Gericht / Entscheidungsdatum: OLG Düsseldorf, Beschl. v. 31.03.2021 - III 3 AR 90/20
Leitsatz: Mit Blick auf die Rechtsprechung des BVerfG ist für die Frage der Gewährung einer Pauschgebühr für die Hauptverhandlung darauf abzustellen, ob die Höhe des Entgelts für die im Rahmen der Hauptverhandlung entfaltete Tätigkeit wegen für längere Zeit währender ausschließlicher oder fast ausschließlicher Inanspruchnahme für den Pflichtverteidiger von existenzieller Bedeutung ist.
OBERLANDESGERICHT DÜSSELDORF
BESCHLUSS
III-3 AR 90/20
In der Strafsache
gegen pp.
u. a.
wegen fahrlässiger Tötung u. a.
hier: Nebenklägerin pp.
hat der 3. Strafsenat durch den Richter am Oberlandesgericht pp. als Einzelrichter am 31. März 2021 auf den Antrag der gerichtlich bestellten Nebenklägerbeiständin Rechtsanwältin pp. auf Bewilligung einer Pauschgebühr gemäß § 51 RVG nach Anhörung der Staatskasse beschlossen:
Der Nebenklägerbeiständin wird anstelle der gesetzlichen Gebühr nach Nr. 4100 des Vergütungsverzeichnisses der Anlage 1 zum Rechtsanwaltsvergütungsgesetz eine Pauschgebühr in Höhe von 40.000 Euro bewilligt.
Im Übrigen verbleibt es bei den gesetzlichen Gebühren.
Für den vorgenannten Gebührentatbestand bereits angewiesene gesetzliche Gebühren sind anzurechnen.
Vorschüsse und Zahlungen, die die Rechtsanwältin für diesen Verfahrensabschnitt erhalten hat, sind nach Maßgabe des § 58 Abs. 3 RVG anzurechnen.
Ansprüche auf Ersatz von Auslagen und von Umsatzsteuer bleiben unberührt.
Gründe
I.
Die Antragstellerin begehrt für ihre Tätigkeit als Nebenklägerbeiständin im sogenannten Loveparade-Verfahren eine Pauschgebühr in Höhe von 285.000 Euro für das gesamte Verfahren. Hilfsweise beansprucht sie Pauschgebühren für einzelne Verfahrensabschnitte, nämlich anstelle der Grundgebühr Nr. 4100 VV RVG von 108.180 Euro, anstelle der Verfahrensgebühr Nr. 4112 VV RVG von 38.351,98 Euro sowie von 140.962,50 Euro anstelle von Terminsgebühren Nrn. 4114, 4116, 4118 VV RVG. Die Hauptverhandlung im genannten Verfahren hat in der Zeit vom 8. Dezember 2017 bis zum 4. Mai 2020 an insgesamt 184 Sitzungstagen, von denen die Antragstellerin an 169 Tagen teilgenommen hat, stattgefunden. Die Antragstellerin war dabei der Nebenklägerin pp. an den jeweiligen Hauptverhandlungstagen beigeordnet worden.
II.
Entgegen der Auffassung der Antragstellerin liegen die Voraussetzungen einer Pauschgebühr nach § 51 Abs. 1 Satz 1 RVG weder in der beantragten Gesamtsumme noch für jeden einzelnen Verfahrensabschnitt vor.
Die Bestellung zum Pflichtverteidiger ist eine besondere Form der Indienstnahme Privater zu öffentlichen Zwecken. Sinn der Pflichtverteidigung ist es nicht, dem Anwalt zu seinem eigenen Nutzen und Vorteil eine zusätzliche Gelegenheit beruflicher Betätigung zu verschaffen. Ihr Zweck besteht ausschließlich darin, im öffentlichen Interesse dafür zu sorgen, dass der Beschuldigte in schwerwiegenden Fällen rechtskundigen Beistand erhält und der ordnungsgemäße Verfahrensablauf gewährleistet wird. Angesichts der umfassenden Inanspruchnahme des Pflichtverteidigers für die Wahrnehmung dieser im öffentlichen Interesse liegenden Aufgabe hat der Gesetzgeber die Pflichtverteidigung nicht als eine vergütungsfrei zu erbringende Ehrenpflicht angesehen, sondern den Pflichtverteidiger honoriert. Der Umstand, dass sein Vergütungsanspruch unter den als angemessen geltenden Rahmengebühren des Wahlverteidigers liegt, ist durch einen vom Gesetzgeber im Sinne des Gemeinwohls vorgenommenen Interessenausgleich, der auch das Interesse an einer Einschränkung des Kostenrisikos berücksichtigt, gerechtfertigt, sofern die Grenze der Zumutbarkeit für den Pflichtverteidiger gewahrt ist. In Strafsachen, die die Arbeitskraft des Pflichtverteidigers für längere Zeit ausschließlich oder fast ausschließlich in Anspruch nehmen, gewinnt die Höhe des Entgelts für den Pflichtverteidiger existenzielle Bedeutung. Für solche besonderen Fallkonstellationen gebietet das Grundrecht des Pflichtverteidigers auf freie Berufsausübung eine Regelung, die sicherstellt, dass ihm die Verteidigung kein unzumutbares Opfer abverlangt. Dieses Ziel stellt § 51 Abs. 1 RVG sicher (vgl. BVerfGE 68, 237, 255; BVerfG NJW 2007, 3420; BVerfG NJW 2019, 3370 m.w.N.; Senatsbeschlüsse vom 23. Juni 2015, III-3 AR 65/14, und vom 19. April 2018, III-3 AR 256-259/16).
1. In Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Staatskasse vom 29. Januar 2021, und unter Beachtung der von dem Bundesverfassungsgericht aufgestellten Grundsätze, sieht auch der Senat die Voraussetzungen für die Bewilligung einer Pauschvergütung lediglich anstelle der Grundgebühr Nr. 4100 VV RVG gemäß § 51 RVG als gegeben an, und zwar in der vorgeschlagenen Höhe von 40.000 Euro.
In seinen Entscheidungen vom 25. Juli 2020 (III-3 AR 37/19), vom 8. Oktober 2020 (III-3 AR 39/20), vom 22. Oktober 2020 (III-3 AR 65120) und 11. Januar 2021 (III-3 AR 78/20) hatte der Senat die jeweils gewährte Pauschvergütung von 40.000 Euro auf einen von den ebenfalls im Loveparade-Verfahren tätigen Pflichtverteidigern bzw. Nebenklägerbeiständen plausibel und glaubhaft vorgetragenen Einarbeitungsaufwand von ca. 1000 Stunden gestützt. Im vorliegenden Verfahren geht der Senat davon aus, dass die Antragstellerin sich ebenfalls mit einem ähnlichen Zeitaufwand in die auch für sie identischen Verfahrensakten eingearbeitet hat. Soweit die Antragstellerin geltend macht, sie sei mit dieser Arbeit sogar 1.500 Stunden beschäftigt gewesen, ist dieser deutliche Mehraufwand nicht nachvollziehbar. Es erscheint nicht rechtfertigt, die bisherige Gleichbehandlung zahlreicher Verteidiger und Nebenklägerbeistände in diesem Punkt aufzugeben und der Antragstellerin eine über 40.000 Euro hinausgehende Pauschgebühr anstelle der gesetzlichen Grundgebühr nach Nr. 4100 VV RVG zuzubilligen.
2. Soweit die Antragstellerin darüber hinaus eine Pauschgebühr anstelle der gesetzlichen Terminsgebühren nach Nr. 4114 VV RVG beansprucht, sind die Voraussetzung des § 51 RVG nicht erfüllt.
Mit Blick auf die bundesverfassungsgerichtliche Rechtsprechung (vgl. oben Ziffer 1. 1.) stellt der Senat darauf ab, ob die Höhe des Entgelts für die im Rahmen der Hauptverhandlung entfaltete Tätigkeit wegen für längere Zeit währender ausschließlicher oder fast ausschließlicher Inanspruchnahme für den Pflichtverteidiger von existenzieller Bedeutung ist. Nach der gefestigten Rechtsprechung des Senats (vgl. dazu im Einzelnen Beschluss Vom 23. Juni 2015, III-3 AR 65/14, sowie vom 19. April 2018, III-3 AR 256-259/16) beurteilt sich dies im Kern nach der Dichte der Hauptverhandlungstage, und zwar mit Blick auf die hiervon _abhängenden grundsätzlichen Möglichkeiten des Pflichtverteidigers zum Engagement in anderen Mandaten. Die Bejahung einer jedenfalls fast ausschließlichen Inanspruchnahme durch die Haupt-verhandlung kommt unter Zugrundelegung einer fünftägigen Arbeitswoche grundsätzlich nicht schon bei Prozesswochen mit zwei ganztägigen Verhandlungen, sondern erst bei solchen mit jedenfalls drei ganztägigen Verhandlungen in Betracht. In Wochen mit dreitägiger Verhandlung ergibt sich unter Zubilligung einer Vor- und Nachbereitungszeit von insgesamt einem weiteren Tag, der in einem derartigen Umfangsverfahren grundsätzlich angemessen erscheint, eine etwa 80-prozentige und damit fast ausschließliche Auslastung als Pflichtverteidiger.
Im Loveparade-Verfahren hat die Hauptverhandlung nicht für längere Zeit" an zumindest drei Tagen in der Woche stattgefunden. Nur einmal (20. November bis 20. Dezember 2018) wurde über einen zusammenhängenden Zeitraum von fünf Kalenderwochen an jeweils drei Tagen in der Woche verhandelt. Allerdings hat die Antragstellerin an diesem Sitzungsblock nicht durchgängig teilgenommen. Nach ihrem eigenen Vortrag (Anlage 1 zum Pauschgebührenantrag vom 28. Dezember 2020) hat sie an den Sitzungen vom 4., 5. und 6. Dezember 2018 nicht teilgenommen, sondern an ihrer Stelle Rechtsanwältin pp. Aber selbst abgesehen davon ist hier von einer Unzumutbarkeit im Sinne von § 51 Abs. 1 RVG der gesetzlichen Terminsgebühren nicht auszugehen, und zwar bereits mit Blick auf die zeitliche Länge der gesamten Hauptverhandlung in der Zeit vom 8. Dezember 2017 bis zum 4. Mai 2020. In dieser Zeit hat die Antragstellerin an 169 von insgesamt 184 Verhandlungstagen teilgenommen. Dafür steht der Antragstellerin jeweils eine Terminsgebühr zu, die zudem für einen Großteil der Hauptverhandlungstage noch durch die Längengebühren nach Nrn. 4116 und auch 4117 VV RVG erhöht war. Zudem ist zu berücksichtigen, dass sich die 169 Sitzungstage der Antragstellerin wegen zahlreicher, oft mehrwöchiger Sitzungsunterbrechungen über einen Zeitraum von 125 Wochen erstreckt haben. Somit hat sie pro Woche durchschnittlich nur an 1,35 Sitzungen teilgenommen. Selbst unter Anrechnung einer dieser durchschnittlichen wöchentlichen Sitzungsanzahl angemessenen Vor- und Nachbereitungszeit von einem halben Tag ergibt sich, dass die Antragstellerin dadurch noch nicht einmal zur Hälfte ihrer gesamten Arbeitszeit ausgelastet war. Eine etwa 80-prozentige (vier Arbeitstagen entsprechende) und damit fast ausschließliche Auslastung der Antragstellerin wird selbst unter ergänzender Berücksichtigung ihrer Anreise aus Neunkirchen am Sand zu den Sitzungsblöcken nicht erreicht. Gegen eine jedenfalls fast ausschließliche Befassung der Antragstellerin mit dem Loveparade-Verfahren spricht zudem ihr eigener Vortrag, während der laufenden Verhandlung seien ihr für die Bearbeitung anderer Mandate gerade einmal 249,8 Tage oder 1,9 Tag(e) pro Woche" verblieben. In der Gesamtbetrachtung kann von einer - nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vorauszusetzenden - Gefährdung der wirtschaftlichen Existenz nicht ausgegangen werden.
3. im Hinblick auf die vorstehenden Erwägungen konnte der Antragstellerin eine pauschalierte (Haupt-) Verfahrensgebühr nach Nr. 4112 VV RVG ebenfalls nicht zuerkannt werden. Bei einer Verhandlungsdichte von durchschnittlich nur 1,35 Sitzungen pro Woche ist nicht anzunehmen, dass die Arbeitskraft der Antragstellerin durch weitere Tätigkeiten aus dem Abgeltungsbereich der Verfahrensgebühr jedenfalls fast ausschließlich in Anspruch genommen wurde.
Einsender: RÄin E. Zipperer, Neunkirchen zum Sande
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