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Entscheidungen

Corona

Corona, Einspruchsverwerfung, Zugangserschwerung, Datenschutz

Gericht / Entscheidungsdatum: VerfGH Sachsen, Beschl. v. 23.04.2021 - Vf. 137-IV-20

Leitsatz: Zur Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör, wenn das AG eine hinreichende Entschuldigung für das Fernbleiben des Betroffenen in der Hauptverhandlung verneint und deswegen den Einspruch des Betroffenen gemäß § 74 Abs. 2 OWiG verworfen hat (hier: Das Amtsgericht hat selbst den Zugang des Betroffenen zum Gerichtsgebäude und damit auch dessen Teilnahme an der Hauptverhandlung in offenkundig rechtswidriger Weise von der Preisgabe personenbezogener Daten abhängig gemacht).


Vf. 137-IV-20

DER VERFASSUNGSGERICHTSHOF
DES FREISTAATES SACHSEN

IM NAMEN DES VOLKES

Beschluss

In dem Verfahren
über die Verfassungsbeschwerde
des pp.

Verfahrensbevollmächtigter: Rechtsanwalt Alexander Kaden,
Königsbrücker Landstraße 29b. 01109 Dresden,

hat der Verfassungsgerichtshof des Freistaates Sachsen durch pp.

am 23. April 2021 beschlossen:

1. Das Urteil des Amtsgerichts Marienberg vom 5. Mai 2020 (1 OWi 730 Js 36376/19) sowie der Beschluss des Oberlandesgerichts Dresden vom 15. Juli 2020 (OLG 24 Ss 440/20 IM verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 78 Abs. 2 SächsVerf; sie werden aufgehoben. Die Sache wird an das Amtsgericht Marienberg zurückverwiesen.
2. Der Freistaat Sachsen hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.

Gründe:

I.

Mit seiner am 1. September 2020 bei dem Verfassungsgerichtshof des Freistaates Sachsen ein-gegangenen Verfassungsbeschwerde wendet sich der Beschwerdeführer gegen das Urteil des Amtsgerichts Marienberg vom 5. Mai 2020 (1 OWi 730 Js 36376/19) und die Beschlüsse des Oberlandesgerichts Dresden vom 15. Juli und 3. August 2020 (jeweils OLG 24 Ss 440/20 [Z]).

Ausgangspunkt der Verfassungsbeschwerde ist ein Bußgeldbescheid des Landratsamts Erzgebirgskreis vom 1. Juli 2019 (Az. 119017000), durch welchen dem Beschwerdeführer vorgeworfen wurde, am 13. April 2019 um 14:15 Uhr mit einem Pkw in der Ortschaft Elterlein die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 70 km/h um 27 km/h überschritten zu haben; es wurde eine Geldbuße von 90,00 EUR festgesetzt. Hiergegen legte der Beschwerdeführer Einspruch ein. Zum anberaumten Termin zur Hauptverhandlung am 5. Mai 2020 erschien der — von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen nicht entbundene — Beschwerdeführer am Amtsgericht Marienberg. Dort wurden neben den gewöhnlichen Einlasskontrollen Kontrollen im Zusammenhang mit der Coronavirus-Pandemie durchgeführt. Hierzu musste sich jeder Besucher, um Zugang zum Gericht zu erhalten, am Eingang in eine fortlaufende, tabellarisch geführte Liste („Besucherkarte") eintragen und dabei — für alle nachfolgenden Besucher lesbar — Name, Anschrift und Telefonnummer sowie das Aktenzeichen und den Sitzungssaal der Verhandlung angeben, zu der er geladen war. Der Beschwerdeführer sowie sein Verfahrensbevollmächtigter rügten, das Ausfüllen der Liste sei unzumutbar und widerspreche jeglichen datenschutzrechtlichen Grundsätzen. Da sich der Beschwerdeführer weigerte, die Liste auszufüllen, um — nach eigenen Angaben — anderen Besuchern und dem Personal nicht zu ermöglichen, seine Telefonnummer oder die konkrete Verhandlung bekannt zu machen, wurde ihm der Zugang zum Gericht verweigert. Durch das angegriffene Urteil vorn 5. Mai 2020 verwarf das Amtsgericht den Einspruch des Beschwerdeführers gemäß § 74 Abs. 2 OWiG ohne Verhandlung zur Sache, weil der Beschwerdeführer in der Hauptverhandlung ohne ausreichende Entschuldigung nicht erschienen sei. Tatsachen, die sein Ausbleiben entschuldigen könnten, seien weder vorgebracht noch sonst bekannt geworden. Ein Verstoß gegen den Grundsatz der Öffentlichkeit der Verhandlung liege nicht vor. Hinsichtlich der im Zuge der Corona-Pandemie ergriffenen Maßnahmen habe sich das Amtsgericht an den Handlungsempfehlungen des Justizministeriums und des Oberlandesgerichts Dresden orientiert und sich an diese gehalten. Der Zugang zum Gericht sei jederzeit gegeben gewesen; er sei allein davon abhängig gewesen, dass sich der Besucher dazu entschließe, seine Identität prüfen zu lassen und den Eintrag in die Besucherliste vorzu-nehmen. Ein Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung habe ebenfalls nicht vorgelegen, weil die Besucherlisten nicht im Wege der Datenverarbeitung behandelt, konkret weder gespeichert noch vorrätig gehalten, sondern nach Ablauf von drei Wochen vernichtet worden seien. Jedenfalls sei der Eingriff angesichts des vorrangigen Allgemeininteresses an der Gesundheit der Bevölkerung gerechtfertigt.

Daraufhin stellte der Beschwerdeführer einen Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde, den das Oberlandesgericht Dresden mit dem angegriffenen Beschluss vom 15. Juli 2020 als unbegründet verwarf Es sei weder geboten, die Nachprüfung des Urteils zur Fortbildung des Rechts zu ermöglichen, noch das Urteil wegen Verletzung des rechtlichen Gehörs aufzuheben. Der Beschwerdeführer habe Gelegenheit gehabt, sich zur angelasteten Ordnungswidrigkeit in öffentlicher Verhandlung vor dem Amtsgericht zu äußern, diese aber nicht genutzt. Die vorgenommenen Infektionsschutz- und Vorsichtsmaßnahmen der Gerichtsverwaltung zur Eindämmung oder Unterbrechung von Infektionsketten unterliefen in ihrer tatsächlichen Umsetzung nicht den Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs.

Den Antrag des Beschwerdeführers gemäß § 356a StPO verwarf das Oberlandesgericht durch den angegriffenen Beschluss vom 3. August 2020 als unbegründet.

Der Beschwerdeführer rügt die Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 78 Abs. 2 SächsVerf), weil die Gerichte über seinen Einspruch gegen den Bußgeldbescheid nicht entschieden hätten. Er sei der Verhandlung nicht unverschuldet säumig geblieben, weil er nicht dazu habe gezwungen werden können, seine persönlichen Daten für jedermann offenzulegen. Sein Recht auf informationelle Selbstbestimmung sei verletzt, denn die Datenerhebung habe auch unter Beachtung seiner Rechte ohne weitere Nachteile, Umstände oder Kosten durchgeführt werden können. Die angegriffenen Entscheidungen beruhten auf diesem Mangel, weil in der Sache wegen einer zwischenzeitlich getilgten Voreintragung im Fahreignungsregister lediglich eine Geldbuße in Höhe von 80,00 EUR hätte verhängt werden können und auch nicht ausgeschlossen sei, dass das Verfahren aus Opportunitätsgründen eingestellt worden wäre.

Das Staatsministerium der Justiz und für Demokratie, Europa und Gleichstellung und die Be-klagten haben Gelegenheit gehabt, zum Verfahren Stellung zu nehmen.

II.

Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und begründet.

1. Der Zulässigkeit steht nicht das Gebot der Rechtswegerschöpfung entgegen. Zwar ist der Begriff des Rechtswegs in § 27 Abs. 2 Satz 1 SächsVerfGHG weit auszulegen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 20. Juni 1984, BVerfGE 67, 157 [170]: zu § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG) und erfasst auch die Möglichkeit der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach einer einen Rechtsbehelf verwerfenden Entscheidung, und zwar selbst dann, wenn die Wiedereinsetzung — wie im Fall des § 74 Abs. 4 OWiG — selbstständig neben dem Rechts-mittel der Rechtsbeschwerde steht; denn die Entscheidungsvoraussetzungen für den Rechtsbehelf und das Rechtsmittel sind grundsätzlich nicht deckungsgleich (vgl. BVerfG, Beschluss vom 30. Juni 1976, BVerfGE 42, 252 [256 f.]; Beschluss vom 29. März 2007 —2 BvR 2366/06 —juris Rn. 4). Ein Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 74 Abs. 4 OWiG war vorliegend aber unzumutbar, weil der Beschwerdeführer im Wiedereinsetzungsverfahren nichts hätte geltend machen können, was nicht schon Gegenstand der angegriffenen Entscheidung war (vgl. BVerfG, Beschluss vom 2. Dezember 1987, BVerfGE 77, 275 [282]).

2. Das angefochtene Urteil des Amtsgerichts Marienberg vom 5. Mai 2020 verletzt den Beschwerdeführer in seinem Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 78 Abs. 2 SächsVerf).

a) Art. 78 Abs. 2 SächsVerf sichert das rechtliche Gehör im gerichtlichen Verfahren und steht in einem funktionalen Zusammenhang mit der Rechtsschutzgarantie und der Justizgewährungspflicht des Staates (vgl. BVerfG, Beschluss vom 29. November 1989, BVerfGE 81, 123 [129] zu Art. 103 Abs. 1 GG). Der Einzelne soll nicht nur Objekt der richterlichen Entscheidung sein, sondern vor einer Entscheidung, die seine Rechte betrifft, zu Wort kommen, um als Subjekt Einfluss auf das Verfahren und sein Ergebnis nehmen zu können (Baumann-Hasske in: ders./Kunzmann, Die Verfassung des Freistaates Sachsen, 3. Aufl., Art. 78 Rn. 11; vgl. BVerfG, Beschluss vom 8. Januar 1959, BVerfGE 9, 89 [95]; Beschluss vom 18. September 2018 — 2133/R 745/18 —juris Rn. 36). Rechtliches Gehör sichert den Beteiligten ein Recht auf Information, Äußerung und Berücksichtigung mit der Folge, dass sie ihr Verhalten im Prozess eigenbestimmt und situationsspezifisch gestalten können (vgl. BVerfG, Beschluss vom 30. April 2003, BVerfGE 107, 395 [409]).

b) Allerdings bedarf der Grundsatz des rechtlichen Gehörs einer Ausgestaltung durch den Gesetzgeber. Dieser darf aber den Beteiligten nicht jede Gelegenheit nehmen, sich zu den entscheidungserheblichen Tatsachen und Rechtsfragen zu äußern (vgl. BVerfG, Beschluss vom 18. September 2018 — 2 BvR 745/18 — juris Rn. 37). Die Auslegung der gesetzlichen Vorschriften in den jeweils maßgebenden Prozessordnungen ist grundsätzlich Sache der Fachgerichte; sie wird vom Verfassungsgerichtshof nur eingeschränkt überprüft (SächsVerfGH, Beschluss vom 27. Oktober 2005 — Vf. 62-IV-05; Beschluss vom 18. Januar 2019 — Vf. 77-IV-18). Nicht jeder Verfahrensfehler ist zugleich auch als Verletzung spezifischen Verfassungsrechts zu werten (vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 5. Mai 1987, BVerfGE 75, 302 [313 f.]; Beschluss vom 8. Juni 1993, BVerfGE 89, 28 [36]: jeweils zu Art. 103 Abs. 1 GG). Es gibt jedoch ein Mindestmaß an Verfahrensbeteiligung, das keinesfalls verkürzt werden darf (vgl. BVerfG, Beschluss vom 8. Juni 1993, BVerfGE 89, 28 [36]; Beschluss vom 18. September 2018 — 2 BvR 745/18 — juris Rn. 37). Verfahrensfehlerhaftes Vorgehen des Fachgerichts ist zumindest dann eine Verletzung von Art. 78 Abs. 2 SächsVerf, wenn ein mit dem gerügten Verstoß inhaltsgleiches Gesetz als verfassungswidrig anzusehen wäre (vgl. BVerfG, Beschluss vom 11. Februar 1987, BVerfGE 74, 228 [233 f.]; Beschluss vom 8. Juni 1993, BVerfGE 89, 28 [36]; Beschluss vom 18. September 2018 — 2 BvR 745/18 — juris Rn. 37; Beschluss vom 5. Juni 2019 — 1 BvR 675/19 — juris Rn. 13), offenkundige Gesetzesverletzungen vorliegen, die mit einer Einschränkung des rechtlichen Gehörs einhergehen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 5. Mai 1987, BVerfGE 75, 302 [312]; Beschluss vom 20. Dezember 2018 — 1 BvR 1155/18 — juris Rn. 12), oder das Fachgericht die Bedeutung des rechtlichen Gehörs eindeutig verkannt hat (vgl. BVerfG, Beschluss vom 21. April 1982, BVerfGE 60, 305 [310 f ]; Beschluss vom 30. Januar 1985, BVerfGE 69, 126 [139]; vgl. zum Ganzen auch Degenhart in: Sachs, GG, 8. Aufl. Art. 103 Rn. 15; Radtke in: Epping/Hillgruber, GG, 3. Aufl., Art. 103 Rn. 5: jeweils zu Art. 103 Abs. 1 GG).

c) Die Verwirklichung des Anspruchs auf rechtliches Gehör kann insbesondere von der Auslegung und Anwendung von Säumnisvorschriften abhängen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 11. Februar 1976, BVerfGE 41, 332 [334]; Beschluss vom 29. März 2007 — 2 BvR 2366/06 — juris Rn. 15). Zwar garantiert Art. 78 Abs. 2 SächsVerf nur die Äußerungsmöglichkeit und ist nicht beeinträchtigt, wenn der Beteiligte ihm eingeräumte prozessuale Möglichkeiten nicht ausschöpft, weil er — etwa i.S.d. § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO oder § 74 Abs. 2 OWiG — ohne genügende Entschuldigung der Hauptverhandlung fernbleibt (SächsVerfGH, Beschluss vom 26. März 2015 — Vf 11-IV-14). Vorschriften, die das Nichterscheinen des Betroffenen mit dem Verlust des Rechtsmittels sanktionieren, sind allerdings nur vor dem Hintergrund der Rechtsvermutung zu rechtfertigen, dass der Betroffene durch sein Ausbleiben zeigt, dass er das Rechtsmittel nicht mehr weiterverfolgen will und damit auf rechtliches Gehör und eine sachliche Nachprüfung der gegen ihn ergangenen Entscheidung verzichtet (SächsVerfGH, Beschluss vom 26. März 2015 — Vf. 11-IV-14; vgl. BGH, Beschluss vom 1. August 1962 — 4 StR 122/62 — juris: zu § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO). Der hierbei möglicherweise eintretende endgültige Verlust der Äußerungsmöglichkeit gebietet eine enge Auslegung dieser Vorschriften (vgl. BVerfG, Beschluss vom 29. März 2007 — 2 BvR 2366/06 —juris Rn. 15).

Aus dieser von Verfassungs wegen gebotenen engen Auslegung (im Sinne einer zurück-haltenden Anwendung) des § 74 Abs. 2 OWiG folgt das generelle Gebot, den Begriff der „genügenden Entschuldigung" zu Gunsten des Betroffenen weit zu verstehen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 29. März 2007 — 2 BvR 2366/06 — juris Rn. 16 m.w.N.; vgl. auch OLG Bamberg, Beschluss vom 6. März 2013 — 3 Ss 20/13 — juris Rn. 8; BayObLG, Beschluss vom 31. März 2020 — 202 StRR 29/20 — juris Rn. 7: jeweils zu § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO; Krumm in: Gassner/Seith, OWiG, 2. Aufl., § 74 Rn. 22). Eine Entschuldigung ist nach der — insofern verfassungsrechtlich unbedenklichen — herrschenden Auffassung dann genügend, wenn die im Einzelfall abzuwägenden Belange des Betroffenen einerseits und seine öffentlich-rechtliche Pflicht zum Erscheinen in der Hauptverhandlung andererseits den Entschuldigungsgrund als triftig erscheinen lassen, wenn dem Betroffenen also unter den gegebenen Umständen unter Berücksichtigung der Bedeutung der Sache ein Erscheinen billigerweise nicht zumutbar war und ihm infolgedessen wegen seines Fernbleibens auch nicht der Vorwurf schuldhafter Pflichtverletzung gemacht werden kann (BayObLG, Beschluss vom 31. März 2020 — 202 StRR 29/20 — juris Rn. 8 m.w.N.: zu § 329 Abs. 1 StPO; vgl. Hettenbach in: BeckOK OWiG, Stand Januar 2021, § 74 Rn. 30; Senge in: Karlsruher Kommentar zum OWiG, 5. Aufl., § 74 Rn. 32 m.w.N.; Krumm in: Gassner/Seith, OWiG, 2. Aufl., § 74 Rn. 22; BohnertlKrenberger/Krumm in: Krenberger/Krumm, OWiG, 6. Aufl., § 74 Rn. 24; Seitz/Bauer in: Göhler, OWiG, 17. Aufl., § 74 Rn. 29).

d) Diesen verfassungsrechtlichen Vorgaben des Art. 78 Abs. 2 SächsVerf ist das Amtsgericht Marienberg nicht gerecht geworden, indem es eine hinreichende Entschuldigung für das Fernbleiben verneint und deswegen den Einspruch des Beschwerdeführers gemäß § 74 Abs. 2 OWiG verworfen hat. Bei der vorzunehmenden Interessenabwägung hat das Amtsgericht unberücksichtigt gelassen, dass das Gericht selbst den Zugang des Beschwerdeführers zum Gerichtsgebäude und damit auch dessen Teilnahme an der Hauptverhandlung in offenkundig rechtswidriger Weise von der Preisgabe personenbezogener Daten abhängig gemacht hatte.

aa) Die am Einlass zum Gerichtsgebäude bei sämtlichen Besuchern durchgeführte, papiergebundene Sammlung personenbezogener Daten (Name, Vorname, Anschrift, Telefon-nummer, Datum und Uhrzeit des jeweiligen Zutritts zum Gebäude einschließlich der mit dem Eintrag in die Liste verbundenen Bestätigung, in keinem Coronavirus-Risiko-gebiet gewesen zu sein, keine Symptome einer Coronavirus-Infektion aufzuweisen und keine entsprechende Kontakte gehabt zu haben), fallt in den Anwendungsbereich der Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung, künftig: DSGVO), die in sämtlichen Mitgliedstaaten unmittelbar Geltung beansprucht und daher auch vom Amtsgericht zu beachten war. Denn es handelt sich hierbei i.S.d. Art. 2 Abs. 1 DSGVO um die nichtautomatisierte Verarbeitung von in einem Dateisystem gespeicherter Daten. Nach der Definition in Art. 4 Nr. 6 DSGVO besteht ein solches Dateisystem in einer strukturierten Sammlung personenbezogener Daten, die nach bestimmten Kriterien zugänglich ist, unabhängig davon, ob sie zentral, dezentral oder nach funktionalen oder geografischen Gesichtspunkten geordnet geführt wird; umfasst sind nach herrschender Auffassung alle denkbaren Ordnungssysteme einschließlich Tabellen und Listen (vgl. Kühling/Raab in: Kühling/Buchner, DS-GVO BDSG, 3. Aufl., Art. 4 Abs. 6 DS-GVO Rn. 3; Bäcker in: BeckOK Datenschutzrecht, Stand August 2020, Art. 2 DS-GVO Rn. 4, Art. 4 DS-GVO Rn. 83; Ernst in: Paal/Pauly, DS-GVO BDSG, 3. Aufl., Art. 2 DS-GVO Rn. 8 f.; Ennöckl in: Sydow, Europäische Datenschutzgrundverordnung, 2. Aufl., Art. 4 Rn. 110 ff.; Kramer in: Paschke/Berlit/Meyer/Kröner, Hamburger Kommentar Gesamtes Medienrecht, 4. Aufl., 77. Abschnitt Rn. 8). Vorliegend erfolgte jedenfalls eine geordnete Sammlung der Informationen über den Zutritt zum Gerichtsgebäude, die — zu Rekonstruktionszwecken für die Gesundheitsbehörden — sowohl nach Datum und Uhrzeit, als auch nach den weiteren erhobenen Merkmalen wie insbesondere Sitzungssaal, Name oder Kontaktdaten ausgewertet werden konnte. Bereits das Erheben solcher personenbezogenen Daten stellt nach Art. 4 Nr. 2 DSGVO eine Verarbeitung im Sinne der Datenschutz-Grundverordnung dar. Da die Verarbeitung nicht zum Zwecke der Strafverfolgung, sondern aus Gründen des Infektionsschutzes erfolgte, steht Art. 2 Abs. 2 Buchst. d DSGVO einer Anwendung der Datenschutz-Grundverordnung nicht entgegen.

bb) Die Erhebung der personenbezogenen Daten mittels einer — zumindest für nachfolgende Besucher — einsehbaren Liste verstieß offenkundig gegen den Grundsatz der Vertraulichkeit gemäß Art. 5 Abs. 1 Buchst. f DSGVO und stellte daher eine unzulässige Verarbeitung dar, weil sie unbefugten Dritten Zugang zu den Daten ermöglichte (vgl. Erwägungsgrund 39 Satz 12 DSGVO; Herbst in: Kühling/Buchner, DS-GVO BDSG, 3. Aufl., Art. 5 Rn. 76; Schantz in: BeckOK Datenschutzrecht, Stand August 2020, Art. 5 DS-GVO Rn. 35 f.; Heberlein in: Ehmann/Selmayr, DSGVO, 2. Aufl., Art. 5 Rn. 28).

Vor diesem Hintergrund kann vorliegend dahinstehen, ob die beabsichtigte Verarbeitung der personenbezogenen Daten des Beschwerdeführers auf eine Rechtmäßigkeits-voraussetzung i.S.d. Art. 6 DSGVO gestützt werden konnte und auch dem Vorbehalt der Erforderlichkeit genügte.
cc) Das Amtsgericht war von Verfassungs wegen gehalten, den Umstand, dass der Beschwerdeführer, um Zugang zum Gerichtsgebäude zu erlangen, personenbezogene Daten in einer den datenschutzrechtlichen Bestimmungen widersprechenden Weise hätte angeben müssen, bei der Prüfung des § 74 Abs. 2 OWiG in die Abwägung mit der öffentlich-rechtlichen Pflicht zum Erscheinen in der Hauptverhandlung einzustellen. Die prozessuale Mitwirkungsobliegenheit, zumutbare Möglichkeiten auszuschöpfen, um sich rechtliches Gehör zu verschaffen, umfasst nicht die Erfüllung von Zugangsvoraussetzungen, deren Ausgestaltung durch die an das Recht gebundene Gerichtsverwaltung objektiv rechtswidrig war. Es stand auch nicht in Rede, dass der Beschwerdeführer eine Preisgabe der Daten auch unabhängig von der Form der Erhebung verweigert hätte. Für eine amtswegige Prüfung der Rechtmäßigkeit der Einlasskontrollen am Tag der Hauptverhandlung hatte das Amtsgericht schon deshalb Anlass, weil der Verfahrensbevollmächtigte in der Hauptverhandlung angegeben hat, dass der Beschwerdeführer infolge verweigerten Zugangs nicht habe erscheinen können. Dem steht auch nicht entgegen, dass das erkennende Gericht — offenbar — darauf vertraut hat, dass am Amtsgericht ent-sprechende Handlungsanweisungen des Oberlandesgerichts Dresden sachgerecht um-gesetzt worden sind. Dies hat das Amtsgericht nicht getan und dadurch den Anspruch des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör verletzt.

e) Das Urteil beruht auch auf dem Gehörsverstoß, weil das Amtsgericht, hätte es die Verletzung datenschutzrechtlicher Bestimmungen erkannt, eine genügende Entschuldigung des Beschwerdeführers hätte annehmen und deshalb von einer — dann unzulässigen - Verwerfung des Einspruchs hätte absehen müssen. Denn wer durch rechtswidrige Maßnahmen des Gerichts von der Teilnahme an einer Gerichtsverhandlung abgehalten wird, hat die fehlende Teilnahme nicht zu verantworten.

3. Indem das Oberlandesgericht Dresden mit dem angegriffenen Beschluss vom 15. Juli 2020 die beantragte Zulassung der Rechtsbeschwerde gegen das Urteil des Amtsgerichts trotz des Verstoßes gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör versagt hat, hat es selbst das Recht des Beschwerdeführers aus Art. 78 Abs. 2 SächsVerf verletzt.

Der Beschwerdeführer hat mit dem Zulassungsantrag ausdrücklich auch die Versagung rechtlichen Gehörs i.S.d. § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG gerügt. Das Oberlandesgericht behauptet in dem angegriffenen Beschluss nur pauschal und ohne nähere Begründung, die am Amtsgericht vorgenommenen Maßnahmen unterliefen nicht den Anspruch des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör.

Das Urteil des Amtsgerichts vom 5. Mai 2020 und der Beschluss des Oberlandesgerichts Dresden vom 15. Juli waren gemäß § 31 Abs. 2 SächsVerfGHG aufzuheben und die Sache an das Amtsgericht zur erneuten Entscheidung zurückzuverweisen.

Mit der Aufhebung dieser Entscheidungen wird der Beschluss des Oberlandesgerichts Dresden vom 3. August 2020 (OLG 24 Ss 440/20 [Z]) gegenstandslos (vgl. SächsVerfiGH, Beschluss vom 27. Februar 2018 — Vf. 121-IV-17; Beschluss vom 21. Juni 2012 — Vf. 154-IV-11).

IV.

Die Entscheidung ist kostenfrei (§ 16 Abs. 1 Satz 1 SächsVerfGHG). Der Freistaat Sachsen hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten (§ 16 Abs. 3 SächsVerfGHG).


Einsender: RA A. Kaden, Dresden

Anmerkung:


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