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Entscheidungen

Haftfragen

Beschleunigungsgrundsatz, Urteilerlass, Förderung des Verfahrens

Gericht / Entscheidungsdatum: OLG Schleswig, Beschl. v. 21.09.2021 - 1 Ws 160/21

Leitsatz: Zwar gilt das Beschleunigungsgebot in Haftsachen nach dem Urteilserlass in nur noch abgeschwächter Form, so dass Verfahrensverzögerungen nach dem erstinstanzlichen Urteil grundsätzlich geringer ins Gewicht fallen und das Gewicht des staatlichen Strafanspruchs sich durch den erfolgten Schuldspruch vergrößert hat. Dies rechtfertigt aber nicht eine um mehrere Monate verzögerte Fertigstellung des Hauptverhandlungsprotokolls.


1 Ws 160/21

Schleswig-Holsteinisches Oberlandesgericht

Beschluss

In dem Strafverfahren
gegen pp.

Verteidigen

wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern u. a.

Auf die Beschwerde des Angeklagten gegen den Beschluss der 1. Großen Jugendkammer des Landgerichts Itzehoe vom 26. April 2021, mit welchem der Haftbefehl des Landgerichts Itzehoe vom 26. August 2020 (3 Qs 12/20 jug.) aufrechterhalten und die Fortdauer der Untersuchungshaft angeordnet worden ist, und dem sie mit Verfügung des Vorsitzenden vom 30. August 2021 nicht abgeholfen hat, hat das Schleswig-Holsteinische Oberlandesgericht - I. Strafsenat - nach Anhörung der Staatsanwaltschaft am 21. September 2021 beschlossen:

1. Der Haftbefehl des Landgerichts Itzehoe vorn 26_ August 2020 wird aufgehoben.
2. Der Angeklagte ist in dieser Sache unverzüglich aus der Untersuchungshaft zu entlassen.
3. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die notwendigen Auslagen des Angeklagten werden der Landeskasse auferlegt.

Gründe:

Die gemäß § 304 Abs. 1 StPO statthafte und zulässig eingelegte Beschwerde hat auch in der Sache Erfolg.

Die Haftfortdauerentscheidung der 1. Großen Jugendkammer des Landgerichts Itzehoe vom 26. April 2021 hält einer rechtlichen Überprüfung zum Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung durch den Senat nicht mehr stand.

Zwar ist auch der Senat wie auch die Generalstaatsanwaltschaft Schleswig-Holstein der Auffassung, dass der Angeklagte der ihm zur Last gelegten Taten nach Maßgabe des zwischenzeitlich ergangenen Urteils vom 26. April 2021 weiter dringend verdächtig ist und auch die Voraussetzungen des Haftgrundes der Wiederholungsgefahr nach § 112a Abs. 1 Nr. 1 StPO vorliegen.

Allerdings stellt sich der weitere Vollzug der Untersuchungshaft, die nunmehr bereits ein Jahr und zwei Monate andauert, nicht mehr als verhältnismäßig im Sinne von § 120 Abs. 1 StPO dar. Zwar gilt das Beschleunigungsgebot in Haftsachen nach dem Urteilserlass in nur noch abgeschwächter Form, so dass Verfahrensverzögerungen nach dem erstinstanzlichen Urteil grundsätzlich geringer ins Gewicht fallen und das Gewicht des staatlichen Strafanspruchs sich durch den erfolgten Schuldspruch vergrößert hat (vgl. KG Berlin, Beschluss vom 07. März 2014 4 Ws 21/14 —, juris). Gleichwohl hat auch nach Erlass eines Urteils eine Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch des Inhaftierten und dem staatlichen Strafverfolgungsinteresse zu erfolgen. Bei der Bewertung der, Angemessenheit der Verfahrensdauer kommt es auf objektive Kriterien an, die etwa in der Komplexität der Rechtssache, der Vielzahl der beteiligten Personen oder dem Verhalten der Verteidigung liegen können. Dabei sind mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft stets höhere Anforderungen an das Vorliegen eines rechtfertigenden Grundes für deren Fortdauer zu stellen. Allein die Schwere der Tat und die sich daraus ergebende Straferwartung vermag bei erheblichen, vermeidbaren und dem Staat zuzurechnenden Verfahrensverzögerungen nicht zur Rechtfertigung einer ohnehin schon langandauernden Untersuchungshaft zu dienen (BVerfG - 3. Kammer des 2. Senats -, Beschluss vom 16. März 2006 - 2 BA 170/06 -, dort Rn. 29 mit weiteren Nachweisen; bei juris).

Solche, nicht mehr hinnehmbaren und dem Staat zuzurechnenden Verfahrensverzögerungen, liegen nach Auffassung des Senats vor: Das Urteil der Kammer ist innerhalb der - gemäß § 275 Abs. 1 Satz 2 StPO auf neun Wochen verlängerten - Absetzungsfrist am 28. Juni 2021 zu den Akten gelangt. Die Fertigstellung des Hauptverhandlungsprotokolls erfolgte demgegenüber aber erst am 5. September 2021, mithin mehr als vier Monate nach Verkündung des Urteils und mehr als zwei Monate nach Ablauf der Absetzungsfrist. Eine derartige Verzögerung, auf die der Angeklagte keinen Einfluss nehmen kann und durch die das Revisionsverfahren mangels Zustellbarkeit des Urteils (§ 274 Abs. 4 StPO) keinen Fortgang nehmen kann, verletzt das Beschleunigungsgebot in Haftsachen in einem Maße, aufgrund dessen der weitere Vollzug der Untersuchungshaft nicht mehr verhältnismäßig ist. Soweit es in der Nichtabhilfeentscheidung der Kammer heißt, dass „aufgrund zwischenzeitlicher urlaubsbedingter Abwesenheiten des Vorsitzenden und der Protokollführerinnen konnte das Hauptverhandlungsprotokoll noch nicht fertiggestellt werden", liegt hierin kein sich aus dem Verfahren ergebender Umstand, der die damit einhergehende Verzögerung rechtfertigen könnte. Die Hauptverhandlung, welche unmittelbar vor Ablauf der Sechs-Monats-Frist des § 121 StPO begann, konnte innerhalb von elf Hauptverhandlungstagen durchgeführt werden. Diese Termine erstreckten sich über einen Zeitraum von zweieinhalb Monaten, so dass schon in dieser Zeit Teilprotokolle gefertigt wurden und damit erhebliche Zeit zur Verfügung stand, die Fertigstellung des Protokolls insgesamt vorzubereiten, so dass dieses jedenfalls in der Absetzungsfrist hätte vorliegen können. Nicht nachvollziehbar erscheint dem Senat dagegen, dass innerhalb eines mehrmonatigen Zeitfensters urlaubsbedingte Abwesenheiten ausschlaggebend für die zeitliche Verzögerung gewesen sein sollen. Zum einen dürfte es sich hierbei um überschaubare Zeiträume gehandelt haben, zum anderen sind derartige Abwesenheiten absehbar, so dass verfahrensorganisatorisch darauf hinzuwirken ist, dass etwaige (Teil-)protokolle zügig - ggf. vor Urlaubsantritt - gefertigt werden. Dies war vorliegend auch leistbar und nicht etwa mit einem solchen Aufwand verbunden, dass das Beschleunigungsgebot dahinter zurückzutreten hätte. Das vorliegende Verfahren hatte nämlich gemessen am Umfang und der Dauer anderer Verfahren, die in die Zuständigkeit einer Großen Strafkammer gehören, einen noch überschaubaren Umfang. Entsprechendes gilt für das Protokoll der Hauptverhandlung, weshalb dessen Fertigstellung erst. am 5. September 2021 eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung darstellt (vgl. hierzu auch (BGH, Beschluss vom 8. Juni 2021, - 5 StR 481/20 juris). Das Bundesverfassungsgericht hat mit der bereits zitierten Entscheidung schon eine Verfahrensdauer von zwei Wochen bis zur vollständigen Absetzung des Urteils und einen Zeitraum zwischen Fertigstellung des Hauptverhandlungsprotokolls und der Zustellung des Urteils von drei Wochen als Verzögerung angenommen, welche im Hinblick auf die zu erledigenden Vorgänge kaum noch zu rechtfertigen seien. Dabei hat es auch ausgeführt, dass gesetzliche Höchstfristen nicht als Regelfristen anzusehen seien. Vorliegend ist eine Verfahrensverzögerung von mehreren Monaten festzustellen. Die dem Senat aus anderen Verfahren bekannte Auslastung der Kammer und ihrer auch noch in anderen Strafkammern eingesetzten Mitglieder mit zahlreichen Haftsachen kann in der Sache nicht dazu führen, dass absehbar erforderliche prozessuale Handlungen, wie das Fertigstellen des Hauptverhandlungsprotokolls, über Monate unerledigt bleiben.

Dies gilt nicht nur für den Haftgrund der Wiederholungsgefahr, dessen zeitliche Beschränkung aus § 122a StPO nach Urteilserlass nicht unmittelbar gilt, sondern auch für den seitens der Generalstaatsanwaltschaft angenommenen Haftgrund der Fluchtgefahr. Ungeachtet der Frage, ob eine solche tatsächlich anzunehmen wäre, wäre der Vollzug weiterer Untersuchungshaft auch diesbezüglich nicht mehr verhältnismäßig.

Der Haftbefehl war daher aufzugeben und der Angeklagte unverzüglich aus der Untersuchungshaft zu entlassen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 467 Abs. 1 StPO in entsprechender Anwendung.


Einsender: RA S. Böttner, Hamburg

Anmerkung:


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