurteilungsrelevanten Aspekte den Schluss auf das Vorliegen einer fortgeschrittenen Drogenproblematik beim Antragsteller zulassen. Soweit es auf S. 11 des Gutachtens heißt, die fortgeschrittene Drogenproblematik habe sich "im missbräuchlichen Konsum von Suchtstoffen, in einem polyvalenten Konsummuster oder auch im Konsum hoch suchtpotenter Drogen gezeigt", fehlt es an näheren Belegen, insbesondere für die – auch in der Gutachtenanordnung nicht aufgestellte – Behauptung eines Konsums hoch suchtpotenter Drogen.

Ferner lässt das Gutachten nicht erkennen, warum darin eine Drogenabstinenz des Antragstellers – einhergehend mit Abstinenznachweisen – für notwendig erachtet wird. Eine entsprechende Darlegung wäre aber auch insbesondere mit Blick darauf erforderlich gewesen, dass, wie sich auch aus der der Begutachtung des Antragstellers zugrunde liegenden Fragestellung ergibt, bei dem Antragsteller von einem gelegentlichen Cannabiskonsum auszugehen ist, bei dem allein die Einnahme dieses Betäubungsmittels die Fahreignung nicht entfallen lässt. Gelangt ein medizinisch-psychologisches Gutachten gleichwohl zu dem Ergebnis, dass im konkreten Fall ein vollständiger Konsumverzicht erforderlich sei, z. B. weil andernfalls ein Trennen zwischen Konsum und Fahren nicht zu gewährleisten sei, muss das Gutachten die Gründe für diese Einschätzung nachvollziehbar darlegen.

Eine Verwertbarkeit des hier in Rede stehenden Gutachtens für die Entziehung der Fahrerlaubnis des Antragstellers ergibt sich auch nicht aus den – eigenen, nicht im Gutachten enthaltenen – Erwägungen des Verwaltungsgerichts in dem angefochtenen Beschluss, mit denen es aufzeigen will, aus welchen Gründen das Gutachten gleichwohl schlüssig sei. Ist – wie vorliegend – ein Gutachten aus sich heraus nicht nachvollziehbar oder fehlt es ihm aus anderen Gründen an der Schlüssigkeit, kann dieser Mangel nicht durch eigene Erwägungen des Gerichts behoben werden. Das Gericht darf sich nicht an die Stelle des oder der sachverständigen Gutachter(s) begeben, weil ihm hierfür regelmäßig die einschlägige Fachkunde fehlt.
Vgl. in diesem Zusammenhang BayVGH, Beschluss vom 26. Juli 2019 - 11 CS 19.1093 -, juris, Rn. 14.

Nach alledem bestehen lediglich Zweifel in Bezug auf die Fahreignung des Antragstellers. Insoweit sei ergänzend darauf hingewiesen, dass diese entgegen seiner Auffassung weder durch seine zwischenzeitliche Drogenabstinenz noch durch eine von ihm geltend gemachte Kompensation des Cannabiskonsums durch Meditation und/oder durch zwischenmenschlichen Austausch ausgeräumt worden sind. Zur Klärung dieser Eignungszweifel ist vielmehr der Nachweis erforderlich, dass der Antragsteller in der Lage ist, bei fortgesetzter gelegentlicher Einnahme von Cannabis ein nach den Wertungen der Fahrerlaubnis-Verordnung hinnehmbares Konsummuster – Verzicht auf den zusätzlichen Gebrauch von Alkohol oder anderen psychoaktiv wirkenden Stoffen, Trennung zwischen Konsum und Fahren, keine Störung der Persönlichkeit, kein Kontrollverlust (vgl. Nr. 9.2.2 der Anlage 4 zur FeV) – einzuhalten. Ob der Antragsteller diese Voraussetzungen erfüllt, ist – anders als er meint – allein mit einem belegten temporären Drogenverzicht nicht nachgewiesen. Zusätzlich ist der Nachweis eines tiefgreifenden und stabilen Einstellungswandels zu führen, der es hinreichend wahrscheinlich macht, dass der Antragsteller die von ihm geltend gemachte derzeitige Abstinenz auch in Zukunft einhalten oder zumindest ein im Sinne der Nr. 9.2.2 der Anlage 4 zur FeV hinnehmbares Konsummuster an den Tag legen wird. Die Frage, ob sich bei ihm eine derartige nachhaltige Einstellungsänderung vollzogen hat, ist aber nur auf der Grundlage einer medizinisch-psychologischen Begutachtung zu beantworten.
Vgl. hierzu OVG NRW, Beschlüsse vom 4. November 2013 - 16 B 1205/13 -, vom 18. Februar 2020 - 16 B 210/19 -, juris, Rn. 5 f., und vom 10. November 2020 - 16 B 1417/20 -.

Die also weiterhin bestehenden Zweifel an der Fahreignung des Antragstellers hat, wie sich aus § 3 Abs. 1 Satz 3, § 2 Abs. 7 und 8 StVG, § 46 Abs. 3 i. V. m. §§ 11 ff. FeV ergibt, die Fahrerlaubnisbehörde des Antragsgegners (weiter) aufzuklären.
Vgl. hierzu VG München, Beschluss vom 14. November 2016 - M 26 S 16.4261 -, juris, Rn. 31 und 39; VG Augsburg, Beschluss vom 4. Juli 2018 - Au 7 S 18.936 -, juris, Rn. 92; im Ergebnis ebenso OVG NRW, Beschlüsse vom 4. Februar 2021 - 16 E 648/20 -, vom 5. November 2014 - 16 E 179/14 -, und vom 10. Oktober 2016 - 16 B 673/16 -, juris, Rn. 3, und VG Arnsberg, Beschluss vom 30. Mai 2016 - 6 L 389/16 -, juris, Rn. 17.

Erweist sich die mit Bescheid des Antragsgegners vom 10. Januar 2020 erfolgte Entziehung der Fahrerlaubnis des Antragstellers daher als voraussichtlich rechtswidrig, gilt dies auch für die darin ausgesprochene Einziehung seines Führerscheins und für die Aufforderung zu dessen Übersendung oder Aushändigung an die Fahrerlaubnisbehörde. Insoweit war ebenfalls die aufschiebende Wirkung der Klage wiederherzustellen.

Die sinngemäß beantragte Anordnung der vorläufigen Rückgabe des Führerscheins beruht auf § 80 Abs. 5 Satz 3 VwGO.

Soweit der Antragsteller mit seinem Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gegen die Zwangsgeldandrohung in dem Bescheid des Antragsgegners vom 10. Januar 2020 begehrt, ist ein Rechtsschutzbedürfnis hierfür nicht gegeben, weil sich die Zwangsgeldandrohung erledigt hat. Der Antragsteller hat seinen Führerschein am 21. Januar 2020 beim Antragsgegner abgegeben und ist der ihm insofern obliegenden Pflicht nachgekommen, deren Erfüllung durch die Zwangsgeldandrohung gesichert werden sollte.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 und § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1, § 52 Abs. 1 und 2 § 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5, § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).


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