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Entscheidungen

Corona

gefälschtes Impfbuch, Urkundenfälschung, Sperrwirkung, OLG Stuttgart

Gericht / Entscheidungsdatum: OLG Stuttgart, Beschl. v. 08.03.2022 - 1 Ws 33/22

Eigener Leitsatz: Zur Verdrängung des Straftatbestandes der Urkundenfälschung gemäß § 267 Abs. 1 StGB durch § 279 StGB a.F. in den Fällen der sog. Impfausweisfälschung.


1 Ws 33/22

StA Hechingen
Oberlandesgericht Stuttgart

In der Strafsache
gegen pp.

wegen Urkundenfälschung

1. Auf die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft Hechingen wird der Beschluss des Landgerichts —1. Große Strafkammer — Hechingen vom 25. Januar 2022 aufgehoben.
2. Die Anklage der Staatsanwaltschaft Hechingen vom 2. Dezember 2021 wird zur Hauptverhandlung zugelassen.
3. Das Hauptverfahren wird vor dem Landgericht — 1. Große Strafkammer — Hechingen
eröffnet.
4. Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.

Gründe:

I.

Die Staatsanwaltschaft Hechingen erhob am 2. Dezember 2021 gegen den Angeklagten vor dem Landgericht Hechingen Anklage wegen Urkundenfälschung gemäß § 267 Abs. 1 StGB. Der Angeklagte soll am 8. November 2021 in der pp.apotheke in pp. 72355 der Mitarbeiterin pp. in Kenntnis der wahren Sachlage ein auf seinen Namen ausgestelltes gelbes Impfbuch nach Muster der WHO vorgelegt haben, in dem auf Seite 20 unter der Überschrift „Schutzimpfungen gegen CO-VID-19" zwei Eintragungen zu tatsächlich nicht erfolgten Impfungen unter dem Datum 12. Mai 2021 („CORMINATY Ch.-B. EY2172") bzw. 9. Juni 2021 („CORMINATY Ch.-B. FC3095") eingetragen waren, wobei als ausstellender Arzt jeweils unrichtig das „Impfzentrum Rottweil" mit Signierung eingetragen gewesen sein soll. Durch die Vorlage des Dokuments habe der Angeklagte über seine tatsächlich nicht erfolgten Impfungen gegen das Corona-Virus täuschen und die Ausstellung eines sogenannten digitalen Impfnachweises erlangen wollen.

Die 1. Große Strafkammer des Landgerichts Hechingen hat mit Beschluss vom 25. Januar 2022 die Eröffnung des Hauptverfahrens aus rechtlichen Gründen ab-gelehnt. Nach Ansicht der Strafkammer stellen die §§ 277, 279 StGB in der bis zum 23. November 2021 geltenden Fassung im Verhältnis zu § 267 StGB privilegierende Spezialvorschriften dar, weshalb ein Rückgriff auf das allgemeinere Delikt der Urkundenfälschung ausgeschlossen sei. Ein hinreichender Tatverdacht nach anderen Vorschriften sei nicht ersichtlich, insbesondere liege kein Fall des § 75a Abs. 2 Nr. 1 IfSG in der zur Tatzeit geltenden Fassung vom 28. Mai 2021 vor.

Gegen diese ihr am 26. Januar 2022 zugestellte Entscheidung richtet sich die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft Hechingen vom selben Tag, eingegangen beim Landgericht Hechingen am 27. Januar 2022. Mit ihrem Rechtsmittel erstrebt die Staatsanwaltschaft die Zulassung der Anklage und die Eröffnung des Hauptverfahrens vor dem Landgericht Hechingen.

Die Staatsanwaltschaft Hechingen vertritt die Ansicht, dass sich für die vorliegend angeklagte Fallkonstellation eine Spezialität des § 279 StGB in der bis zum 23. November 2021 geltenden Fassung nicht begründen fasse. Dem hat sich die Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Beschwerdebegründung angeschlossen.

II.

Die statthafte (§ 210 Abs. 2 StPO) sowie form- und fristgerecht (§ 311 Abs. 2 StPO) eingelegte sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft führt - unter Aufhebung des angefochtenen Beschlusses vom 25. Januar 2022 - zur Zulassung der Anklage und zur Eröffnung des Hauptverfahrens vor der 1. Großen Strafkammer des Landgerichts Hechingen.

Das Hauptverfahren ist nach § 203 StPO zu eröffnen, wenn nach de4n Ergebnissen des vorbereitenden Verfahrens der Angeschuldigte einer Straftat hinreichend verdächtig erscheint. Hinreichender Tatverdacht besteht, wenn bei vorläufiger Tatbewertung auf Grundlage des Ermittlungsergebnisses die Verurteilung in einer Hauptverhandlung mit vollgültigen Beweismitteln wahrscheinlich ist (BGH, Beschluss vom 15. Oktober 2013 - StB 16/13, juris, Rn. 16). Das Beschwerdegericht hat, wenn die Nichteröffnung mit der. sofortigen Beschwerde angegriffen ist, das Wahrscheinlichkeitsurteil des Erstgerichts und dessen rechtliche Würdigung in vollem Umfang nachzuprüfen und die Voraussetzungen der Eröffnung selbständig zu würdigen (KK-StPO/Schneider, 8. Auflage 2019, § 210 StPO, Rn. 10). Nach diesem Maßstab ist der Angeklagte der ihm vorgeworfenen Tat der Urkundenfälschung hinreichend verdächtig.

1. Vorliegend ergibt sich in tatsächlicher Hinsicht der hinreichende Tatverdacht aus den in der Anklage vom 2. Dezember 2021 bezeichneten Beweismitteln, insbesondere der Einlassung des Angeklagten, den Angaben der Zeugin pp. sowie dem sichergestellten Impfbuch.

Ein Beweisverwertungsverbot liegt diesbezüglich offensichtlich nicht vor.

2. Die dem Angeklagten zur Last gelegte Handlung erfüllt - ihre Nachweisbarkeit vorausgesetzt - den Straftatbestand der Urkundenfälschung nach § 267 Abs. 1 StGB.

Bei vollständig ausgefüllten Impfbüchern handelt es sich um verkörperte Gedankenerklärungen, die zum Beweis geeignet und bestimmt sind, und ihren Aussteller erkennen lassen (vgl. zum Begriff der Urkunde: Fischer, StGB, 69. Auflage 2022, § 267 Rn. 3). Scheinbarer Aussteller war der angebliche Impfarzt des Impfzentrums Rottweil. Dem vollständig ausgefüllten Impfbuch war die zum Beweis geeignete und bestimmte Gedankenerklärung des angeblichen Impfarztes zu entnehmen, dass der Angeklagte die bezeichneten Impfungen an einem bestimmten Datum erhalten habe, und dass hierbei das Vakzin einer bestimmten Charge verwendet worden sei. Die Urkunde war aufgrund der Täuschung über den Aussteller falsch. Von dieser gefälschten Urkunde wurde im Rechtsverkehr durch die Vorlage in der Apotheke zur Erlangung eines digitalen Impfnachweises auch Gebrauch gemacht.

3. Die Anwendung des Straftatbestandes der Urkundenfälschung gemäß § 267 Abs. 1 StGB wird im vorliegenden Fall nicht durch § 279 StGB verdrängt.

a) Gemäß § 279 StGB in der bis zum 23. November 2021 geltenden Fassung wird bestraft, wer, um eine Behörde oder eine Versicherungsgesellschaft über seinen oder eines anderen Gesundheitszustand zu täuschen, von einem Zeugnis der in den §§ 277 oder 278 StGB bezeichneten Art Gebrauch macht. § 279 StGB stellt mithin den Gebrauch gefälschter Gesundheitszeugnisse im Sinne des § 277 StGB oder unrichtiger Gesundheitszeugnisse im Sinne des § 278 StGB unter Strafe.

b) Nach zutreffender herrschender Meinung verdrängt § 279 StGB a.F. jedenfalls bei Vorliegen sämtlicher Tatbestandsvoraussetzungen - als Privilegierungstat-bestand nach den Grundsätzen der Spezialität einen gleichzeitigen Verstoß gegen § 267 StGB (MüKoStGB/Erb, 3. Auflage 2019, § 279 StGB, Rn. 5; NK-StGB/ Puppe/Schumann, 5. Auflage 2017, § 279 StGB, Rn. 9; vgl. auch Schönke/Schröder/Heine/Schuster, 30. Auflage 2019, § 277 StGB, Rn. 12; Lack-ner/Kühl/Heger, 29. Auflage 2018, § 277 StGB, Rn. 5; so auch bereits das Reichsgericht, Urteil vom 1. Dezember 1881 - 2112/81, RGSt 6, 1 f.). Während § 267 StGB mit Geldstrafe oder mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren geahndet werden kann, sehen die Straftatbestände der §§ 277 bis 279 StGB nur Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu einem (§§ 277, 279 StGB) bzw. bis zu zwei Jahren (§ 278 StGB) vor. Zudem besteht in den Fällen der §§ 277 bis 279 StGB keine Versuchsstrafbarkeit.

c) Nach derzeitigem Ermittlungsstand handelt es sich bei dem durch den Ange-klagten vorgelegten Impfpass um ein objektiv unrichtiges Gesundheitszeugnis gemäß den §§ 277 ff. StGB. Gesundheitszeugnisse sind Urkunden, die Erklä-rungen zum Gesundheitszustand eines Menschen enthalten (vgl. Fischer, StGB, 68. Auflage 2021, § 277 Rn. 3; MüKoStGB/Erb, 3. Auflage 2019, § 277, Rn. 2). Hierunter fällt auch der Impfnachweis, da die Impfung eine Information über die voraussichtlich gesteigerte Immunabwehrkraft als Aspekt des Gesundheitszustandes impliziert (Gaede/Krüger, NJW 2021, 2159, 2163; siehe auch RGSt 24, 284; OLG Hamburg, Beschluss vom 27. Januar 2022 - 1 Ws 114/21, juris, Rn. 16; OLG Bamberg, Beschluss vom 17. Januar 2022 - 1 Ws 732/21, juris, Rn. 14).

Eine Strafbarkeit nach § 279 StGB a.F. setzt jedoch das Gebrauchen des Gesundheitszeugnisses zur Täuschung einer Behörde (oder einer Versicherungsgesellschaft) voraus. Dabei ist eine Behörde ein ständiges, von der Person des Inhabers unabhängiges, in das Gefüge der öffentlichen Verwaltung eingeordnetes Organ der Staatsgewalt mit der Aufgabe, unter öffentlicher Autorität nach eigener Entschließung für Staatszwecke tätig zu sein (Fischer, StGB, 69. Auflage 2022, § 11, Rn. 29 mwN).

Bei einer Apotheke handelt es sich nicht um eine Behörde in diesem Sinne, sondern um ein privates Unternehmen (LG Osnabrück, Beschluss vom 26. Oktober 2021 - 3 Qs 38/21, juris, Rn. 9). Auch die Tatsache, dass gemäß § 22 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 VSG die Durchführung einer Schutzimpfung gegen das Coronavirus in einem digitalen Impfzertifikat auch von Apotheken zu bescheinigen ist, führt nicht dazu, dass diese als Behörden im Sinne des § 279 StGB a.F. anzusehen sind.

Der Umstand, dass gemäß § 22 Abs. 5 Satz 3 IfSG eine zur Bescheinigung der Schutzimpfung verpflichtete Apotheke bestimmte personenbezogene Daten an das Robert-Koch-Institut als Bundesbehörde übermittelt, welches das COVID-19-Impfzertifikat technisch generiert, führt vorliegend ebenfalls nicht zu einer Strafbarkeit nach §§ 277 ff. StGB. Zwar erfordert ein „Gebrauch machen" im Sinne des § 279 StGB keine eigenhändige Vorlage, es setzt jedoch ein - wenn auch nur mittelbares - Verbringen in den Machtbereich der Behörde mit der Möglichkeit jederzeitiger sinnlicher Wahrnehmung bzw. Kenntnisnahme voraus (OLG Stuttgart, Urteil vom 25. September 2013 - 2 Ss 519/13, juris, Rn. 21). Gemäß § 22 Abs. 5 IfSG werden dem Robert-Koch-Institut lediglich die personenbezogenen Daten aus dem vorgelegten Impfpass in elektronischer Form übermittelt, nicht jedoch der vorgelegte Impfpass selbst, so dass das Robert-Koch-Institut diesbezüglich keine eigene Möglichkeit der Kenntnisnahme hat (vgl. LG Osnabrück, Beschluss vom 26. Oktober 2021 - 3 Qs 38/21, juris, Rn. 12; OLG Bamberg, Beschluss vom 17. Januar 2022 - 1 Ws 732/21, juris, Rn. 52).

d) Da das Impfbuch im vorliegenden Fall nicht gebraucht wurde, um eine Behörde bzw. Versicherungsgesellschaft zu täuschen, vermag die zur Tatzeit geltende Fassung der §§ 277, 279 StGB nach Auffassung des Senats gegenüber dem Delikt der Urkundenfälschung keine Sperrwirkung zu entfalten.

In der Literatur wird überwiegend vertreten, dass die §§ 277 ff. StGB in der bis zum 23. November 2021 geltenden Fassung gegenüber dem Delikt der Urkundenfälschung eine umfassende Privilegierung des Umgangs mit gefälschten bzw. unrichtigen Gesundheitszeugnissen darstellten (vgl. MüKoStGB/Erb, 3. Auflage 2019, § 277, Rn, 11; Hoyer, SK-StGB, 9. Auflage 2017, § 277 Rn. 5; Zieschang in Leipziger Kommentar zum StGB, 12. Auflage 2009, § 277, Rn. 16). Dieser Ansicht haben sich mittlerweile auch mehrere Gerichte angeschlossen (vgl. OLG Bamberg, Beschluss vom 17. Januar 2022 - 1 Ws 732/21, juris; LG Osnabrück, Beschluss vom 26. Oktober 2021 - 3 Qs 38/21, juris; LG Karlsruhe, Beschluss vom 26. November 2021 -19 Qs 90/21; LG Kaiserslautern, Beschluss vom 23. Dezember 2021 - 5 Qs 107/21, juris; LG Landau, Beschluss vorn 13. Dezember 2021 - 5 Qs 93/21; zweifelnd hingegen LG Heilbronn, Beschluss vom 11. Januar 2022 - 1 Qs 95/21, juris). Nach der ebenfalls vertretenen Gegenauffassung (OLG Hamburg, Beschluss vom 27. Januar 2022 - 1 Ws 114/21, juris) sollte jedoch lediglich die Vorlage gefälschter bzw, unrichtiger Gesundheitszeugnisse gegenüber Behörden und Versicherungen privilegiert werden.

e) Der Senat schließt sich der letztgenannten Auffassung an.

Die §§ 277 bis 279 StGB in der bis zum 23. November 2021 gültigen Fassung befinden sich bereits seit dem Jahr 1871 im Kern unverändert im deutschen Strafgesetzbuch (vgl. RGBI. 1871, 127 [180]). Angesichts des Alters der Normen und des seither erfolgten vielfältigen allgemeinen Bedeutungswandels des Strafrechts erscheint bei der Auslegung des Gesetzes der historische Wille des damaligen Gesetzgebers in seinem Gewicht vermindert (OLG Hamburg, Beschluss vom 27. Januar 2022 - 1 Ws 114/21, juris, Rn. 22 mwN). So erscheint es zwar durchaus möglich, dass der Gesetzgeber zur damaligen Zeit dem Inhalt eines Gesundheitszeugnisses nur eingeschränkte Aussagekraft zumessen und aus diesem Grund nicht die gleiche Bedeutung beimessen wollte wie einer sonstigen Urkunde (so OLG Bamberg, Beschluss vom 17. Januar 2022 - 1 Ws 732/21, juris, Rn. 19). Aus hiesiger Sicht ist es jedoch auch vorstellbar, dass der Gesetzgeber die Privilegierung der Vorlage von Gesundheitszeugnissen gegenüber Versicherungen und Behörden im Gegensatz zur Vorlage gegenüber Privaten deshalb eingeführt hat, weil er davon ausging, dass Versicherungen und Behörden die Fälschungen leichter zu erkennen vermögen als Privatpersonen (so LG Heilbronn, Beschluss vom 11. Januar 2022 - 1 Qs 95/21, juris, Rn. 12), oder weil gegenüber Versicherungen und Behörden häufig ein zumindest faktischer Zwang zur Einreichung von gesundheitlichen Zeugnissen besteht (vgl. OLG Hamburg, Beschluss vom 27. Januar 2022 - 1 Ws 114/21, juris, Rn. 34).

Das Verhältnis zwischen § 267 StGB und den §§ 277 ff. StGB in der bis zum 23. November 2021 geltenden Fassung ist gesetzlich nicht ausdrücklich bestimmt. Das Gesetz enthielt insbesondere keine ausdrücklichen Hinweise auf einen Anwendungsvorrang der §§ 277 StGB (LG Heilbronn, Beschluss vom 11. Januar 2022 - 1 Qs 95/21, juris, Rn. 11). Ein solcher drängte sich unmittelbar nur in Fällen auf, in denen die Voraussetzungen der §§ 277 ff. StGB auch tatsächlich vorlagen (vgl. OLG Hamburg, Beschluss vom 27. Januar 2022 - 1 Ws 114/21, juris, Rn. 38).

Aus einer systematischen Gesamtbetrachtung lässt sich entgegen der über-wiegend vertretenen Auffassung gerade nicht zwingend entnehmen, dass der Gesetzgeber Gesundheitszeugnisse grundsätzlich anders behandeln wollte als sonstige Urkunden, so dass jene aus dem Anwendungsbereich der Urkundenfälschung herausfallen sollten (so auch OLG Hamburg, Beschluss vom 27. Januar 2022 - 1 Ws 114/21, juris, Rn. 27 ff.). Der Tatbestand der Urkundenfälschung schützt den Rechtsverkehr umfassend vor der Herstellung und dem Gebrauch unechter bzw. gefälschter Urkunden, wobei eine Beschränkung auf Bereiche, die als besonders schützenswert oder bedeutsam angesehen werden, gerade nicht stattfindet. Eine generelle Herausnahme von Gesundheitszeugnissen aus dem Anwendungsbereich der Urkundendelikte stünde in einem überraschenden Gegensatz zur grundsätzlich weitreichenden Regelung der Urkundendelikte, die auch eine Vielzahl von Lebenssachverhalten erfassen, deren Bedeutung für den Rechtsverkehr geringer ist als derjenige von Gesundheitszeugnissen (vgl. OLG Hamburg, Beschluss vom 27. Januar 2022 - 1 Ws 114/21, juris, Rn. 27). Gegen die Annahme, dass der Gesetzgeber Täuschungen mit Gesundheitszeugnissen als generell weniger strafwürdig einstufte als Täuschungen mit sonstigen Urkunden, spricht vielmehr die erste Handlungsalternative des § 277 StGB in der bis zum 23. November 2021 geltenden Fassung, welche eine - nach den Urkundendelikten nicht strafbare - schriftliche Lüge beschreibt (NK-StGB/ Puppe/Schumann, 5. Auflage 2017, § 277 StGB, Rn. 7), womit die Strafbarkeit im Verhältnis zu sonstigen Urkundendelikten sogar erweitert wurde (vgl. OLG Hamburg, Beschluss vom 27. Januar 2022 - 1 Ws 114/21, juris, Rn. 28). Dar-über hinaus ist gegen eine gewollte generelle Sonderstellung von Gesundheitszeugnissen anzuführen, dass diese aufgrund des Fehlens diesbezüglicher Regelungen in den §§ 277 ff. StGB a.F. - ebenso wie sämtliche anderen Urkunden - auch der Urkundenunterdrückung des § 274 Abs. 1 Nr. 1 StGB unterfielen (OLG Hamburg, Beschluss vom 27. Januar 2022 - 1 Ws 114/21, juris, Rn. 29).

Es ist zudem nicht ersichtlich, dass das Strafgesetzbuch seiner Systematik nach den Gebrauch falscher Gesundheitszeugnisse gerade gegenüber Behörden und Versicherungen als unrechtserhöhend einstufte; vielmehr enthält das Gesetz angesichts der weitreichenden Erfassung von Fälschungen durch § 267 StGB keine Hinweise darauf, die rechtserheblichen Auswirkungen der Vorlage von Zeugnissen gegenüber Privatleuten oder privaten Unternehmen generalisierend geringer einzustufen als die Vorlage bei Behörden oder Versicherungen (OLG Hamburg, Beschluss vom 27. Januar 2022 1 Ws 114/21, juris, Rn. 32 ff.).

Nach alledem erscheint es richtig, die zur Tatzeit geltende Fassung des § 279 StGB gegenüber dem Delikt der Urkundenfälschung nur dann als ver-drängenden Privilegierungstatbestand anzusehen, wenn von dem unrichtigen Gesundheitszeugnis zum Zweck Gebrauch gemacht wurde, eine Behörde oder Versicherungsgesellschaft zu täuschen.

Dieser Auffassung steht nicht entgegen, dass ohne eine umfassende Sperrwirkung der §§ 277 ff. StGB das bloße Fälschen eines Gesundheitszeugnisses, welches lediglich gemäß § 267 StGB strafbar war, schwerer bestraft würde als das Fälschen und die anschließende Vorlage im Sinne des § 277 StGB (so OLG Bamberg, Beschluss vom 17. Januar 2021 - 1 Ws 732/21, juris, Rn. 20). Dieser Problematik kann dadurch Rechnung getragen werden, die bloße Fälschung von Gesundheitszeugnissen dann unter die - § 267 StGB verdrängende Vorschrift des § 277 StGB in der bis zum 23. November 2021 geltenden Fassung fallen zu lassen, wenn deren Zweckbestimmung zur Täuschung im Rechtsverkehr sich lediglich auf Behörden und Versicherungen bezieht (vgl. OLG Hamburg, Beschluss vom 27. Januar 2022 - 1 Ws 114/21, juris, Rn. 37).

Die vom Senat vertretene Auffassung verstößt aus den dargelegten Gründen auch nicht gegen Art. 103 Abs. 2 GG. Der Straftatbestand des § 267 StGB erfasst die Vorlage unrichtiger Gesundheitszeugnisse gegenüber Apotheken. Ausdrückliche Hinweise auf einen § 267 StGB verdrängenden Anwendungsvorrang des § 279 StGB enthält das Gesetz gerade nicht.

Nach alledem ist der Angeklagte im vorliegenden Fall einer Straftat nach § 267 StGB hinreichend verdächtig. Vom Vorliegen eines unvermeidbaren Verbotsirrtums ist bei der gegebenen Sach- und Aktenlage nicht auszugehen.

4. Die Zuständigkeit der Strafkammer des Landgerichts Hechingen ist gemäß § 24 Abs. 1 Nr. 3 Var. 3 GVG begründet. Von besonderer Bedeutung ist eine Sache, die sich aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen aus der Masse der durchschnittlichen Strafsachen nach oben heraushebt (Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Auflage 2021, § 24 GVG, Rn. 8). Allein der Umstand, dass schwierige Rechtsfragen zu lösen sind, begründet die besondere Bedeutung zwar in der Regel nicht, jedoch ergibt sich vorliegend die besondere Bedeutung daraus, dass ein besonderes Bedürfnis für die rasche Klärung einer grundsätzlichen, für eine Vielzahl gleich gelagerter Fälle durch den Bundesgerichtshof besteht (vgl. Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O.)

Nach alledem ist der Beschluss des Landgerichts Hechingen vom 25. Januar 2022 aufzuheben. Gemäß § 203 StPO ist die Eröffnung des Hauptverfahrens vor der 1. Großen Strafkammer des Landgerichts Hechingen zu beschließen. Die Kammer wird nunmehr gemäß § 76 Abs. 2 GVG noch über die Besetzung in der Hauptverhandlung befinden (vgl. Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Auflage 2021, § 76 GVG, Rn. 8; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 18. April 2017 — 111-2 Ws 528 577/16, juris, Rn. 1322).

Zu einer Eröffnung des Hauptverfahrens vor einer anderen Kammer des Landgerichts Hechingen gemäß § 210 Abs. 3 Satz 1 StPO besteht kein Anlass. Eine solche Entscheidung ist nur dann angezeigt, wenn nach der Art der Meinungsäußerung im angefochtenen Beschluss zu erwarten ist, dass sich die Kammer die Auffassung des Beschwerdegerichts innerlich nicht voll zu eigen machen kann (Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Auflage 2021, § 210 StPO, Rn. 10). Derartige Bedenken hat der Senat vorliegend nicht. Da sich das Landgericht lediglich zur rechtlichen Frage einer privilegierenden Spezialität der §§ 277 ff. StGB im Verhältnis zu § 267 StGB positioniert hat, bestehen für den Senat keine Zweifel daran, dass die Kammer unter Berücksichtigung der dargelegten Erwägungen die Strafbarkeit des Angeklagten nunmehr unter tatsächlichen Gesichtspunkten zu entscheiden bereit und in der Lage ist.
Da die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft zur Eröffnung der Anklage vor dem Landgericht Hechingen führt, ist eine Kostenentscheidung nicht veranlasst. Die Kosten eines zuungunsten des Angeklagten eingelegten Rechtsmittels der Staatsanwaltschaft gehören zu den Verfahrenskosten, die der Angeklagte im Falle der Verurteilung nach § 465 StPO zu tragen hat; eine Entlastung von seinen notwendigen Auslagen kommt insoweit nicht in Betracht (vgl. OLG Köln, Beschluss vom 21. April 2016 - 2 Ws 162/15, juris, Rn. 607 mwN).


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