Gericht / Entscheidungsdatum: LG Berlin, Beschl. v. 03.11.2021 - 538 Qs 131/21
Leitsatz: Die Möglichkeit, dass durch die Aktenkenntnis des Verletzten eine auf den Akteninhalt präparierte Zeugenaussage folgt, reicht für die Annahme einer Gefährdung des Untersuchungszwecks und damit für eine Versagung der Akteneinsicht noch nicht aus. Bei Aussage gegen Aussage Konstellationen ist jedoch durch die Aktenkenntnis des Verletzten regelmäßig eine Beeinträchtigung der gerichtlichen Sachaufklärung (§ 244 Abs, 2 StPO) zu besorgen, weil die Kenntnis des Verletzten vom Akteninhalt die Zuverlässigkeit und den Wahrheitsgehalt der Zeugenaussage beeinträchtigen kann und die Beurteilung im Hinblick auf die Konstanz der Aussage als wesentliches Glaubhaftigkeitskriterium erschwert. In diesen Fällen ist jedenfalls eine unbeschränkte Akteneinsicht des Verletzten mit der gerichtlichen Pflicht zur bestmöglichen Sachaufklärung unvereinbar.
Landgericht Berlin
Beschluss
538 Os 131/21
In der Strafsache
gegen pp.
Verteidiger
Rechtsanwalt Frank Glaser, Teltower Damm 38, 14167 Berlin,
wegen sexueller Nötigung; Vergewaltigung
hat die 38. große Strafkammer des Landgerichts 'Berlin am 3. November 2021 beschlossen:
1. Auf die Beschwerde des Angeklagten wird der Beschluss des Amtsgerichts Tiergarten vom 11. Oktober 2021 dahingehend abgeändert, dass die Vernehmungsprotokolle der Nebenklägerin von der Akteneinsicht ausgenommen sind.
2. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem Angeklagten insoweit entstandenen notwendigen Auslagen fallen der Landeskasse Berlin zur Last.
I.
Die Staatsanwaltschaft Berlin hat am 11. Juni 2021 Anklage gegen den Beschwerdeführer erhoben. Ihm wird sexuelle Nötigung und Vergewaltigung vorgeworfen.
Das Amtsgericht Tiergarten hat die Anklage am 9. August 2021 unter Eröffnung des Hauptverfahrens vor dem Schöffengericht zur Hauptverhandlung zugelassen. Termin zur Hauptverhandlung wurde auf den 9. November 2021 anberaumt.
Auf den Antrag der Zeugin pp. vom 10. September 2021 ließ das Amtsgericht Tiergarten sie mit Beschluss vom 14. September 2021 als Nebenklägerin zu und ordnete ihr Rechtsanwältin pp.. als Nebenklagevertreterin bei, welche Akteneinsicht nach § 406e StPO beantragte.
Mit anwaltlichem Schriftsatz vom 17. September 2021 trat der Angeklagte der begehrten Akteneinsicht entgegen. Sein Verteidiger kopierte zur Begründung einen Beschluss des Landgerichts Köln vom 29. Januar 2021 (120 Qs 3-4/21) in seinen Schriftsatz ein. Inhaltlich brachte er damit zum Ausdruck, dass die Akteneinsicht den Untersuchungszweck gefährde, denn es handele sich um eine Aussage-gegen-Aussage-Konstellation, in der den Angaben der Nebenklägerin zentrale Bedeutung zukäme. Da es an ergänzenden tatbezogenen Beweismitteln fehle, sei eine besondere Prüfung der Glaubhaftigkeit ihrer Angaben, insbesondere im Hinblick auf die Aussagekonstanz, erforderlich. Eine umfassende Akteneinsicht gefährde insoweit den Grundsatz der Wahrheitsermittlung, hinter dem das Informationsrecht der Nebenklägerin zurücktreten müsse.
Mit dem angefochtenen Beschluss hat das Amtsgericht Tiergarten dem Antrag der Nebenklägerin entsprochen und dieser umfassend Akteneinsicht nach § 406e StPO gewährt.
In der hiergegen eingelegten Beschwerde vom 18. Oktober 2021 begehrt der Angeklagte die Aufhebung des Beschlusses, hilfsweise die Beschränkung der Akteneinsicht dergestalt, dass die Vernehmungsprotokolle der Nebenklägerin ausgenommen werden.
Das Amtsgericht Tiergarten hat der Beschwerde nicht abgeholfen.
II.
Die zulässige Beschwerde ist im Hinblick auf den Hilfsantrag begründet.
Gemäß § 406e Abs. 2 Satz 2 StPO kann dem durch eine Straftat Verletzten, die Akteneinsicht unter anderem dann versagt werden, wenn und soweit der Untersuchungszweck gefährdet erscheint. Dies ist grundsätzlich auch nach Erhebung der öffentlichen Klage möglich (vgl: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Auflage 2019, § 406e Rn. 11).
Die Möglichkeit, dass durch die Aktenkenntnis des Verletzten eine. auf den Akteninhalt präparierte Zeugenaussage folgt, reicht für die Annahme einer Gefährdung des Untersuchungszwecks noch nicht aus, Bei Aussage gegen Aussage Konstellationen ist jedoch durch die Aktenkenntnis des Verletzten regelmäßig eine Beeinträchtigung der gerichtlichen Sachaufklärung (§ 244 Abs, 2 StPO) zu besorgen, weil die Kenntnis des Verletzten vom Akteninhalt die Zuverlässigkeit und den Wahrheitsgehalt der Zeugenaussage beeinträchtigen kann (vgl. Hanseatisches Oberlandesgericht Hamburg, Beschluss vom 22. Juli 2015 1 Ws 88/15 ) und die Beurteilung im Hinblick auf die Konstanz der Aussage als wesentliches Glaubhaftigkeitskriterium erschwert. In diesen Fällen ist jedenfalls eine unbeschränkte Akteneinsicht des Verletzten mit der gerichtlichen Pflicht zur bestmöglichen Sachaufklärung unvereinbar (vgl. Hanseatisches Oberlandesgericht Hamburg a.a.O.).
Jedoch bedeutet dies nicht, dass der Nebenklägerin die Akteneinsicht gänzlich zu versagen ist. Mildere Mittel, die diese Besorgnis hinreichend ausräumen, sind vorrangig zu prüfen. Insoweit genügt es, die Versagung der Akteneinsicht lediglich. auf die Protokolle der Vernehmung der Nebenklägerin zu beschränken (vgl. Kammergericht, Beschluss vom 5. Oktober 2016 -. 3 Ws 517/16 m.w.N.).
Die unbeschränkte Akteneinsicht ist daher im derzeitigen Verfahrensstadium zu versagen, bleibt aber zu einem späteren Zeitpunkt (nach Abschluss der Vernehmung der Nebenklägerin im gerichtlichen Verfahren) unbenommen.
III.
Die Landeskasse Berlin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die notwendigen Auslagen des Angeklagten (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63, Auflage 2020, § 473 Rn. 23 m.w.N.), da die Beschwerde weit überwiegend Erfolg hatte
Einsender: RA F. Glaser, Berlin
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