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Entscheidungen

Gebühren

Angelegenheiten, Fallakten, Erstreckung

Gericht / Entscheidungsdatum: LG Aurich, Beschl. v. 31.03.2021 - 13 Qs 9/21

Leitsatz: Für die Beurteilung, ob bei mehreren Tatvorwürfen dieselbe Angelegenheit und ein einziger "Rechtsfall im Sinne der Nr. 4100 VV RVG gegeben sind, ist maßgebend, wie die Strafverfolgungsbehörden die Sache behandeln. Wird gegen den Beschuldigten in getrennten Verfahren ermittelt, ist jedes für sich eine eigene Angelegenheit. Hingegen handelt es sich gebührenrechtlich um nur eine Rechtssache, wenn die Ermittlungen wegen mehrerer Straftaten in einem Verfahren betrieben werden.


Landgericht Aurich

Beschluss

13 Qs 9/21

In der Strafsache
gegen pp.

Verteidiger:
Rechtsanwalt

wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis; hier: Beschwerdeverfahren

hat das Landgericht Aurich — 1. Große Jugendkammer — auf die Beschwerde des Rechtsanwalts pp. am 31.03.2021 beschlossen:

Auf Beschwerde wird der Beschluss des Amtsgerichts Aurich vom 04.01.2021 (Geschäftsnummer: 5 Ls 46/19) dahingehend abgeändert, als dass zugunsten Rechtsanwalt pp. weitere 1.823,52 € als Pflichtverteidigergebühren festgesetzt werden, im Übrigen wird die Beschwerde als unbegründet verworfen.

Die Entscheidung ergeht gerichtsgebührenfrei; Auslagen werden nicht erstattet.

Gründe:

I.

Das Amtsgericht Aurich — Jugendschöffengericht — verurteilte den Angeklagten am 07.01.2020 wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis in 4 Fällen, davon einmal tateinheitlich mit Betrug, wegen des Fahrens ohne Fahrerlaubnis in Tateinheit mit Urkundenfälschung in Tateinheit mit Verstoß gegen das Haftpflichtversicherungsgesetz in 2 Fällen, wegen Unterschlagung, Diebstahls, Diebstahls in 5 Fällen, einmal tateinheitlich mit unbefugter Ingebrauchnahme eines Kraftfahrzeugs in Tateinheit mit Sachbeschädigung in Tateinheit mit Fahren ohne Fahrerlaubnis, wegen unbefugten Gebrauchs eines Kraftfahrzeugs in 2 Fällen, jeweils in Tateinheit mit Fahren ohne Fahrerlaubnis in Tateinheit mit Kennzeichenmissbrauch in Tateinheit mit Verstoß gegen das Haftpflichtversicherungsgesetz in 2 Fällen zu einer Jugendstrafe von 2 Jahren.

Mit Schriftsatz vom 17.08.2020 stellte Rechtsanwalt pp. einen Antrag auf Festsetzung der Pflichtverteidigergebühren in Höhe von 12.963,11 €.

Für die Fallakten 5 bis 18 aus dem Verfahren 220 Js 28285/19 beantragte er jeweils die folgenden Gebühren festzusetzen:
Grundgebühr 4101, 4100 VV RVG 192,00 €
Verfahrensgebühr4105 4104 VV RVG 161,00 €
Zwischensumme 373,00 €
Pauschale für Post und Telekommunikation 7008 VV RVG 20,00 €
Zwischsumme netto 393,00 €
19 % Umsatzsteuer Nr. 7008 VV RVG 62,88
Gesamt 455,88 €

Das Amtsgericht Aurich setzte die Vergütung auf 3.651,80 € fest.

Hiergegen legte Rechtsanwalt pp. Erinnerung ein. Gegenstand der Erinnerung ist das Verfahren 5 Ls 220 Js 20285/19 (60/19). Durch Beschluss vom 04.01.2021 wies das Amtsgericht Aurich die Erinnerung zurück. Hiergegen legte Rechtsanwalt pp. sofortige Beschwerde ein, wobei er die sofortige Beschwerde auf die Absetzung der Vergütung seiner Tätigkeit in den Fallakten 5 bis 18 in dem Verfahren 220 Js 28285/19 auf die obigen Gebühren von jeweils 455,88 € beschränkte.

Das Ursprungsverfahren 220 Js 28285/19 ist am 17.10.2019 bei der Staatsanwaltschaft Aurich eingetragen worden. Mit Eintragungsverfügung vom 18.10.2019 wurde das weitere Verfahren 220 Js 28335/19 bei der Staatsanwaltschaft Aurich eingetragen und am 18.10.2019 zum Verfahren 220 Js 28285/19 verbunden. Auch die Fallakten 1 bis 4 wurden am 18.10.2019 zum Verfahren 220 Js 28285/19 verbunden. Im anschließenden Hafttermin am 18.10.2019 wurde dem Angeklagten Rechtsanwalt pp. als Pflichtverteidiger beigeordnet. Zu den Vorgangsnummern der Fallakten 9, 11, 12, 13, 14, 15, 16, 17 und 18 zeigte Rechtsanwalt Pp. am 25.10.2019 seine Verteidigung bei der PI Aurich/Wittmund an. Die Fallakte 15 wurde ursprünglich bei der Polizeistation Schortens geführt, die Fallakten 16 und 17 bei der PI Aurich und die Fallakte 18 bei der Polizeistation Moormerland. Mit Abverfügung der PI Aurich/Wittmund vom 13.11.2019 sind die Fallakten 5 bis 18 mit entsprechender Bezeichnung als Fallakten zum Verfahren 220 Js 28285/19 abgegeben worden, zuvor sind die Fallakten nicht genannt worden. Die Staatsanwaltschaft Aurich stellte die Verfahren zu den Fallakten 7 bis 9 und 12 und 14 vor Anklageerhebung nach § 154 Abs. 1 StPO ein. Die Verfahren zu den Fallakten 6, 10 und 11 stellte die Staatsanwaltschaft nach § 170 Abs. 2 StPO vor Anklageerhebung ein. Hinsichtlich der Fallakte 13 stellte die Staatsanwaltschaft die weitere Tat des Fahrens ohne Fahrerlaubnis ein und verfolgte den Tankbetrug weiter, wobei diese Tat am gleichen Abend und mit dem gleichen Fahrzeug, wie die Tat aus der Hauptakte begangen worden ist.

Durch Beschluss vom 27.12.2019 verband das Amtsgericht Aurich das Verfahren 220 Js 28285/19 zum Verfahren 220 Js 14040/19 und ordnete an, dass sich die Bestellung von Rechtsanwalt Pp. auch auf die bereits von der Staatsanwaltschaft verbundenen Verfahren bezieht.

II.

Die zulässige Beschwerde ist nur hinsichtlich der Fallakten 15 bis 18 aus dem Verfahren 220 Js 28285/19 begründet.

Hinsichtlich der Fallakten 5 bis 14 waren keine weiteren Gebühren festzusetzen, da Rechtsanwalt Pp. in den Fallakten 5 bis 8 nicht tätig geworden ist und es insoweit an einer vorherigen Tätigkeit gemäß § 46 Abs. 6 RVG mangelt. Überdies sind die Vorwürfe aus den Verfahren 7 bis 12 und 14 eingestellt worden, so dass denklogisch am 27.12.2019 keine Erstreckung durch das Amtsgericht erfolgen konnte, da die Vorwürfe aus diesen Fallakten beim Amtsgericht überhaupt nicht anhängig geworden sind. Insoweit kann das Amtsgericht auch keine Erstreckung anordnen. Hinsichtlich der Fallakte 13 liegt ein einheitlicher Lebenssachverhalt vor, da der Vorwurf des Tankbetruges im Zusammenhang mit der anschließenden Tat aus der Hauptakte steht, zumal beide Taten am gleichen Abend mit dem gleichen Pkw begangen worden sind.

Allein hinsichtlich der Fallakten 15 bis 18 liegen hier ausnahmsweise eigene Angelegenheiten vor, obwohl diese als Fallakten geführt werden. Denn die Abgabe an die Staatsanwaltschaft und die Beiordnung von Rechtsanwalt Pp. für die Hauptakten und die Fallakten 1 bis 4 war bereits erfolgt und er ist in den Verfahren der Fallakten 15 bis 18 durch die Verteidigungsanzeige vom 25.10.2019 vor der Erstreckung tätig geworden und die Erstreckung bezog sich auch auf die Verfahren der Fallakten 15 bis 18.

Für die Beurteilung, ob bei mehreren Tatvorwürfen dieselbe Angelegenheit und ein einziger „Rechtsfall" im Sinne der Nr. 4100 VV RVG gegeben sind, ist maßgebend, wie die Strafverfolgungsbehörden die Sache behandeln. Wird gegen den Beschuldigten in getrennten Verfahren ermittelt, ist jedes für sich eine eigene Angelegenheit. Hingegen handelt es sich gebührenrechtlich um nur eine Rechtssache, wenn die Ermittlungen wegen mehrerer Straftaten in einem Verfahren betrieben werden (KG Beschl. v. 18.1.2012 — 1 Ws 2/12, BeckRS 2013, 7064, beck-online).

Insoweit ist es im Grundsatz vom Amtsgericht zutreffend, dass nicht jede Fallakte automatisch eine neue Sache im Sinn von § 15 Abs. 2 RVG auslöst.

Hier war jedoch die Besonderheit zu berücksichtigen, dass die Polizei die Akten mit den Fallakten 1 bis 4 zur Beantragung eines Haftbefehls an die Staatsanwaltschaft abgegeben hatte und die Sachen am 17.10.2019 bzw. am 18.10.2019 dort eingetragen und verbunden worden sind und für dieses Verfahren die Beiordnung erfolgte. Die weiteren Vorgänge sind teilweise von anderen Polizeistationen (Schortens und Moormerland) nach Aurich an die Polizei abgegeben worden und wurden von der Polizei als weitere Fallakten an die Staatsanwaltschaft abgegeben. Dass diese Fallakten 5 bis 18 bereits am 18.10.2019 als „Fallakten" vorhanden waren und bewusst nur ein Teil der Fallakten abgegeben worden sind, ist aus den Akten nicht ersichtlich ist. Die Abgabe erfolgte erst am 13.11.2019, wobei zwischenzeitlich die Beiordnung erfolgt war und Rechtsanwalt Pp. sich unter anderem zu den Fallakten 15 bis 18 gemeldet hatte. Insoweit stellten sich die Fallakten 15 bis 18 jeweils als eigene Angelegenheiten dar. Dies gilt hinsichtlich der Fallakte 13 nach den oben genannten Grundsätzen zum einheitlichen Lebenssachverhalt hingegen nicht, da es sich bei dieser Tat gemeinsam mit der Tat aus der Hauptakte um einen einheitlichen Lebenssachverhalt handelte, da beide Taten am gleichen Abend und mit dem gleichen Fahrzeug begangen worden sind.

Hinsichtlich der Fallakten 15 bis 18 konnte das Amtsgericht am 27.12.2019 auch die Erstreckung gemäß § 48 Abs. 6 Satz 3 RVG anordnen, da diese Verfahren durch die Staatsanwaltschaft formlos verbunden worden sind und Rechtsanwalt Pp. in diesen Verfahren auch bereits vor der Verbindung tätig war.

Insoweit waren die oben genannten Gebühren für die Fallakten 15 bis 18 zusätzlich zu den bereits festgesetzten Gebühren festzusetzen.

Die Kostenentscheidung findet ihre Grundlage in § 33 Abs. 6 RVG.


Einsender: RA A. Saathoff, Aurich

Anmerkung:


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