Gericht / Entscheidungsdatum: LG Halle, Beschl. v. 09.06.2021 - 10a Qs 61/21
Leitsatz: Die Frage, ob ein Verteidiger beizuordnen ist, kann auch in einem Gesamtstrafenfall nicht losgelöst von allen in Betracht zu ziehenden Umständen des Einzelfalls entschieden werden.
Landgericht Halle
10a Qs 61/21
Beschluss
Verteidiger:
wegen Diebstahls
hat die 10. Große Strafkammer des Landgerichts Halle als Beschwerdekammer durch den Vorsitzenden Richter am Landgericht, die Richterin und die Richterin am Landgericht am 29. Juni 2021 beschlossen:
Die sofortige Beschwerde des ehemals Beschuldigten gegen den Beschluss des Amtsgerichts Halle vom 20.05.2021 (Az: 394 Gs 4787/21(288/21)) wird auf seine Kosten als unbegründet verworfen.
Gründe
Wegen Diebstahls seines Kraftrades KTM aus seiner Garage in der Zeit zwischen dem 23.12.2020 und dem 25.12.2020 erstattete der Geschädigte pp. am 26.12.2020 Strafanzeige gegen Unbekannt. In der Folgezeit wandte sich der Geschädigte mehrfach mit "Hinweisen" an die Polizei, die zur Ergreifung des Täters führen sollten. So teilte er noch am 26.12.2020 seinen Verdacht mit, Daniel Preibisch könne den Diebstahl begangen haben (weil der immer Motorräder klaue) und bei dem ehemals Beschuldigten versteckt haben (weil auf dessen Grundstück viele Autos stünden). Schließlich teilte er am 30.12.2020 mit, sein entwendetes Motorrad am Vortag auf dem Grundstück des ehemals Beschuldigten gesehen zu haben. Eine Absuche auf dem Grundstück durch die Polizei am 30.12.2020, die der ehemals Beschuldigte zuließ, verlief negativ.
Auf ein Ermittlungsersuchen der Staatsanwaltschaft Halle vom 10.02.2021 hin wurde der Geschädigte zeugenschaftlich vernommen am 04.03.2021. In dieser Vernehmung gab er an, am 29.12.2020 aus etwa 30 m Entfernung ein orangefarbenes Motorrad auf dem Grundstück des ehemals Beschuldigten gesehen zu haben. Dieses erkannte er jedoch nicht zweifelsfrei als seine entwendete KTM wieder; typische Merkmale, wie Aufkleber auf den Handschützern, habe er nicht erkannt.
Mit dem gleichen Ermittlungsersuchen vom 10.02.2021 hatte die Staatsanwaltschaft die Polizei aufgefordert, den ehemals Beschuldigten verantwortlich zu vernehmen. Mit Schreiben vom 16.03.2021 wurde der ehemalige Beschuldigte zur Vernehmung geladen. Daraufhin meldete sich der Verteidiger des ehemaligen Beschuldigten mit Schriftsatz vom 23.03.2021, teilte seine Vertretung mit und beantragte namens und in Vollmacht des Beschuldigten seine Beiordnung als Pflichtverteidiger.
Am 12.04.2021 ging die Akte nach Erledigung des Ermittlungsersuchens wieder bei der Staatsanwaltschaft ein. Unter dem 29.04.2021 stellte die Staatsanwaltschaft das Verfahren gern. § 170 Abs. 2 StPO ein. Mit Verfügung vom gleichen Tag übersandte die Staatsanwaltschaft die Akte an das Amtsgericht Halle zur Entscheidung über den Beiordnungsantrag. Die Staatsanwaltschaft vertrat die Auffassung, dass kein Grund für eine Beiordnung vorliege.
Mit Schriftsatz vom 10.05.2021 ließ der ehemals Beschuldigte über seinen Verteidiger u.a. mitteilen, dass gegen ihn eine Vielzahl weiterer Verfahren anhängig seien. Das vorliegende Verfahren könne daher nicht isoliert betrachtet werden. Selbst wenn lediglich durch eine nachträgliche Gesamtstrafenbildung eine Gesamtfreiheitsstrafe von über einem Jahr drohe, sei ein Fall der notwendigen Verteidigung gegeben, selbst wenn es sich im Ausgangsverfahren um einen für sich genommen geringfügigen Vorwurf handle. Es komme nicht darauf an, dass sich das vorliegende Verfahren noch im Stadium des Ermittlungsverfahrens befunden habe, denn eine Vorverlagerung der Beiordnungsentscheidung sei gerade Sinn und Zweck der neuen seit dem 13.12.2019 geltenden Regelung.
Die Staatsanwaltschaft nahm unter dem 17.05.2021 Stellung.
Mit Beschluss vom 20.05.2021 wies das Amtsgericht Halle (AZ: 394 Gs 384 Js 4787/21 (288/21) den Antrag auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers zurück. Es habe kein Fall der notwendigen Verteidigung gern. § 140 Abs. 1 oder 2 StPO vorgelegen. Insbesondere sei die Mitwirkung eines Verteidigers nicht unter dem Gesichtspunkt der Schwere der Tat oder der zu erwartenden Rechtsfolge geboten gewesen, da der ehemals Beschuldigte im Falle einer Verurteilung für die in Rede stehende mutmaßliche Tat nicht mit einer so erheblichen Sanktion zu rechnen gehabt hätte, welche die Beiordnung eines Verteidigers zwingend erforderlich gemacht hätte. Soweit der Verteidiger meine, dass bereits im Ermittlungsverfahren weitere gerichtsanhängige, aber noch nicht rechtskräftig abgeschlossene Verfahren und damit eine etwaig später vorzunehmende Gesamtstrafenbildung zu berücksichtigen seien, teile das Gericht diese Auffassung nicht. Das Amtsgericht vertritt den Standpunkt, dass die Bildung einer Gesamtstrafe durch Einbeziehung von Strafen aus anderen Verurteilungen erst dann relevant würde, wenn der vorliegende Sachverhalt durch Erhebung der öffentlichen Klage gerichtsanhängig gemacht würde. Hiervon sei angesichts der erfolgten Einstellung gern. § 170 Abs. 2 StPO nicht auszugehen.
Gegen den am 01.06.2021 zugestellten Beschluss legte der ehemalige Beschuldigte über seinen Verteidiger mit Schriftsatz vom 08.06.2021 sofortige Beschwerde ein. Unter anderem führt er aus, dass die Voraussetzungen des § 140 Abs. 2 StPO zum Zeitpunkt der Antragstellung vorgelegen hätten. Auch im Falle eines Bewährungswiderrufes sei anerkannt, dass es auf das Gesamtstrafenübel ankomme. Zudem sei es gerade Sinn und Zweck der seit dem 13.12.2019 geltenden gesetzlichen Regelung gewesen, die Frage der Beiordnung ins Ermittlungsverfahren vorzuverlegen und nicht eine Anklageerhebung abwarten zu müssen. Es komme daher allein darauf an, dass eine potentielle Gesamtstrafenfähigkeit mit weiteren Vorwürfen schon im Ermittlungsverfahren vorliege, um einen Fall der notwendigen Verteidigung zu begründen.
Die Staatsanwaltschaft nahm unter dem 09.06.2021 Stellung. Die Tatsache, dass gegen den ehemaligen Beschuldigten zwei Verfahren gerichtsanhängig seien und ein weiteres Ermittlungsverfahren gegen ihn bei der Staatsanwaltschaft Halle geführt würde, rechtfertige keine Pflichtverteidigerbeiordnung unter dem Gesichtspunkt der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge gern. § 140 Abs. 2 StPO in diesem Verfahren. Die Bildung einer Gesamtstrafe durch Einbeziehung von Strafen aus anderen Verurteilungen würde erst dann relevant, wenn der vorliegende Sachverhalt durch Erhebung der öffentlichen Klage gerichtsanhängig gemacht würde. Vom Schutzzweck der §§ 140 ff. StPO sei nicht umfasst, eine rückwirkende Pflichtverteidigerbeiordnung auch in Fällen zu bejahen, in denen es wie hier nicht hinreichend wahrscheinlich sei, dass es überhaupt zu einer Verurteilung komme und dem Beschuldigten folglich überhaupt keine Strafe drohe.
II.
Die sofortige Beschwerde des ehemals Beschuldigten gegen den Beschluss des Amtsgerichts Halle vom 20.05.2021 (AZ_ 394 Gs 384 Js 4787/21 (288/21)) ist gemäß §§ 304, 306 Abs. 1, 311 Abs. 2 StPO i. V. m. § 142 Abs. 7 S. 1 StPO zulässig, insbesondere fristgerecht innerhalb der Wochenfrist bei dem Amtsgericht Halle eingegangen.
Die sofortige Beschwerde ist jedoch unbegründet. Sie hat in der Sache keinen Erfolg. Das Amtsgericht Halle hat dem ehemals Beschuldigten zu Recht die Beiordnung von Rechtsanwalt pp. als Pflichtverteidiger versagt. Mit dem Amtsgericht geht die Kammer davon aus, dass kein Beiordnungsgrund, insbesondere nicht der Grund der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge gern. § 140 Abs. 2 StPO, vorgelegen hat.
Nach Auffassung der Kammer ist eine rückwirkende Pflichtverteidigerbeiordnung und nur eine solche kommt vorliegend aufgrund der erfolgten Einstellung des Verfahrens gem. § 170 Abs. 2 StPO in Betracht ausnahmsweise zulässig, wenn der Antrag auf Beiordnung rechtzeitig vor Abschluss des Verfahrens gestellt wurde, die Voraussetzungen für eine Beiordnung gemäß § 140 Abs. 1, 2 StPO vorlagen und die Entscheidung durch behördeninterne Vorgänge unterblieben ist, auf die ein Außenstehender keinen Einfluss hatte.
Im hiesigen Verfahren fehlt es jedoch bereits an den Voraussetzungen für die Beiordnung eines Pflichtverteidigers. Es liegt insbesondere kein Beiordnungsgrund gem. § 140 Abs. 2 StPO unter dem Gesichtspunkt der Schwere der Tat oder der zu erwartenden Rechtsfolge vor.
Im Zuge der Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung zum 13.12.2019 ist die Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge ausdrücklich in den Wortlaut des § 140 Abs. 2 StPO aufgenommen worden. Wesentlich inhaltliche Änderungen folgen aus dieser sprachlichen Anpassung nicht, denn auch den bisherigen Rechtsbegriff der "Schwere der Tat" hat die Rechtsprechung maßgeblich mit Blick auf die zu erwartende Rechtsfolgenentscheidung interpretiert (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Auflage 2021, § 140 Rn 23). Die bislang in der Rechtsprechung gebildeten Grundsätze bleiben daher von Bedeutung.
Unter der Geltung des § 140 Abs. 2 StPO a.F. war bereits anerkannt, dass eine Straferwartung von einem Jahr Freiheitsstrafe in der Regel Anlass zur Beiordnung eines Verteidigers gibt. Zutreffend hat das Amtsgericht in seinem angegriffenen Beschluss darauf hingewiesen, dass der ehemals Beschuldigte in diesem Verfahren im Falle einer Verurteilung nicht mit einer so erheblichen Sanktion zu rechnen gehabt hätte, welche die Beiordnung eines Verteidigers zwingend erfordert hätte.
Dem Beschwerdeführer ist zuzugeben, dass diese Grenze grundsätzlich auch dann gilt, wenn sie nur wegen einer erforderlichen (nachträglichen) Gesamtstrafenbildung erreicht wird (vgl. OLG Naumburg, Urteil v. 22.05.2013 2 Ss 65/13 -, juris). Hierbei ist nicht nur auf bereits rechtskräftig verhängte Strafen abzustellen, sondern es sind auch weitere anhängige Verfahren zu berücksichtigen, die im Falle einer rechtskräftigen Verurteilung des Angeklagten gesamtstrafenfähig sind (vgl. KG, Beschluss vom 26.10.2016 (3) 161 Ss 162/16 (88/16) -, juris). Hierbei handelt es sich jedoch nicht um eine starre Grenze. § 140 StPO soll nach seinem Sinn und Zweck als Konkretisierung des Rechtsstaatsprinzips eine faire Verfahrensführung und eine effektivere Verteidigung des Beschuldigten gewährleisten. Im Rahmen einer Gesamtbewertung im Einzelfall ist daher kein starrer Schematismus angezeigt (vgl. OLG Stuttgart, Beschluss v. 02.03.2012 2 Ws 37/12 juris).
Die Frage, ob ein Verteidiger beizuordnen ist, kann daher nicht losgelöst von allen in Betracht zu ziehenden Umständen des Einzelfalls entschieden werden.
Vorliegend ist das hiesige Verfahren wegen Diebstahls noch nicht einmal gerichtsanhängig geworden, sondern wurde vielmehr bereits gem. § 170 Abs. 2 StPO eingestellt. Angesichts der allein durch den Geschädigten geäußerten und durch nichts zu belegenden Vermutungen zum Verbleib des Motorrades und einer etwaigen Tatbeteiligung des ehemals Beschuldigten war eine Anklageerhebung in diesem Verfahren auch zu keinem Zeitpunkt hinreichend wahrscheinlich. Die Frage der Gesamtstrafenfähigkeit mit weiteren in Parallelverfahren ausgeurteilten oder zu erwartenden Strafen stellt sich zu einem solch frühen Zeitpunkt des Verfahrens mit derart rudimentärer Beweislage noch nicht konkret und kann daher nicht Grundlage einer Beiordnungsentscheidung sein.
Diese Entscheidung steht nicht im Widerspruch zu der Entscheidung des LG Magdeburg vom 15.05.2020 (AZ: 21 Qs 47/20), die der Beschwerdeführer zitiert. In dem dortigen Verfahren war mit Blick auf die potentielle Gesamtstrafenfähigkeit zwar der Beiordnungsgrund der "Schwere der zu erwartenden Rechtsfolgen" bejaht worden, obwohl noch nicht Anklage erhoben war. Anders als im hiesigen Verfahren war die Erhebung der öffentlichen Klage infolge einer geständigen Einlassung des dortigen Angeklagten konkret und mit einem sehr hohen Maß an Wahrscheinlichkeit zu erwarten (vgl. LG Magdeburg, Beschluss vom 15.05.2020 21 Qs 47/20 Rn 12 juris).
III.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 473 Abs. 1 StPO.
Einsender: RA J.-R. Funck, Braunschweig
Anmerkung:
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