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Entscheidungen

OWi

Fristbeginn, Anwesenheit des Verteidigers, Abwesenheit des Betroffenen, Wiedereinsetzung

Gericht / Entscheidungsdatum: OLG Brandenburg, Beschl. v. 22.09.2021 – 1 OLG 53 Ss-OWi 340/21

Leitsatz: Hat der Rechtsmittelführer sowohl einen Antrag nach § 44 StPO als auch nach § 346 Abs. 2 StPO – ggf. jeweils i.V.m. §§ 79 Abs. 3, 80 Abs. 3, 4 OWiG - gestellt, so stehen diese beiden Anträge "in einer unlösbaren inneren Verbindung zueinander“. Das Rechtsmittelgericht hat in einem solchen Fall sowohl zu entscheiden, ob die Frist versäumt ist und – wenn das der Fall ist – als auch zu entscheiden, ob die Fristversäumung im Sinne von § 44 StPO entschuldigt ist.


In pp.

Dem Betroffenen wird Wiedereinsetzung in die Frist zur Einlegung des Antrags auf Zulassung der Rechtsbeschwerde gegen das Urteil des Amtsgerichts Brandenburg an der Havel vom 31. März 2021 gewährt.
Die Beschlüsse des Amtsgerichts Brandenburg an der Havel vom 10. Mai 2021 und vom 2. Juni 2021 sind gegenstandslos.
Eine Entscheidung des Senats über den Antrag des Betroffenen auf Zulassung der Rechtsbeschwerde gegen das Urteil des Amtsgerichts Brandenburg an der Havel vom 31. März 2021 ist gegenwärtig nicht veranlasst.
Der Betroffene trägt die Kosten des Wiedereinsetzungsverfahrens sowie seine darin entstandenen Auslagen.

Gründe

I.

Die Stadt Brandenburg hat gegen den Betroffenen mit Bescheid vom 14. Januar 2020, förmlich zugestellt am 16. Januar 2020, wegen Verstoßes gegen § 51 Abs. 1 Satz 2 SGB XI iVm. § 121 Abs. 1 Nr. 6 SGB XI eine Geldbuße in Höhe von 700,00 € festgesetzt.

Nach dem am 28. Januar 2020 bei der Verwaltungsbehörde angebrachten Widerspruch und Abgabe der Sache an das Amtsgericht Brandenburg an der Havel, hat die Bußgeldrichterin mit Verfügung vom 16. Juni 2020 Termin zur Hauptverhandlung auf den 14. Oktober 2020 anberaumt. Mit richterlicher Verfügung vom 8. September 2020 wurde der Hauptverhandlungstermin wegen Erkrankung der Richterin auf den 25. November 2020 verlegt. Wegen Terminkollision auf Verteidigerseite wurde der Hauptverhandlungstermin mit Verfügung vom 21. Oktober 2020 auf den 9. Dezember 2021 verlegt; am 2. Dezember 2020 wurde der Hauptverhandlungstermin wegen dienstlicher Verhinderung aufgehoben. Unter dem Datum des 21. Januar 2021 beraumte die Bußgeldrichterin Termin zur Hauptverhandlung auf den 31. März 2021 an.

Die Hauptverhandlung am 31. März 2021 fand in Anwesenheit des Verteidigers des Betroffenen statt; der Betroffene wurde auf seinen Antrag hin durch Beschluss vom selben Tag von seiner Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen entbunden. In der Beweisaufnahme räumte der Betroffene ausweislich des Hauptverhandlungsprotokolls über seinen Verteidiger ein, Beiträge zur privaten Pflegeversicherung aufgrund fehlender Leistungsfähigkeit nicht gezahlt zu haben. Das Amtsgericht setzte mit Urteil vom selben Tag wegen fahrlässigen Verstoßes gegen § 51 Abs. 1 Satz 2 SGB XI iVm. § 121 Abs. 1 Nr. 6 SGB XI eine Geldbuße von 250,00 € fest.

Mit dem bei Gericht am 23. April 2021 eingegangenen Anwaltsschriftsatz beantragte der Betroffene die Zulassung der Rechtsbeschwerde.

Das Amtsgericht Brandenburg an der Havel verwarf mit Beschluss vom 10. Mai 2021 die “eingelegte Rechtsbeschwerde“ als unzulässig, da die Wochenfrist zur Anbringung des Rechtsmittels nicht eingehalten worden sei.

Gegen den Verwerfungsbeschluss hat der Betroffene mit dem bei Gericht am 21. Mai 2021 angebrachten Anwaltsschriftsatz gerichtliche Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts nach § 346 Abs. 2 StPO iVm. §§ 79 Abs. 3, 80 Abs. 3, 4 OWiG beantragt sowie Wiedereinsetzung in die Frist zur Einlegung des Antrags auf Zulassung der Rechtsbeschwerde und – vorsorglich – Wiedereinsetzung in die Wiedereinsetzungsfrist.

Den Wiedereinsetzungsantrag begründet der Verteidiger des Betroffenen damit, dass er davon ausgegangen sei, dass die Rechtsmitteleinlegungsfrist erst mit Zustellung des Urteils beginne, da der Betroffene an der Hauptverhandlung nicht teilgenommen habe.

Mit Beschluss vom 2. Juni 2021 hat das Amtsgericht Brandenburg an der Havel den Antrag des Betroffenen auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand unter Verkennung seiner sachlichen Unzuständigkeit „abgelehnt“. Der Beschluss wiederum wurde – unter Verkennung der Angreifbarkeit mit einem befristeten Rechtsmittel – dem Betroffenen und dessen Verteidiger formlos übermittelt; eine Rechtsmittelbelehrung enthält die Entscheidung überdies nicht.

Der Betroffene hat gegen den amtsgerichtlichen Beschluss vom 2. Juni 2021 kein Rechtsmittel eingelegt.

Die Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg hat mit Stellungnahme vom 26. Juli 2021 beantragt, dem Betroffenen Wiedereinsetzung in die Frist zur Einlegung des Antrags auf Zulassung der Rechtsbeschwerde gegen das Urteil des Amtsgerichts Brandenburg an der Havel vom 31. März 2021 zu gewähren.

II.

Der Senat entscheidet entsprechend dem Antrag der Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg.

1. Dem Betroffenen ist auf seinen Antrag hin Wiedereinsetzung in die Frist zur Einlegung der Rechtsbeschwerde nach § 44 Abs. 1 S. 1 StPO iVm. §§ 79 Abs. 3, 80 Abs. 3 OWiG zu gewähren.

a) Die Entscheidung über das Wiedereinsetzungsgesuch ist auch im vorliegenden Fall vom Rechtsbeschwerdegericht zu treffen. Dem steht nicht entgegen, dass das (unzuständige) Amtsgericht Brandenburg an der Havel mit Beschluss vom 2. Juni 2021 bereits den Wiedereinsetzungsantrag des Betroffenen zurückgewiesen hat. Da der Senat auf Grund des Antrags des Betroffenen auf Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts gemäß § 346 Abs. 2 StPO iVm. §§ 79 Abs. 3, 80 Abs. 3, 4 OWiG mit der Sache befasst ist, ist er auch zur Entscheidung über das von dem Betroffenen gestellte Wiederaufnahmegesuch berufen, ohne durch dessen Ablehnung durch ein unzuständiges Gericht an einer solchen Entscheidung gehindert zu sein.

Im vorliegenden Fall kommt hinzu, dass die Entscheidung des Amtsgerichts Brandenburg an der Havel noch nicht in Rechtskraft erwachsen ist. Denn die Wochenfrist des § 311 Abs. 2 StPO ist durch die entgegen § 311 Abs. 2 2. Hs. iVm. §§ 35 Abs. 2, 35a, 36 Abs. 1 Satz 1 StPO iVm. §§ 79 Abs. 3, 80 Abs. 3, 4 OWiG unterbliebene förmliche Zustellung der Entscheidung, zudem ohne Rechtsmittelbelehrung, nicht in Lauf gesetzt worden. Dessen ungeachtet wird von der überwiegenden Rechtsprechung die Auffassung vertreten, dass auch eine formell rechtskräftige, die Wiedereinsetzung ablehnende Entscheidung des unzuständigen Vorgerichts das Rechtsbeschwerdegericht im Verfahren nach § 346 Abs. 2 StPO nicht binde (vgl. bereits RGSt 70, 186 ff.; RGSt 75, 171 ff.; BGH MDR 1977, 284; OLG Neustadt GA 1960, 121; OLG Düsseldorf NStE Nr. 5 zu § 44; OLG Hamm MDR 1979, 426 f.).

Denn hat der Rechtsbeschwerdeführer bzw. Betroffene sowohl einen Antrag nach § 44 StPO als auch nach § 346 Abs. 2 StPO (jeweils iVm. §§ 79 Abs. 3, 80 Abs. 3, 4 OWiG) gestellt, so stehen diese beiden Anträge „in einer unlösbaren inneren Verbindung zueinander“ (RGSt 75, 171, 172; OLG Hamm MDR 1979, 426, 427). Das Rechtsbeschwerdegericht hat in einem solchen Fall sowohl zu entscheiden, ob die Frist versäumt ist und – wenn das der Fall ist – als auch zu entscheiden, ob die Fristversäumung im Sinne von § 44 StPO entschuldigt ist. Nach ober- und höchstrichterlicher Rechtsprechung kann durch Beschränkung des Rechtsmittels auf einen Teil der angefochtenen Entscheidung die Nachprüfung durch das Rechtsbeschwerdegericht nur insoweit gehindert werden, als es sich um einen Teil handelt, der einer selbständigen Prüfung und Bewertung zugänglich ist (RG aaO.; OLG Hamm aaO., jeweils m.w.N.). Ist das nicht der Fall, so hindert selbst die Rechtskraft des durch das Vordergericht erledigten Teils nicht das Recht und die Pflicht des Rechtsmittelgerichts zur Nachprüfung. Dieser Grundsatz muss auch dann gelten, wenn ein Angriff auf das Urteil zum Teil durch eine Entscheidung des Vorderrichters erledigt ist (RG aaO.; OLG Hamm aaO.).

Dies betrifft den vorliegenden Fall: Denn die Entscheidung über den Wiedereinsetzungsantrag setzt die damit abschließende Prüfung der Frage der Fristversäumung notwendig voraus, so dass der Wiedereinsetzungsantrag einer selbständigen Prüfung und Beurteilung unabhängig von der Frage der Fristversäumung nicht zugänglich ist. Entsprechend ist der Senat gehalten, über beide Rechtbehelfe zu entscheiden.

b) Der Betroffene hat die Wochenfrist des § 341 Abs. 1 StPO iVm. §§ 79 Abs. 3, 80 Abs. 3 OWiG zur Einlegung der Rechtsbeschwerde versäumt. Das angefochtene Urteil wurde in der Hauptverhandlung am 31. März 2021 in Anwesenheit des Verteidigers des Betroffenen verkündet, so dass die nach § 341 StPO iVm. §§ 79 Abs. 3, 80 Abs. 3 OWiG maßgebliche Wochenfrist zur Einlegung der Rechtsbeschwerde mit Ablauf des 7. April 2021 endete. Mithin ist der erst am 23. April 2021 bei Gericht angebrachte Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde verfristet erfolgt.

Dem steht nicht entgegen, dass die Hauptverhandlung in Abwesenheit des Betroffenen stattgefunden hat. Die Frist zur Einlegung der Rechtsbeschwerde beginnt, wenn die Hauptverhandlung zwar nicht in Anwesenheit des Betroffenen, aber in Anwesenheit des nach § 73 Abs. 3 OWiG bevollmächtigten Verteidigers stattgefunden hat, nach §§ 79 Abs. 4 OWiG mit der Verkündung des Urteils. Ausweislich des Hauptverhandlungsprotokolls ist der Betroffene in der Hauptverhandlung durch den von ihm bevollmächtigten Verteidiger vertreten worden.
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c) Dem Betroffenen ist jedoch Wiedereinsetzung in die Frist zur Einlegung des Antrags auf Zulassung der Rechtsbeschwerde zu gewähren.

aa) Der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist innerhalb der Wochenfrist des § 45 Abs. 1 StGB iVm. § 46 Abs. 1 OWiG ab Kenntnis von der Fristversäumung bei Gericht angebracht worden; auch im Übrigen erfolgte der Antrag formgerecht.

bb) Der – vorsorglich gestellte – Antrag des Betroffenen auf Wiedereinsetzung in die Wiedereinsetzungsfrist ist daher zurückzuweisen, da insoweit keine Frist versäumt worden ist.

cc) Der Antrag auf Wiedereinsetzung in die Frist zur Einlegung der Rechtsbeschwerde ist begründet, da nach den Ausführungen des Verteidigers des Betroffenen das Fristversäumnis infolge von Unkenntnis über den Fristbeginn seitens des Verteidigers jedenfalls nicht auf einem (Mit-) Verschulden des Betroffenen beruht. Ein Verschulden des gewählten Verteidigers oder ein Kanzleiverschulden kann dem Betroffenen nicht zugerechnet werden (vgl. BVerfG NJW 1991, 351; BGHSt 14, 306, 308); zu einer Überwachung seines Verteidigers ist er nicht verpflichtet (BGH NStZ 1990, 25).

2. Mit der Gewährung der Wiedereinsetzung in die Frist zur Einlegung des Antrags auf Zulassung der Rechtsbeschwerde ist der Verwerfungsbeschluss des Amtsgerichts Brandenburg an der Havel vom 10. Mai 2021 und der Beschluss die Wiedereinsetzung betreffend vom 2. Juni 2021 gegenstandslos (vgl. zu § 346 StPO: BGHSt 25, 89, 91; OLG Hamm MDR 1979, 426; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl., § 346 Rdnr. 17); einer Aufhebung dieser Beschlüsse bedarf es nicht; die Aufnahme in den Beschlusstenor erfolgt aus Gründen der Klarstellung.

3. Eine Entscheidung des Senats über den gegen das Urteil des Amtsgerichts Brandenburg an der Havel vom 31. März 2020 eingelegten Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde ist gegenwärtig nicht veranlasst, weil bei Gewährung von Wiedereinsetzung in die Frist zur Einlegung der Rechtsbeschwerde das (abgekürzte) Urteil nachträglich begründet bzw. ergänzt werden kann (§ 77b Abs. 2 Satz 1 OWiG; § 46 Abs. 1 OWiG iVm. § 267 Abs. 4 S. 3 StPO, vgl. Göhler, OWiG, 18. Aufl., § 77b Rdnr. 6).

Die Frist zur Abfassung der Urteilsgründe beginnt - entgegen früher vertretener Auffassung - nicht schon mit dem Erlass des die Wiedereinsetzung gewährenden Beschlusses (vgl. dazu noch BayObLGSt 1979, 148; OLG Düsseldorf AnwBl. 1981, 288; OLG Celle MDR 1976, 508; KG NZV 1992, 123 f. m.w.N.), sondern erst, wenn die Akten bei dem für die Urteilsergänzung zuständigen Gericht eingehen (ausf. BGH NStZ 2009, 228 mit zustimmender Anm. Rieß; Senatsbeschluss vom 19. September 2017, (1 Z) 53 Ss-OWi 482/17 (284/17); Senatsbeschluss vom 13. Juli 2009, 1 Ss (OWi) 114 B/09, abgedruckt in: VRS 116, 450).

Nach Absetzung der Urteilsgründe obliegt die weitere Behandlung des eingelegten Antrags auf Zulassung der Rechtsbeschwerde zunächst dem Amtsgericht Brandenburg an der Havel, das nach förmlicher Zustellung der schriftlichen Urteilsgründe und nach Eingang einer Begründung des Antrags- bzw. der Rechtsbeschwerde oder nach Ablauf der Rechtsbeschwerdebegründungsfrist nach §§ 79 Abs. 3 Satz 1, 80 Abs. 3 Satz 1 OWiG, § 347 StPO zu verfahren und ggf. die Akte erneut über die Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg dem Senat zur Entscheidung über den Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde vorzulegen haben wird.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 7 StPO iVm. § 46 Abs. 1 OWiG.


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