Diese Homepage verwendet Cookies, um Inhalte und Anzeigen zu personalisieren, Funktionen für soziale Medien anbieten zu können und die Zugriffe auf die Website zu analysieren. Außerdem gebe ich Informationen zu Ihrer Nutzung meiner Website an meine Partner für soziale Medien, Werbung und Analysen weiter.

OK Details ansehen Datenschutzerklärung

Entscheidungen

StPO

Pflichtverteidiger, Unfähigkeit der Selbstverteidigung, Strafbefehlsverfahren

Gericht / Entscheidungsdatum: LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 08.02.2022 – 12 Qs 5/22

Leitsatz des Gerichts: Es können erhebliche Zweifel an der Fähigkeit eines Beschuldigten, sich selbst zu verteidigen, bestehen, wenn aufgrund desolater psychischer und persönlicher Verhältnisse ersichtlich ist, dass er mit behördlichem Schriftverkehr (hier: Strafbefehl) und einer adäquaten Reaktion hierauf schlicht überfordert ist.


In pp.

1. Der Beschluss des Amtsgerichts Nürnberg vom 24. September 2021 wird aufgehoben.
2. Der Beschwerdeführerin wird Rechtsanwältin S. rückwirkend auf den Zeitpunkt der Antragstellung als Pflichtverteidigerin beigeordnet.
3. Die Staatskasse trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die der Beschwerdeführerin insoweit entstandenen notwendigen Auslagen.

Gründe

I.

Die Beschwerdeführerin wendet sich gegen die Ablehnung ihres Antrags auf Bestellung eines Pflichtverteidigers. Dem liegt zugrunde:

Die unter offener Bewährung stehende Beschwerdeführerin entwendete am 6. Dezember 2020 in einer Drogerie eine Bodylotion im Wert von einem Euro. Dabei wurde sie vom Ladendetektiv gestellt und angezeigt. Am 22. Dezember 2020 zeigte sich Rechtsanwältin S. für die Beschwerdeführerin an und beantragte die Beiordnung als Pflichtverteidigerin. Am 22. März 2021 beantragte die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth beim Amtsgericht Nürnberg den Erlass eines Strafbefehls wegen Diebstahls gegen die Beschwerdeführerin. Der Strafbefehl, der eine Strafe von 90 Tagessätzen vorsah, wurde erlassen und mangels Einspruchs rechtskräftig. Später erinnerte die Rechtsanwältin an den noch nicht verbeschiedenen Antrag auf Pflichtverteidigerbeiordnung. Am 24. September 2021 lehnte das Amtsgericht den Antrag ab. Hiergegen erhob die Verteidigerin namens der Beschwerdeführerin sofortige Beschwerde. Dieser half das Amtsgericht am 28. Januar 2022 nicht ab und legte die Akte der Kammer vor. Die Staatsanwaltschaft beantragt, die Beschwerde als unbegründet zu verwerfen.

II.

Die statthafte (§ 142 Abs. 7 Satz 1 StPO) und auch sonst zulässige sofortige Beschwerde ist begründet.

1. Es entspricht der Rechtsprechung des Oberlandesgerichts Nürnberg (Beschluss vom 6. November 2020 - Ws 962/20, StV 2021, 153; ebenso OLG Bamberg, Beschluss vom 29. April 2021 -1 Ws 260/21, juris), zahlreicher Landgerichte (umfangreiche Nachweise bei Burhoff, StraFo 2021, 486, 492 Fn. 98) und auch der Kammer (Beschluss vom 4. Mai 2021 - 12 Qs 22/21, juris), dass die rückwirkende Beiordnung eines Pflichtverteidigers in Betracht kommt, wenn der Antrag auf gerichtliche Beiordnung vor Verfahrensabschluss gestellt wurde, die Voraussetzungen des § 140 StPO vorgelegen haben und aufgrund justizinterner Umstände eine rechtzeitige Bescheidung des Antrags unterblieben ist. Hieran hält die Kammer auch im Lichte abweichender Rechtsprechung (z.B. OLG Brandenburg, Beschluss vom 9. März 2020 - 1 Ws 19/20, 1 Ws 20/20, NStZ 2020, 625; OLG Bremen, Beschluss vom 23. September 2020 - 1 Ws 120/20, NStZ 2021, 253) aus den andernorts (Beschluss vom 4. Mai 2021, aaO.) ausgeführten Gründen fest.

2. Die Voraussetzungen des § 140 Abs. 2 StPO waren bei Antragstellung erfüllt.

a) Der Beschwerdeführerin drohte allerdings kein hinreichend gewichtiger Bewährungswiderruf. Ein Fall der wegen der Schwere der Tat notwendigen Verteidigung gemäß § 140 Abs. 2 StPO liegt in der Regel vor, wenn der Angeklagte neben der ihm im aktuellen Verfahren drohenden Strafe mit dem Widerruf einer zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe rechnen muss, sodass das insgesamt drohende Freiheitsstrafübel ein Jahr oder mehr beträgt (vgl. OLG Nürnberg, Beschluss vom 16. Januar 2014 - 2 OLG 8 Ss 259/13, juris Rn. 10 ff.). Hier stand die Beschwerdeführerin zur Tatzeit unter laufender Bewährung (Verurteilung durch AG Lichtenfels vom 27. Juni 2017 …). Die ausgesetzte Freiheitsstrafe betrug fünf Monate. In der offenen Bewährungszeit hatte die Beschwerdeführerin vor der hier verhängten Strafe bereits eine Geldstrafe wegen Diebstahls in Höhe von 45 Tagessätzen erhalten. Auch wenn die Staatsanwaltschaft statt der angesichts des Wertes der entwendeten Ware von einem Euro ohnehin harten Strafe von 90 Tagessätzen eine kurze Freiheitsstrafe beantragt hätte, hätte ein Gesamtstrafübel aus neuer und widerrufener Strafe von annähernd einem Jahr realistischerweise nicht gedroht.

b) Allerdings bestehen, was ausreicht (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl., § 140 Rn. 30a), erhebliche Zweifel an der Fähigkeit der Beschwerdeführerin zur Zeit der Antragstellung, sich selbst zu verteidigen (§ 140 Abs. 2 a.E. StPO).

Zugegebenermaßen sind die schon vor Strafbefehlserlass aktenkundigen Hinweise auf psychische Probleme der Beschwerdeführerin und die erwogene Traumatherapie vage. Aus den von der Kammer beigezogenen Berichten ihrer Bewährungshelferin ergibt sich allerdings, dass die Beschwerdeführerin mit ihrer jahrelangen Suchtmittelabhängigkeit zu kämpfen hat – nachgewiesen ist der Gebrauch unterschiedlicher Substanzen – und infolge traumatischer Erlebnisse psychisch belastet ist. Sie wohnte und wohnt immer noch in einer Obdachlosenpension und erleidet immer wieder physische und psychische Einbrüche. Erst im Sommer 2021 wurde sie nach einer erneuten stationären Einweisung neu substituiert, sodass sie seitdem sortierter, ansprechbarer und insgesamt ruhiger ist. Angesichts dessen bezweifelt die Kammer, ob die Beschwerdeführerin in der Lage war, sich adäquat gegen den Strafbefehl zu wehren. Es ist jedenfalls auffällig und bestätigt den Zweifel der Kammer, dass ausweislich des Bundeszentralregisters die zwischenzeitlich drei in laufender Bewährung gegen die Beschwerdeführerin erlassenen Strafbefehle allesamt alsbald nach Erlass rechtskräftig geworden sind, was die Einlegung eines Einspruchs jeweils ausschließt. Wer sich in einer solchen Situation des drohenden Bewährungswiderrufs gegen Geldstrafen, die er ohnehin nicht zahlen kann, nicht wehrt, und sei es nur mit dem Ziel, die Geldstrafe zu reduzieren, ist dazu womöglich, jedenfalls im Sinne des § 140 Abs. 2 StPO nicht hinreichend in der Lage.

III.

Die Kostenfolge beruht auf § 467 Abs. 1 StPO analog.


Einsender:

Anmerkung:


zurück zur Übersicht

Die Nutzung von Burhoff-Online ist kostenlos. Der Betrieb der Homepage verursacht aber für Wartungs-, Verbesserungsarbeiten und Speicherplatz laufende Kosten.

Wenn Sie daher Burhoff-Online freundlicherweise durch einen kleinen Obolus unterstützen wollen, haben Sie hier eine "Spendenmöglichkeit".